›Freedom‹, also Freiheit, lautete der Titel jenes Songs, der im März 1971, wenige Monate nach dem ominösen frühen Tod von Jimi Hendrix, das erste posthume Album THE CRY OF LOVE eröffnete. Freiheit dürfte definitiv das Leitmotiv des multikulturellen US-Gitarrenvirtuosen, Vokalisten, Texters und Komponisten gewesen sein. Eingespielt wurde das Stück als eines von knapp vier Dutzend Liedern mit Bassist Billy Cox und Schlagzeuger Mitch Mitchell in den just in New York in Betrieb genommenen Electric Lady Studios. Ein mit sämtlichem Schnickschnack und der Hilfe seines Toningenieurs Eddie Kramer eingerichtetes State-of-the-Art-Studio, das zukünftig sowohl Hendrix als auch sich einmietenden Künstlern dienen sollte. Erst Jahre später kristallisierte sich heraus: Die Einzel-LP THE CRY OF LOVE sowie weitere Veröffentlichungen enthielten nur einiger jener von Juni bis August 1970 entstandenen Aufnahmen für ein von Hendrix geplantes Doppelalbum.
Als seine Halbschwester Janie Hendrix nach zähem Justizringen Mitte der 90er endlich als legitime Erbin anerkannt wurde und die Firma Experience Hendrix etablieren konnte, gab sie als eines der ersten Produkte die Doppel-LP FIRST RAYS OF THE NEW RISING SUN aus jenen finalen Sessions vom Sommer 1970 heraus – kompiliert nach einer Liste von Jimi selbst. Das vorliegende Deluxe-Set ELECTRIC LADY STUDIOS: A JIMI HENDRIX VISION mit fünf Vinyl-LPs und Blu-ray sowie Booklet (alternativ auch mit drei CDS erhältlich) geht nun noch einige Schritte weiter: Finden sich doch hier insgesamt 39 Titel – 38 davon bislang unveröffentlicht.
Mehrheitlich sind sie jenem facettenreichen Stil-Crossover aus Rock, Blues und vor allem Funk zugewandt, der zuletzt auch die Konzerte der Experience bestimmte. Es gibt 20 neu erstellte 5.1-Surround-Sound-Mixe von FIRST RAYS OF THE NEW RISING SUN mit etwa ›Angel‹, Drifting‹, ›Freedom‹, ›Izabella‹, ›Ezy Rider‹, ›Dolly Dagger‹, ›Astro Man‹, ›Night Bird Flying‹, ›Room Full Of Mirrors‹, ›In From The Storm‹, inklusive der Bonustracks ›Pali Gap‹, ›Lover Man‹ und ›Valleys Of Neptune‹. Mitunter sind gleich zwei Takes von einem Song enthalten. Auf der Blu-ray findet sich die unter der Regie von John McDermott entstandene gleichnamige Dokumentation – die zeigt, wie aus einem insolventen Nachtclub in Manhattan das legendäre Studio entstand. Angereichert ist der Film mit rarem Archivmaterial und aktuellen Interviews von Eddie Kramer, Billy Cox, diversen ursprünglichen Electric-Lady-Angestellten sowie Hendrix’ Freund und Weggefährte Steve Winwood, der Hendrix am ersten Drehabend im neueröffneten Studio begleitete.
10 von 10 Punkten
Jimi Hendrix ELECTRIC LADY STUDIOS: A JIMI HENDRIX VISION EXPERIENCE HENDRIX/LEGACY RECORDINGS/SONY
Hier findet ihr ELECTRIC LADY STUDIOS von Jimi Hendrix, außerdem tolle Boxsets von Elvis Presley, Bob Dylan und Miles Davis!
Ein Song, der aus allen möglichen Versatzstücken zusammengesetzt wurde, wurde zum Symbol für die Jahrzehnte umspannende Widerstandsfähigkeit und das Durchhaltevermögen von Fleetwood Mac.
Ich glaube, jeder kreative Mensch wird dir sagen, dass es schwer ist, völlig linear zu arbeiten, um das zu erreichen, was dir vorschwebt“, hat Lindsey Buckingham über ›The Chain‹ gesagt. Es ist das einzige Lied, bei dem alle fünf Mitglieder des Line-ups von 1977 als Autor*innen genannt sind, und es wurde aus disparaten Verbindungen und Ersatzteilen mit reichlich Geschick für Arrangements zusammengebaut. Aufgenommen wurde der Track in einer Zeit der zerfallenden Beziehungen und schlimmen Spannungen innerhalb der Gruppe, seither steht er sinnbildlich für das beachtliche Durchhaltevermögen einer der turbulentesten Formationen der Rockgeschichte.
Seinen Anfang nahm ›The Chain‹ 1976 bei den Sessions zu RUMOURS. Christine McVie brachte einen noch unfertigen Song namens ›Butter Cookie (Keep Me There)‹ mit. Auf der Super-Deluxe-Edition des Albumklassikers kann man hören, wie das Stück sich in frühen Demos und Instrumentals entwickelte. Ein federleichter Groove im Stil von Van Morrison weicht einem markigeren Wummern, während die Band nach dem richtigen Gefühl sucht und Christine mit Worten experimentiert. Doch das Stück wächst nie über etwas hinaus, das bestenfalls ein solider Albumtrack geworden wäre. In der letzten Minute erwacht es dann plötzlich furios zum Leben, befeuert von John McVies denkwürdig tieftönendem Bassriff.
