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Electric Wizard – Kalkulierte Dröhnung

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Electric Wizard @ Ester Segarra 1Ein tiefer Zug am Joint, ein waberndes Feedback und der Trip beginnt: Wenn ELECTRIC WIZARD zu ihren doomigen BLACK MASSES bitten, klingt es wie eine spontane Improvisation der Heaviness. Dahinter steckt jedoch nüchterne und ernsthafte Arbeit.

Pro Tools ist der Teufel“, stellt Gitarrist und Sänger Justin Oborn gleich mal klar. „Egal, was man macht – durch die Art der Effekte und das Timing klingt das Ergebnis immer absolut generisch, zumindest in meinen Ohren. Ich liebe das alte, analoge Equipment – selbst wenn das bedeutet, dass wir ein Vermögen für Tonbänder ausgeben müssen.“ Das Auftreiben der Magnetrollen ist nur ein Teil der gewissenhaften Vorbereitung, die in ein Electric Wizard-Album fließen. „Alle unsere Instrumente sind antik“, erläutert Justin weiter. „Wir benutzen alte Laney-Amps, um diesen klassischen Sound von Jimi Hendrix, Deep Purple oder frühen Black Sabbath zu bekommen.“

Klingt nach einer Materialschlacht, ist es letztlich auch: Electric Wizard balancieren auf einem schmalen Grat zwischen einfach guten Riffs und Effektgeräte-Overkill, der letztlich den dröhnenden Retro-Sound von Electric Wizard erst ausmacht. „Wir arbeiten beim Songwriting ganz klassisch, kauen auf Riffs herum, bis uns das Resultat gefällt. Die Effekte kommen erst kurz bevor wir ins Studio gehen ins Spiel. Aber natürlich habe ich schon früh eine Vorstellung, wo man was noch etwas verdrehen und verfremden kann.“ Das, was beim „klassischen Songwriting“ herauskommt, ist dabei eher monton und rhythmisch, mit immer mehr Schichten – und obendrauf dann ein Killer-Lead. „Das ist typisch für die späten Sechziger – eine Periode, die ich sehr schätze. Natürlich klingen Electric Wizard nicht so wie die Bands damals, wir sind viel härter und brutaler, aber meine Art, Songs zu konstruieren, ist sehr durch diese Zeit beeinflusst.“ Bestes Beispiel: ›Night Child‹. Ein simpler Beat, dann Freestyle-Experimentieren. „Oh Mann, an dem Song haben wir uns buchstäblich die Zähne ausgebissen – genau um diesen Eindruck der Leichtigkeit, Selbstverständlichkeit zu erzeugen. Das Bizarre an dem Teil ist, dass man all die Klangschichten entfernen und einen total abgefahrenen Dance-Track daraus machen könnte.“

Solche überraschenden Erkenntnisse gibt es bei Justin nicht oft, wie er gesteht. Der Mann hat üblicherweise alles unter Kontrolle. „Unsere Musik ist sehr kalkuliert“, gibt er offen zu – das Image auch: Satan, Dope und, äh, noch mehr Dope. Wäre die Band nicht so offensichtlich besessen von den okkulten Frühformen des Classic Rock, könnte man das Ganze auch als Comichaftes Abziehbild ohne künstlerische Tiefe abtun. „Natürlich bedienen wir jede Menge Klischees. Ich habe recht früh beschlossen, mich mental von meinen Kreationen zu distanzieren. Es stecken keine tiefen Wahrheiten in unseren schwarzen Messen – die Texte funktionieren analog zu den Riffs, sie drehen sich meist um ein oder zwei Phrasen, die eine gewisse Eingängigkeit haben und dann ad nauseum wiederholt werden“, lacht Justin. „Das ist pure Notwendigkeit, denn den Rest der Lyrik schreibe ich immer am Abend, bevor ich den Song im Studio einsingen muss. Total stoned natürlich.“ Wenigstens in diesem Punkt werden sie ihrem Klischee gerecht…

The Young Gods – Jäger und Sammler

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The Young Gods_2010_4_BW_PRINTUnbeeindruckt und nach 25 Jahren immer noch hemmungslos experimentell: THE YOUNG GODS arbeiten weiter an ihrer Vision moderner Rock-Musik – und haben dabei überraschender-weise die ganz klassische Riffkultur entdeckt.