Schlagzeuger Mick Fleetwood bezeichnete dieses Riff später als „einen wichtigen Beitrag“. Er sagte: „›The Chain‹ entstand im Wesentlichen aus einem Jam. Es wurde zusammengestückelt, statt dass sich jemand tatsächlich hin- setzte und einen Song schrieb. Es ist in jeder Hinsicht eine kollektive Bandkomposition.“ Als Produzent nannte Buckingham zwei Inspirationen für den Entstehungsprozess. Zum einen Brian Wilson und seinen Beach-Boys-Klassiker ›Good Vibrations‹. Die andere ist überraschender. „Alfred Hitchcock arbeitete offenbar nach einem ähnlichen Verfahren“, erklärte Buckingham 1981 gegenüber BAM.
„Er konzipierte jede Szene komplett im Voraus und versuchte dann, dieser Vorstellung so nah wie möglich zu kommen. In gewisser Weise tue ich das auch. Man hört etwas in seinem Kopf und versucht, sich dem so weit wie möglich anzunähern. Andererseits, je mehr man im Bereich Musik – oder auch Kunst – arbeitet, desto mehr lernt man, dass man sich bis zu einem gewissen Grad auch leiten lassen muss. Es ist ein Geben und Nehmen, und es wird immer unbe- kannte Faktoren geben, mit denen man fertigwerden muss.“ Die Band zählte vom Einsatz von McVies Bassriff ausgehend rückwärts und skizzierte zuerst einen neuen Anfang, Takt um Takt, mit Fleetwoods Basstrommel als Metronom.
Buckingham übernahm dann ein gezupftes Riff aus ›Lola (My Love)‹, einem Stück von BUCKINGHAM-NICKS (der Platte von 1973, der er und Stevie Nicks es praktisch zu verdanken hatten, dass sie überhaupt bei Fleetwood Mac landeten). Das funktionierte perfekt mit dem Four-on-the-floor-Puls und schuf einen offenen Raum für den markanten dreistimmigen Harmoniegesang – „Listen to the wind blow …“ „Aber ein Song wurde erst so richtig daraus, als Stevie einige Worte dazu schrieb“, so Fleetwood. „Lindsey arrangierte und machte ein Stück aus all den Einzelteilen, die wir auf Tonband bannten. Und als es dann arrangiert war und wir wussten, was wir taten, gingen wir ins Studio und nahmen es auf. Aber letztendlich ist es sowieso ein Band-Ding, denn wir haben alle einen so individuellen Stil, unseren je eigenen Stempel, der den Sound von Fleetwood Mac ausmacht.“
Aber weil wir hier von Fleetwood Mac reden, gibt es natürlich eine gegensätzliche Erzählung von der Entstehung des Stücks. In einem Interview mit Variety sagte Nicks 2020, dass sie nicht nur „einige Worte“ einbrachte, sondern einen fertigen Song. „Lindsey fragte mich: ‚Weißt du noch, das Lied, das du geschrieben hast, mit ‚If you don’t love me now, you will never love me again‘? Können wir das nehmen? Denn wir haben dieses großartige Solo am Ende, wenn John mit der Basslinie einsetzt. Aber wir haben dazu im Grunde keinen richtigen Song. Könntest du dir vorstellen, uns den zu geben?‘“ Nicks: „Ich hatte eigentlich schon komplett ausformulierte Pläne für das Original, bevor ich es Fleetwood Mac gab. Aber ich sagte mir: Na ja, okay, ich mache das fürs Team und überlasse ihnen den Track. Klar, ich bin froh, dass es so gelaufen ist, denn daraus wurde eines unserer besten Lieder. Aber es war auch schon äußerst gut, bevor sie es einspielten.“
Nicks sah darin auch eine wertvolle Songwriting-Lektion: „Man kann daran gut sehen, wie es Songwritern gehen kann, nicht wahr? Sie haben da etwas, das sehr schön ist, und sind auf dem besten Weg, es fertigzustellen, und dann kommt etwas anderes daher und es wird ein Teil davon.“ Die Albumversion von ›The Chain‹ wurde kein Hit, doch 20 Jahre später schaffte es eine Live-Fassung auf THE DANCE in die US-Rock-Charts. In Großbritannien erreichte der Track auf anderem Weg Berühmtheit, als die BBC das Ende mit dem Bassriff als Melodie für ihre Formel-1-Sendung nutzte (von 1978 bis 1996 und erneut von 2009 bis 2015). 2017 hörte man ›The Chain‹ dann im Marvel-Blockbuster „Guardians Of The Galaxy Vol. 2“, zudem ist es Teil der Soundtracks zu den HBO-Serien „Family Bonds“ und „Our Flag Means Death“.