Sie waren immer Außenseiter: Pioniere des Industrial Metal, Wegbereiter der Verschmelzung von Rock und Elektronik – und doch sind die Schweizer nie dem Ruf der großen Musikwelt gefolgt: Bis heute lebt Mastermind Franz Treichler im beschaulichen Genf. „Ich wohnte 1994/95 für anderthalb Jahre in New York, aber es brachte uns nicht weiter. Der Rest der Band war damals in der Schweiz, ich fühlte mich abgeschnitten. Und Genf hat auch seine guten Seiten: Die Szene ist nicht so auf Trends versessen, dafür hat man direkten Zugang zu Dingen, die eben gerade nicht Trend sind.“

Was New York als Schmelztiegel verspricht, findet Franz seit Gründung der Young Gods 1985 also bevorzugt in seiner Heimat: vielfältige Einflüsse, die dem Mann der wichtigste Antrieb sind. Nachdem die Young Gods zuletzt akustisch unterwegs waren und dafür sogar von ARTE und „Kulturzeit“ gefeiert wurden („Was eher mit unserer Wichtigkeit für die Schweiz als mit unserer Wichtigkeit für die Welt der Musik zu tun hat“, so Franz süffisant), geht es auf EVERYBODY KNOWS wieder härter zu. „Aber nicht mit dem Vorschlaghammer“, betont Franz. „Das haben wir 2007 mit unserem Comeback-Album SUPER READY/FRAGMENTÉ versucht. Da-mals mussten wir mit der Faust auf den Tisch hauen, um der Welt unsere Existenz mitzuteilen. Die anschließenden Akustik-Sachen waren der Fall ins andere Extrem und der augenzwinkernde Hinweis: ,Hey, wir hatten da mal vor 20 Jahren ein paar Hits!‘ Mit dem neuen Album standen wir wie so oft vor der fruchtbaren Frage: ,Was nun, wenn nicht nochmal das Gleiche?‘“

Herausgekommen ist zum einen eine Mischung aus dem Vorigen, mal sehr akustisch, dann wieder elektronisch treibend, fast wie Dance-Musik. „Das Wichtigste für mich ist, dass EVERYBODY KNOWS getrieben wirkt – neue Grenzen sucht, keine Schranken akzeptiert und dabei viel eigene Persönlichkeit entwickelt.“ Man nennt das wohl Stilempfinden, wenn aus eklektischem Input ein kohärenter, sofort als The Young Gods identifizierbarer Output wird. „Es ist halb Architektur, halb Rock – und nie Routine“, bringt Franz die Vorgehensweise auf den Punkt. Und da ist heute auch Platz für lupenreine Classic-Rock-Riffs, etwa im Song ›No Land’s Man‹. „So etwas hätten wir früher nicht gemacht. Aber das war mal ein geniales Riff, warum sollten wir es groß samplen, dekonstruieren und in klassischer Industrial-Manier verwursten? Vincent, unser Gitarrist, hat Rocker-Blut in sich – und dieses Erbe haben wir auf typische Young-Gods-Art ergründet. Genau so fand diese Band schon immer ihren nächsten Schritt.“

Experimentell sein, nicht alles zu wissen glauben: Das ist auch das zentrale Thema von Franz’ Texten. „Wir leben in einer Zeit, in der jeder jederzeit Zugriff auf alle Informationen hat. Jeder nimmt deswegen an, alles zu wissen – EVERBODY KNOWS. Aber niemand weiß, was er tun soll, weil die Verkettung von Umständen hinter allem so komplex ist. Wenn wir in den Supermarkt gehen, unterstützen wir damit nicht faktische Sklaverei in Entwicklungsländern? Die Vernichtung des Urwalds? Als ich jung war, gab es eine klare Einteilung in Gut und Böse, heute ist alles irgendwie ein bisschen das Eine und ein bisschen das Andere.“ So wie, der platte Abschluss sei erlaubt, die Musik der Young Gods – nur dass das genau das Gute an ihnen ist.