Auf ihrer Tournee im Jahr 2019, bei der Lindsey Buckingham durch Neil Finn und Mike Campbell ersetzt wurde, eröffneten Fleetwood Mac jeden Abend mit ›The Chain‹. Was die fehlende Verbindung („Never break the chain“) als Folge von Buckinghams unerwarteter Entlassung noch akzentuierte. Es gab zwar zwischenzeitlich noch mal die zaghafte Hoffnung, dass die Original-„Kette“ für eine letzte Fleetwood-Mac-Tour wiederhergestellt würde, aber mit Christine McVies Tod 2022 war es damit vorbei. Doch der Song wird uns immer erinnern, dass – wie McVie 1977 sagte – „es eine starke Verbindung zwischen der Band und ›The Chain‹“ gibt. Oder wie Stevie Nicks es einmal auf den Punkt brachte: „Wenn du in einer Band bist, bist du Teil eines Teams.“ (Aus CLASSIC ROCK #125)
Der Sänger, Gitarrist und Songwriter aus Gainesville, Florida war das Paradebeispiel für einen aufrichtigen Rockmusiker, dem kommerzielles Kalkül zeitlebens fremd blieb. Am 02.10.2017 ist er im Alter von 66 Jahren gestorben.
Als die Plattenfirma Shelter Records 1975 Tom Pettys Band Mudcrutch nach nur einer Single die weitere Unterstützung verweigerte, schien seine Karriere beendet, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte. Doch immerhin gewährte man ihm eine zweite Chance: Auch seine personell veränderte Nachfolgeband Tom Petty & The Heartbreakers kam bei Shelter unter – was man dort vermutlich recht bald bereute, denn das namenlose Debütalbum hinterließ in den heimischen USA kaum Eindruck. Pettys Songwriting, das sich an Folk-Rockern wie den Byrds, aber auch an den Bands der britischen Invasion orientierte, schien in Zeiten von Disco und Rock-Bombast, also quasi am Vorabend der Punk-Revolte, auf ziemlich taube Ohren zu stoßen. Zumindest zuhause, denn eine Tournee durch Großbritannien verlief sehr vielversprechend und der Westdeutsche Rundfunk lud die Band im Juni 1977 in den „Rockpalast“ ein – danach war Tom Petty auch dem rock-affinen Publikum des deutschsprachigen Raums ein Begriff.
Europa reagierte also sehr aufgeschlossen, doch der so wichtige US-Markt zeigte Petty und seinen Herzensbrechern auch weiterhin die kalte Schulter. Amerikas Mainstream-Rock-Publikum stand um 1977 eher auf Acts wie Boston, Styx, Elton John und Chicago – oder auf Kiss. Keine gute Zeit für Dreiminuten-Songs mit Sixties-Flavour. Weniger standfeste Künstler hätten womöglich eine mehr oder minder dezente Kurskorrektur in Angriff genommen, Tom Petty reagierte auf seine Art und veröffentlichte den stilistisch ganz ähnlichen, offensiv optimistisch betitelten Nachfolger YOU’RE GONNA GET IT!, was man frei mit „ihr werdet’s schon kapieren!“ übersetzen kann.
Nicht wenige Hörer verstanden tatsächlich, denn immerhin schrammte das Werk nur sehr knapp an den US-Top-20 vorbei, doch mit der Pleite von Shelter Records drohte bereits neuer Ärger. Pettys Katalog wurde mitsamt Verlagsrechten von MCA übernommen, weshalb der blonde Bandleader kurzerhand Konkurs anmeldete. MCA lenkte schließlich ein, und plötzlich schien die Zeit auch endlich reif für Pettys US-Rock mit seinen Sixties- und Folk-Reminiszenzen. DAMN THE TORPEDOS geriet 1979 zum Durchbruchswerk, nach einem guten Jahrzehnt als Profimusiker und im Alter von knapp 30 Jahren war Thomas Earl Petty, genannt Tom, schließlich da wo er hingehörte: im Kreis der ganz Großen.
Was in seinem Fall tatsächlich wörtlich zu nehmen ist, denn als Charlie T. Wilbury jr. befand sich Petty in der illustren Gesellschaft von George Harrison, Bob Dylan, Jeff Lynne und Roy Orbison, die 1988 als Traveling Wilburys reüssierten. Ein Jahr später folgte der nächste Karriereschritt: Mit FULL MOON FEVER veröffentlichte Petty sein erstes Soloalbum, tatkräftig unterstützt von Otis Wilbury alias Jeff Lynne. Mit einem achten Platz in den deutschen Charts war es hierzulande erfolgreicher als jedes bisherige Werk mit den Heartbreakers, die Auskopplungen ›Free Fallin‹, das sarkastische ›Yer So Bad‹ und das zweifellos programmatische ›I Won’t Back Down‹ genossen zudem jede Menge Radio-Airplay. Zwei weitere Solowerke folgten, was aber keineswegs das Ende der Heartbreakers bedeutete, die zwischen 1976 und 2014 insgesamt 13 Studioalben veröffentlichten.
Weltweit verkaufte Petty als Solist wie als Bandleader geschätzte 80 Millionen Tonträger. Der Folk-Rock der Frühzeit blieb dabei stets präsent, doch auch jene Klänge, die man heute der Einfachheit halber unter dem Begriff Americana subsumiert spielten eine zunehmende Rolle; dem geradlinigen Rock’n’Roll war er natürlich ebenfalls zugetan. Was Petty hingegen nie tat: sich verbiegen, anbiedern, Trends hinterherlaufen.
Verglichen mit anderer Musik-Prominenz seiner Gewichtsklasse wurde über sein Privatleben nie allzu viel bekannt. Petty, der 1974 seine Jugendliebe Jane Benyo ehelichte, führte ein für Rockstar-Verhältnisse erstaunlich skandalfreies Leben. 1996 geschieden, heiratete er 2001 erneut. Unverschuldet in die Schlagzeilen geriet er allerdings 1987, nachdem ein Brandstifter versucht hatte, sein Haus im kalifornischen Encino abzufackeln – was ihm teilweise auch gelungen war.
Welche traurige Ironie, dass der Mann, dessen Band The Heartbreakers hieß, nun ausgerechnet einem Herzstillstand erlag. Am Morgen des 2. Oktober leblos aufgefunden, wurde sein Ableben vorschnell – laut der Polizei von Los Angeles „versehentlich“ – bekannt gegeben und natürlich auch medial verbreitet. Die offizielle Bestätigung folgte dann am Nachmittag desselben Tages. Tom Petty verstarb im Santa Monica Hospital der University of California. Er wurde 66 Jahre alt. Und fehlt immer noch. (Erstmals erschienen im Jahr 2017)
LET IT BURN ist Bonsai Kittens bisher vielseitigstes Album: eine Mischung aus Punk, Blues und Metal. Dazu ist Frontfrau Tiger Lilly Marleen derzeit in der ARD-Mediathek mit einem Beitrag zur Doku „Millennial Punk“ zu sehen – und der von ihr organisierte Sampler LOVE, PEACE & HARMONIES brachte rund 48.000 Euro an Spenden für Betroffene des Ukraine- Kriegs ein. Mit von der Partie waren hier 39 prominente Musiker, darunter Udo Lindenberg, Doro, Kreator, Seed, Niedeckens BAP, Toy Dolls und NOFX. (Text: Philipp Opitz)
Der Drum-Beat einiger Songs auf LET IT BURN knallt mit einer Motörhead-artigen Power los, während etwa die Gitarrenarbeit auf ›Smoke & Mirrors‹ total bluesig und psychedelisch klingt. Wie habt ihr es hinbekommen, dass das Album dennoch homogen wirkt und einen tollen Flow besitzt? Unser Gitarrist Wally hat die Platte produziert und dabei stets einen übergreifenden Spannungsbogen im Blick behalten. Für die Aufnahmen waren wir in den Cream Studios in Frankfurt, bei Alexander Brusencev. Damit später alles organisch klingt, haben wir größtenteils live eingespielt und keinerlei Plugins verwendet, sondern richtige Drum-, Bass- und Gitarrensounds. Wally schwört etwa auf seine Foxywave-Signature-Gitarren, die Jozsi Lak für ihn baut, oder auch seine Orange-Verstärker. Was den Metal-Anteil angeht, hast du recht: Unser Drummer Marc Reign hat vorher bei Destruction und Morgoth gespielt. ›Smoke & Mirrors‹ wiederum ist von Wallys Begeisterung für Pink Floyd geprägt.
Einflüsse von Pink Floyd bei einer Punkgruppe – das wäre 1977 noch ein No-Go gewesen. Eigentlich besteht die Punk-Haltung ja darin, zu machen, was auch immer man möchte. Gleichzeitig stößt man immer wieder an Genre-Grenzen. Das finde ich ja irgendwie albern! (lacht)
Mit dem eklektischen Ansatz steht ihr in der Tradition von Punkbands wie The Clash, die Dub-, Reggae- und Rockabilly-Elemente vermischt haben. Wie nimmt euer Publikum die stilistischen Umschwünge auf? In den vergangenen zwölf Jahren haben wir eine gefestigte Basis von Clubs aufgebaut, die wir regelmäßig bespielen. Unser treues Publikum dort lässt sich nicht abschrecken, wenn wir unseren Sound ändern. Andererseits war es mir schon immer ein Anliegen, Genres zu vereinen: etwa Punk und Rockabilly zu Beginn meiner Karriere.
Du warst erst auf einem ausgedehnten Trip durch Asien. Haben die Eindrücke von dort Einfluss auf das Album gehabt? Ja, die sechswöchige Reise hat mir Weitblick beschert. Man kommt weg davon, dauernd zu grübeln, wo man am billigsten einkauft oder was für Problemchen einen in seiner Bubble gerade so umtreiben.
Man könnte der vielseitig begabten Detroit-Rockerin Suzi Quatro niemals vorwerfen, auf der faulen Haut zu liegen. Letztes Jahr veröffentlichte sie das Album FACE TO FACE (ihre viel gelobte Zusammenarbeit mit KT Tunstall), momentan ist sie mitten in einer laufenden Tournee und hat bereits den Großteil ihres 18. Studiowerks geschrieben. Von der 60s-Teenager-Garagenband The Pleasure Seekers über die lederbekleidete Glam-Ikone der 70er Jahre bis hin zur unermüdlichen Elder Stateswoman hat Quatro sich als außergewöhnliche TV- und Musicaldarstellerin, Radiomoderatorin, Dichterin und Romanautorin bewiesen. Was auch immer einem einfällt, Suzi hat es getan. Aber 60 Jahre im Rockgeschäft …
Sicherlich ein Irrtum? Jeder schaut mich an und fragt: „Wie lange?“ Am 3. Juni wurde ich 74. Ich fing mit 14 an, und da ich aus einer musikalischen Familie stamme, war ich bereits in klassischem Klavier und Percussion ausgebildet, als wir die Gruppe gründeten. Niemand wollte den Bass, also bekam ich ihn, was mir recht war. Mein Vater erlaubte mir, die Schule zu verlassen, wir gingen auf Tournee und ich wurde sofort Profimusikerin. Wir mussten nie darum kämpfen, eine Band zu sein, es war keine rebellische Sache, es wurde einfach akzeptiert.