Soundgarden – Telegene Rückkehrer

Soundgarden-1 @ Don_Van_CleaveSie waren Pioniere des Grunge – die Band, die den Hard Rock der Siebziger für die Indie-Kids der Achtziger und Neunziger überhaupt erst goutierbar machte. Jetzt sind Soundgarden zurück. Für die Werkschau TELEPHANTASM haben Sänger Chris Cornell, Gitarrist Kim Thayil, Basser Ben Shepherd und Schlagzeuger Matt Cameron tief in den Archiven gewühlt – und festgestellt, dass sie einander wieder lieb haben.

Sag niemals nie. Das ist zwar eine Binsenweisheit, aber eine, die viele sich beim Lesen von Chris Cornells Twitter am 31.12. 2009 nicht verkneifen konnten. Soundgarden werden sich 2010 wieder vereinigen, hieß es da lapidar. Bam! Was für eine Schlagzeile. Was für ein Auftakt ins Jahrzehnt! Rockfans überall lagen einander in den Armen: Die Welt war gerettet, die Heilige Dreifaltigkeit Pearl Jam, Alice in Chains und Soundgarden wieder intakt. Wer sich indes an Interviews von 2007 erinnerte, zu Cornells zweitem Soloalbum CARRY ON, der rieb sich verwundert die Augen: Da beschied Chris die Reunion mit einem recht deutlichen Nein. „Wenn Leute wieder zusammenfinden, steckt meist Geld dahinter“, winkte er ab. „Ich hoffe, dass wir nie in die Lage geraten, eine solche Entscheidung zu treffen. Soundgarden haben nachhaltige, wichtige Platten geschaffen – Klassiker vom ersten bis zum letzten Album. Warum soll-ten wir die aus dem Schrank holen und daran herummachen? Ich kann mir keinen Grund vorstellen – es sei denn, man tut es für die Fans, aber selbst das ist ein zweischneidiges Schwert.“ Autsch.

Hört man Cornell jetzt, überkam sie der Sinneswandel wohl mählich. Dem Rocksender WAAF in Boston erzählte er, zunächst habe man nur den Katalog der Band diskutiert: „Wir hatten keine aktive Website, kein Merchandise, zwei unserer Alben waren vergriffen. Aber mit Soundgarden geht eine Verantwortung einher – wir mussten dafür sorgen, dass neue Generationen von Rockfans an dieses Material kommen. Nach einer Menge Meetings fragten wir uns, ob wir nicht zur Feier der Wiederveröffentlichung wenigstens eine Show spielen sollten.“ Mittlerweile waren es drei (heimlich in Seattle als „Nudedragons“ sowie in Chicago beim Lollapalooza-Festival), und gestandene Männer (und Frauen) hatten Pipi in den Augen. „Triumphal!“, jubelten die Reviewer – so zeitlos und kraftvoll, als seien Soundgarden nie weg gewesen.

Und was ist mit den Spannungen zwischen Thayil und Cornell, die 1997 zur Trennung führten? „Es gab keine“, kontert Cornell. „Null. Aber die Medien wollen Stories, und wenn du ihnen nichts gibst – wie ,X hat mit meiner Frau geschlafen‘ oder ,Y hat ein Drogenproblem‘ –, dann schreiben sie halt von ,kreativen Differenzen‘. Die Wahrheit hat keinen interessiert. Nämlich, dass wir uns trennten, weil das Musikgeschäft zum Kotzen war und wir die Nase voll hatten. Die gute Nachricht ist, dass dieses Business tot ist und wir unsere Veröffentlichungen heute selbst in die Hand nehmen können, und das in einer Vielfalt von Formaten, die es früher nicht gab.“

Für die TELEPHANTASM-Retrospektive haben sie in die Vollen gegriffen: Die normale 12-Track-CD mit ›Black Rain‹ (der ersten Soundgarden-Single seit 13 Jahren) wird von einer Schwindel erregenden Anzahl Editionen flankiert: Eine Doppel-CD à 24 Songs, fünf davon unveröffentlicht, eine Triple-Vinylausgabe, die allererste Soundgarden-DVD mit 20 Videos, 13 davon nie gesehen, sowie eine nummerierte „Super Deluxe Sammler-Edition“ mit allem Gemüse, Poster und Lithographien. Fehlt eigentlich nur noch die mundgemalte Sammeltasse. In Amerika wurde TELEPHANTASM außerdem huckepack mit „Warriors Of Rock“ ausgeliefert, der neuen Folge des Playstation-Hits „Guitar Hero“.