Bevor du die Pleasure Seekers gegründet hast, hattest du ab dem Alter von sieben Jahren mit dem Art Quatro Trio deines Vaters gespielt. Ich bediente die Bongos. Deshalb betrachtete ich mich als Beatnik, weil ich Bongos spielte und Gedichte rezitierte, und eigentlich ist das heute noch genauso.
Vieles hat sich seit deinem Einstieg ins Musikgschäft verändert, nicht zuletzt die Präsenz von Künstlerinnen als Branchenmogule. Du warst eine Art Pionierin, die von Anfang an die volle Kontrolle über ihre Karriere übernahm. Mir war nicht mal bewusst, dass das, was ich da tat, ungewöhnlich war. Ich war einfach nur ich, rockte ab. Erst [Produzent] Mickie Most – er entdeckte mich und brachte mich nach England – sagte mir, dass ich einzigartig sei. Ich dachte: „Was? Warum sagt er das zu mir?“ Und selbst nachdem die Hits 1973 anfingen, verstand ich es immer noch nicht. Das passierte erst, als ich meine Dokumentation „Suzi Q“ [2019] sah und Debbie Harry, Chrissie Hynde, Lita Ford, Joan Jett, Donita Sparks, Tina Weymouth und KT Tunstall darin im Grunde alle das Gleiche sagten: Wir hätten nicht getan, was wir getan haben, wenn Suzi es nicht zuerst gemacht hätte. Das war das erste Mal, mit 69 Jahren, dass ich begriff, was ich erreicht hatte.
Du bist sehr aktiv in den sozialen Medien. Ich war schon immer ein praktischer Mensch. Ich verstecke mich nicht. Das habe ich nie getan. Selbst als ich von Fans überrannt wurde, habe ich mich nicht versteckt. 1973 entschied ich, dass ich entweder mit Baseballkappe und Brille oder als ich selbst ausgehe, und ich ging als ich selbst – und habe ein Leben. Wenn man heute nicht in den sozialen Medien ist, ist man tot. Man muss dabei sein. Sobald ich damit anfing, gefiel es mir, mit anderen in Kontakt zu treten.
Du bist später in diesem Jahr wieder auf Tournee. Wir filmen im London Palladium, was immer eine Herausforderung ist. Jeder Auftritt ist eine Herausforderung, um die Wahrheit zu sagen. Ich ruhe mich nicht auf meinen Lorbeeren aus und bin nie mit der Einstellung da rausgegangen: „Sie lieben mich heute Abend eh.“ Nie. Eher: „Ich hoffe, sie mögen mich.“ Obwohl ich fairerweise sagen muss, dass ich auf dem Höhepunkt meiner Leistung stehe. Ich mache eine zweistündige Show mit einer Pause, damit ich ein Lied auf dem Klavier, ein Duett auf den Drums und ein sechseinhalbminütiges Basssolo spielen kann. Und zum Glück haben meine gesanglichen Fähigkeiten nicht nachgelassen.
Deine Stimme hat heute eine warme Reife, du bist zu einer anderen Suzi herangewachsen. Als wir das Album IN THE SPOTLIGHT [2011] machten, meinte [Produzent] Mike Chapman, der meine Stimme wahrscheinlich besser kennt als ich: „Suzi, ich liebe, was das Leben mit deiner Stimme gemacht hat.“ Man hört die Erfahrung. Man hört das Leben. Ich spreche immer mit dem Publikum während meiner Show, und das Erste, was zur Sprache kommt, ist mein Alter, weil ich stolz darauf bin. Ich jage nicht der 24 hinterher, sondern bin mit 74 immer noch da oben, schüttle meinen Hintern … Das ist widerlich. (lacht)
Vor nicht allzu langer Zeit haben wir deinen großen Freund Steve Harley verloren. Steve war so ein netter Kerl. Er hatte damals einen Hit mit ›Phantom Of The Opera‹, und er sollte die Rolle im Musical übernehmen, die Michael Crawford spielte. Steve Harley war bei der Premiere mit mir, und als wir uns backstage unterhielten, fragte ich: „Was denkst du?“ Und er sagte: „Michael Crawford ist großartig. Ihm fehlt nur eines.“ Ich erwiderte: „Was denn?“ Er antwortete: „Ein guter Hinkefuß“ (lacht)
Wann immer ich dich frage, was als Nächstes kommt, folgt eine ganze Liste – Aufnahmen, Schreiben, Fernsehen, Radio, Poesie und so weiter. Bist du die am härtesten arbeitende Frau im Showbusiness? Das haben mir schon viele Leute gesagt, also ist es wohl so. Ohne Anzeichen, langsamer zu werden. Ich weiß nicht, woher ich diese Energie bekomme. Ich wurde einfach so geboren. Ich hatte schon immer viel Energie, und das ist mir bis heute geblieben.
Du musst schon immer ein hohes Arbeitpensum gehabt haben. Während du mit deinem Vater und dann The Pleasure Seekers gearbeitet hast, hast du vermutlich auch eine Art Schulbildung erhalten? Ich habe die Schule früh verlassen, aber bin dennoch äußerst belesen. Ich kann schnell tippen und beherrsche Kurzschrift.
Falls du jemals darauf zurückgreifen musst. Nein, danke. Aber es ist ein Segen, tippen zu können – ich bin an meinem zweiten Roman, meinem siebten Buch insgesamt, und habe fast genug Gedichte für meinen dritten Gedichtband. Und wir haben 14 Lieder für das nächste Album fertig. Ich wusste immer, dass ich schauspielern kann, das ist ein Kinderspiel. Ich hätte statt Musik in die Schauspielerei gehen können.
Du bist eine Allround-Entertainerin – wie Alice Cooper ohne Golf. Alice und ich sind sehr, sehr gute Freunde, seit wir 15 waren. Wir sind uns sehr ähnlich, Alice und ich. Tatsächlich macht er einen Track mit mir für meine nächste Platte.
Oft sind Retro-Rocker dermaßen in ihrer Begeisterung für die 60er und 70er verhaftet, dass ihre Musik einfach nicht innovativ klingen mag. Anders ist es bei Bones Owens, der den Black-Keys-geprägten, zeitgenössischen Nashville-Garage-Sound um spannende Nuancen erweitert – 90s-Alternative-Rock zum Beispiel. (Text: Philipp Opitz)
Bones, dein Gesang klingt ein bisschen nach Steve Miller und dein Songwriting grundlegend nach Creedence Clearwater Revival – aber irgendwie ist da doch noch mehr dahinter, oder? Den Steve-Miller-Vergleich habe ich auch schon gehört und das ist ein riesen Kompliment für mich. Und ja, die ersten Schallplatten, die ich mir jemals angehört habe, waren CCR- Alben aus dem Plattenschrank meines Vaters. Meine Mum besaß einen Antiquitätenladen, über dem wir gewohnt haben. Auch hier gab es viel Möglichkeiten, Vinyl-Platten zu durchforsten. Mit Eric Burdon und WAR entdeckte ich den Soul, was meine musikalische Entwicklung förderte, gerade gesanglich. Bei meiner aktuellen Musik habe ich auch noch Einflüsse aus Hillbilly und Country sowie Delta-Blues einfließen lassen. Junior Kimbrough und R.L. Burnside sind für mich immer noch enorm wichtige Inspirationsquellen.
Frisch klingt deine Musik aber auch, weil man daneben eine ordentliche Prise 90s-Alternative-Rock heraushört, richtig? Ja, bereits auf meinem Vorgängeralbum gab es mit ›Keep It Close‹ einen Song, bei dem die Leute meinten, dass er nach Oasis klingt. Natürlich haben wir in den 90ern jede Menge Alternative gehört und WHAT’S THE STORY MORNING GLORY lief da auch bei mir rauf und runter. Also habe ich überhaupt kein Problem damit, dass auch etwas Manchester-Sound in meiner Musik gelandet ist. Wahrscheinlich hat auch noch ein bisschen Grunge seinen Weg in mein Songwriting gefunden. Darüber hinaus sind mein Produzent Paul Moak und ich riesige Fans von Black Rebel Motorcycle Club.
Apropos, du kommst gerade von einer Tour, die du auf deiner Harley-Davidson bestritten hast – ganz romantisch nur mit einer Gitarre auf dem Rücken. Wie kann man sich das genau vorstellen? So auf Tour zu gehen, war ein lang gehegter Traum von mir. Eigentlich hätte es letzten Herbst losgehen sollen, doch auf einer Probefahrt, einen Tag davor, rannte mir ein Reh ins Motorrad. Das arme Tier war sofort tot, was mir unendlich leid tat, denn ich war mit hoher Geschwindigkeit unterwegs. Auch hatte ich wahnsinniges Glück, dass ich nicht vom Motorrad geschleudert wurde, sondern mir lediglich das Bein gebrochen habe. Der Trip fand dann also jetzt im Juni statt. Eine tolle Erfahrung, denn ich bespielte nur kleine Locations oder Radiosender – und übernachtete bei Freunden oder Familie. Das hatte etwas sehr Versöhnliches, auch wenn ich manchmal bei strömendem Regen stundenlang unterwegs war und ziemlich direkt nach meiner Ankunft noch ein ganzes Konzert spielen musste. Diesen Herbst gehe ich mit Blackberry Smoke auf Tour durch Europa und auch Deutschland, da freue ich mich dann wieder auf Liveshows in voller Besetzung!
Mit der Abschiedstour in der Rockmusik verhält es sich ein wenig wie mit dem Begriff „Wolf“ in der Fabel „Der Hirtenjunge und der Wolf“. Der Hirtenjunge schlägt während des Schafehütens aus Langeweile so oft Wolfsalarm, dass ihm, als selbiger wirklich kommt und seine Herde bedroht, schließlich niemand mehr glaubt.