Zockt der Luftgitarrist darauf ›Black Rain‹, befindet er sich übrigens in einer digitalen Kopie des mittlerweile geschlossenen New Yorker Clubs CBGB’s: Als Soundgarden dort 1989 auftraten, dürften die meisten Käufer noch in den Windeln gelegen haben. ›Black Rain‹, ein Überbleibsel aus der Zeit von BADMOTORFINGER (1991), wurde laut Cornell kaum verändert: „Ein paar Gitarren-Overdubs, ein leicht geänderter Refrain und andere Lyrics“, zählt er auf. „Damals waren wir ratlos, weil das Arrangement zu lang war. Das aufzuräumen, war jetzt kein Problem mehr.“
Überhaupt brachte für Cornell erst der Rückspiegel Klarheit: „Mit Abstand würde ich sagen, dass wir unter den Grunge-Bands die Mutigste und Experimentellste waren, diejenige, die das Genre vorangebracht hat.“ Lange das Zugpferd des „Home of Grunge“-Labels SubPop, setzten sie auch als Erste ihre Unterschrift unter einen Major-Vertrag. Heute sind es in erster Linie Nirvana, die mit Grunge identifiziert werden. Ärgert das Cornell? „Wir werden oft nach Nirvana gefragt“, weicht er aus. „Schon putzig, sich an die Jungs von damals zu erinnern. Als sie zu unseren Gigs kamen, waren sie noch in der High School. Aber jetzt wird Kurts Tod ihr Bild für immer prägen. Er, Jeff Buckley und Andy Wood (Sänger der Pearl Jam-Vorgänger Mother Love Bone, Anm.d.A.) hätten noch so viel Brillantes leisten können, das weiß ich. Gleichzeitig bleibt ihnen auf die Art erspart, Fehler zu begehen – die eine Platte, die man ewig bereut, der schlechte Song, die peinlichen Auftritte… Peinlichkeiten sind in einer Karriere unvermeidlich.“

Er muss es wissen: Sein erratisches Schlingern zwischen Singer/Songwriter, James Bond-Playboy, Audioslave-Muskelmann und R’n’B-Schmoozer schadete seinem Ansehen in der Szene erheblich. Darin sieht seine Ex-Frau und frühere Soundgarden-Managerin Susan Silver auch den eigentlichen Grund der Reunion: Chris’ Karriere sei derart aus dem Ruder gelaufen, sagte sie dem US-Magazin Spin, dass er keine andere Wahl hatte, als sich wieder um Soundgarden zu bemühen.

Die anderen nehmen das ihrem verlorenen Sohn nicht übel: Ganz gleich, wie das Verhältnis kurz vor oder nach dem Split war, herrscht derzeit eitel Sonnenschein. Gründungsmitglied Kim Thayil schwärmt bereits von der Kameraderie: „Vielleicht gehört für mich sogar zum Wichtigsten, dass ich wieder mit den Jungs rumhängen kann“, sagt der 50-Jährige, der bei den Reunion-Gigs stolzes Grau im Bart trug. Bassist Ben Shepherd mag das Wiedersehen auch an alte Dämonen erinnert haben: Der Mann-der-mit-durchgestrecktem-Arm-spielt fiel nach dem Soundgarden-Split in das sprichwörtliche Loch, war abhängig von Schmerzmitteln und bekam musikalisch lange kein Bein mehr auf die Erde. Drummer Matt Cameron er­ging es da sehr viel besser: Seit er 1998 bei Pearl Jam anheuerte, gilt er als eine der Säulen dieser Band – eine Position, die er vermutlich um nichts in der Welt wieder hergeben wird.