Als gebeutelter Rockfan denkt man an die vermeintlichen Abschiedstourneen von Kiss Anfang der 2000er, der Scorpions oder Mötley Crüe, die ihr Ende 2014 sogar mit Unterschriften offiziell besiegelten, und horcht beim großen, letzten Servus so mancher Acts erst einmal skeptisch auf. Sweet drehen in diesem Jahr die zweite „final round“ ihrer Abschiedstournee, erklärten jedoch schon in der Pressemitteilung ganz ehrlich, dass es noch vereinzelte Shows zu sehen geben wird. Wir fragten Andy Scott – Gitarrist und letztes lebendes Originalmitglied der legendären Posterboys des 70er-Glams – was „The Final Round“ nun genau bedeutet, ob er oft an die guten, alten Zeiten denkt und wie es mit dem neuen Album FULL CIRCLE aussieht, das eigentlich schon längst erscheinen hätte sollen.
Wie final ist die „final round“ denn nun wirklich?
Schon vor einigen Jahren habe ich gesagt, dass ich nicht mehr so viel touren möchte. Mein Krebs ist unter Kontrolle, ich lebe seit 15 Jahren damit und würde gerne noch ein bisschen länger leben. (lacht) Fünf oder sechs Wochen am Stück auf Tour gehen – so wie mein Freund Mick Box von Uriah Heep zum Beispiel – kann ich nicht mehr. Jedoch werden wir Ende dieses Jahres in drei kleinen Abschnitten spielen. Ich mache fünf Shows und fahre danach für eine Woche heim, in diesem Tempo ist es für mich machbar. Es ist nicht mehr wie früher, als man vor der Show Leute traf und nach der Show Leute traf. Das geht nicht mehr, weil ich sonst nicht gewappnet bin für den folgenden Abend. Ich möchte also weiterarbeiten und weiterspielen, aber nicht mehr mehrere Wochen oder gar Monate fort sein. Deswegen heißt es „The Final Round“. In diesem Jahr spielen wir wieder am Nachmittag auf Wacken. Ich kann direkt nach der Show zum Hamburger Flughafen, heim fliegen und in meinem eigenen Bett schlafen. (lacht)
Ist das alles nicht trotzdem sehr anstrengend?
Ja, schon. Die Tabletten, die ich nehme, helfen gegen die Müdigkeit. Jedoch muss man seinen Tagesablauf an die eigene Gesundheit anpassen. Ich wache zum Beispiel gegen 6 Uhr auf, bleibe dann aber noch einige Stunden im Bett, weil ich sonst abends um 20 Uhr einschlafen würde.
Das ist nicht die erste „finale“ Tour in der Historie von Sweet…
Stimmt, es gab „Finale“. Damals hatten wir Probleme in der Band, die sich dann einige Jahre später in einem Personalwechsel auflösten. Ich mache [Sänger] Pete Lincoln keinen Vorwurf, dass er andere Pläne verfolgen wollte, jedoch kann man nicht wirklich gut auf zwei Hochzeiten tanzen. Sweet ist kein Nebenprojekt. Einige Jahre später stellten wir ein komplett neues Line-Up auf. In dieser Formation nahmen wir das Album ISOLATION BOULEVARD auf, wir re-recordeten sehr erfolgreich alte Sweet-Songs, um unseren neuen Sänger [Paul Manzi] vorzustellen.
Warum hast du Sweet durch all die schweren Zeiten hindurch nie komplett aufgegeben?
In den 80ern machten wir ja eine Pause. Ich brachte eigene Musik heraus, war Gastmusiker auf den Platten von Kollegen und produzierte Bands wie Iron Maiden. Viele Leute kamen damals zu meinem Gig mit einer Band namens Paddy Goes To Hollyhead in London und meinten: „Warum machst du das hier? Warum bringst du Sweet nicht zurück?“ Ich war mir nicht sicher, ob die Menschen Sweet noch hören wollten, doch kurze Zeit später traf ich meinen Agenten und er meinte, dass er ständig Anfragen für Sweet bekommen würde. Also stellte ich eine Band zusammen und wir tourten durch Australien. Bei unserer Rückkehr ging es weiter durch Europa. Wir nahmen LIVE AT THE MARQUEE auf, das es in die deutschen Charts schaffte und plötzlich dachte ich mir: „Warum habe ich das nicht schon viel früher getan?“ Wir wollten ja, dass Steve [Priest] zurückkommt, doch er sagte zu mir: „Ich habe das Tourleben gehasst, warum sollte ich das wieder tun?“ Also machte ich ohne ihn weiter. Darüber war er nicht gerade erfreut, doch er sah es ein. Dann wurde Mick [Tucker] krank. Ein weiteres Mal wusste ich nicht, ob ich weitermachen sollte. Ich änderte den Bandnamen zu Andy Scott’s Sweet, damit die Leute wussten, was sie erwartete. Vor allem, weil Brian zu dieser Zeit auch wieder angefangen hatte unter dem Banner Brian Connolly & The Sweet zu arbeiten. Darüber habe ich mich wiederum nicht sonderlich gefreut, doch er war immerhin der Leadsänger. Und jetzt stehen wir heute hier und ich habe immer noch Drive. Ende der 90er meinte Suzi Quatros Ehemann, Rainer, mal zu mir: „Es wird wahrscheinlich nicht besser, als es ist, denn alle denken, dass du The Sweet bist und ausmachst.“ Das nahm ich mit. Schau, eine Filmproduktionsfirma hat uns gutes Geld gezahlt, um ›Fox On The Run‹ benutzen zu dürfen. Ich wusste nicht, für welchen Streifen. Eines Abends saß ich mit meinem Sohn im Kino, wir sahen den Trailer zu „Guardians Of The Galaxy 2“ und plötzlich lief da mein Song. Mein Sohn schaute mich nur an und meinte: „Na, das ist schon okay, oder?“ (lacht) Der Song war im Film und auf dem Soundtrack, der wohl einige Exemplare verkaufte, wenn man meinem Tantiemen-Scheck Glauben schenken darf. (lacht) Dann gab es da eine Reunion zum Film E.T. und einer der Schauspieler trug ein Sweet-Shirt. Mein Fußballclub Wrexham spielt gut. Es sieht sehr gut aus auf allen Seiten. Man weiß nie, was noch passiert. Vielleicht spielen wir bald gegen Bayern München. (lacht)
Es liegt wohl im Kern der menschlichen Existenz, Dinge zu erfinden und sie erst später zu begreifen. Die unvorstellbare Wirkungsmacht der künstlichen Intelligenz ist ein brandaktueller Beweis für diese These, dringt sie doch immer mehr in den kreativen Bereich vor und lässt zahlreiche Künstler*innen mit Fragezeichen zurück. Was, wenn die KI künftig Musik und Kunst übernimmt? Wenn niemand mehr zwischen Mensch und Maschine unterscheiden kann? Wenn die letzte Bastion des Menschlichen, die Emotionen, künstlich generiert werden? Wenn Musik noch mehr zum Eintags-Konsumprodukt verkommt? Wie gehen Musikliebhabende damit um?
Zum Beispiel so wie T.G. Copperfield auf seinem neuen Studioalbum STEPPENWOLF, das ohne Click, Netz und doppelten Boden komplett live, innerhalb nur 15 Stunden, eingespielt wurde. „Der Automatisierungsgrad in unserer Gesellschaft nimmt zu, auch im künstlerischen Sektor“, so der Oberpfälzer. „Das treibt mich um. Die meisten wissen gar nicht mehr, wie etwas klingt, das normal aufgenommen wurde und nicht tot digitalisiert ist. STEPPENWOLF ist extrem ehrlich. Das ist das erste mal, dass der Gesang live mitgeschnitten wurde, während ich Gitarre spiele. Ich habe mich da ein wenig an den letzten Alben von Neil Young orientiert – der will ein Gefühl auf Tape bringen. Dem ist das scheißegal, ob das perfekt ist. Und das finde ich geil. Es geht mir wirklich nicht darum, dass jemand sagt: ‚Der hat aber alles ganz schön gerade gespielt!’“, lacht der Sänger, Gitarrist und Songwriter.
Ursprünglich geplant als eine Art „NEBRASKA-Ding“, wurden Copperfields Bandkollegen dann doch miteinbezogen: „Wir haben uns vorher einmal getroffen, damit jeder wusste, wie der Plan aussieht. Dann sind wir Richtung Osnabrück gefahren, in die Mühle der Freundschaft, das Studio von Marcus Praed von Tito & Tarantula. Es war eine schöne Erfahrung, aus dem normalen Studioprozess rauszukommen und eine Stimmung einzufangen.“ Die Menschlichkeit auf STEPPENWOLF – als Kontrast zur digitalen Perfektion – artikuliert sich in kleinen, wundervollen Unebenheiten.
Und in dem Narrativ des getriebenen Steppenwolfs, das für Copperfield schon immer eine Rolle spielte: „In vielen meiner Songs kämpft sich der Protagonist durch die Umstände. Der Steppenwolf steht für Einsamkeit, innere Zerrissenheit, Selbstbeobachtung. All das spielt bei meinem Songwriting eine große Rolle. Ich bin kein einsamer Typ, aber das Schreiben ist bei mir eine einsame Angelegenheit. Ich sitze alleine in meinem Raum und bin meinen Gedanken ausgesetzt. Ich versuche, jene Seite von mir übernehmen zu lassen, die man im Alltag unterdrücken muss. Ein therapeutischer Prozess, sehr selbstreinigend.“
Neben diesem steppenwölfischen Arbeitsmodus zieht der Musiker außerdem Parallelen zwischen unserer Zeit und jener Ära, in der Hermann Hesse seinen berühmten Roman verfasste: „Die Geschichte war Hesses Reaktion auf die Zeit damals. In den späten 20ern, nach dem Krieg, kurz vor dem nächsten Krieg, gab es viele technische Neuerungen, es herrschte Orientierungslosigkeit. Ich habe das Gefühl, dass es heute ähnlich ist. Hesse war damals 50 Jahre alt. Ich bin nun auch schon über 40, vielleicht ist das ein Lebensalter, in dem man sich die Frage stellt, wohin die ganze Scheiße eigentlich geht.“, so Copperfield nachdenklich und trotzdem mit einem diese harte Realität abfedernden Lachen auf den Lippen.
Genießen sollte man STEPPENWOLF am besten – dem Grundgedanken entsprechend – physisch, auf CD, vor allem auch wegen des ansprechend und durchdacht gestalteten Booklets, bei dem sein Grafiker die eigene Steppenwolf-Passion voll ausleben konnte. Ach, und eines noch: T.G. Copperfield wäre nicht T.G. Copperfield, hätte er in der letzten Zeit nicht noch ein zweites Album aufgenommen. Aber davon soll ein andermal erzählt werden…