So weit, dass Cameron sich entscheiden müsste, wird es aber wohl nicht kommen. Denn so sehr die Fans auch hoffen: Soundgarden planen nach aktuellem Wissen vorerst kein neues Album, und, so Chris Cornell: „Wir stellen keine Welttournee zusammen, wie es bei einer klassischen Reunion der Fall wäre – genau solche Denke hat ja zu unserer Trennung beigetragen. Wir möchten den Spaß miteinander nicht gefährden. Wir lassen uns Zeit.“

Mando Diao – Kunstvolle Atempause

Mando Diao, 2008Sie gaben in den letzten zehn Jahren Vollgas. Der bisherige Höhepunkt: Mit ihrem bis dato letzten Studioalbum, GIVE ME FIRE, stürmten Mando Diao in Deutschland, Österreich und in der Schweiz auf Platz eins der Charts. Mit einem MTV UNPLUGGED blicken die fünf Schweden nun auf ihre bisherige Karriere zurück.

Album, Tour. Album, Tour. Album, Tour. Die beiden Sänger Björn Dixgård und Gustaf Norén, Bassist Carl-Johan „CJ“ Fogelklou, Schlagzeuger Samuel Giers und Keyboarder Mats Björke gönnten sich in den vergangenen Jahren kaum eine Auszeit. Zeitweise kamen die Jungs auf fast 200 Gigs pro Jahr. Zeit für eine Verschnaufpause. Und einen Blick zurück. Auf ihrem neuen Longplayer, MTV UNPLUGGED – ABOVE AND BEYOND, präsentieren Mando Diao ihre größten Hits, darunter ›Down In The Past‹ und ›God Knows‹, einige unbekanntere und bislang unveröffentlichte Songs wie ›No More Tears‹ sowie zwei Cover-Versionen von den Kinks und Simon & Garfunkel – und das alles ohne überflüssigen technischen Schnickschnack.

Um über das neue Werk zu sprechen, reisten Björn Hans-Erik Dixgård, einer der beiden Sänger der Band, und Bassist Carl-Johan „CJ“ Fogelklou Anfang Oktober nach Berlin. In der Zentrale ihres Labels, in einem Konferenzzimmer mit Blick auf die Spree, berichten die beiden Musiker über die Aufnahmen zu ihrem MTV UNPLUGGED. Gar nicht weit von hier, in den Union-Film-Studios in Berlin-Tempelhof, wurde der Akustik-Gig Anfang September aufgezeichnet. Wieso ausgerechnet in Berlin? „Es ist besser, nicht in seiner Heimatstadt zu bleiben. Denn an einem anderen Ort ist man für sich, wird nicht abgelenkt und kann sich besser konzentrieren“, so CJ, und Björn ergänzt mit leuchtenden Augen: „Alles hier in Berlin ist ziemlich attraktiv. Der Vibe, die Clubs, die Kunstszene. Es ist eine wundervolle Stadt.“

Ein ziemlich krasser Gegensatz zur schwedischen Provinz-Stadt Borlänge, aus der Mando Diao stammen. Im Gegensatz zur deutschen Hype-Metropole mit seinem grenzenlos scheinenden kulturellen Angebot gibt es in der 40.000-Einwohner-Stadt ungefähr sieben Clubs. Da muss auch eine Tankstelle mal als Showbühne herhalten. „Das war eine private Party des Personals“, erinnert sich CJ. „Ich brauchte Geld für eine neue Gitarre. Und auch der Rest der Band konnte ein bisschen Cash gebrauchen. Wobei sie uns allerdings nie bezahlt haben…“, fügt Björn grinsend hinzu.

Aus den Kleinstadtrebellen wurden im Lauf der Jahre ernstzunehmende Musiker. Bereits mit ihrem zweiten Longplayer, HURRICANE BAR – benannt nach einem Rock-Schuppen in ihrer Heimatstadt –, schaffte die Band 2005 den Einstieg in die Top 20 der deutschen Charts. Der endgültige Durchbruch gelang ein Jahr später mit ODE TO OCHRASY, das Album erreichte Platz drei in Deutschland. Mit ihrem energiegeladenen Rock, der sich stark am Sound der Sechziger orientiert, schafften es Mando Diao in die erste Liga. Spätestens seit ihrem Hit ›Dance With Somebody‹, der bislang erfolgreichsten Single der Band, werden die fünf Rocker bei ihren Konzerten von jungen, meist weiblichen Fans in der ersten Reihe angehimmelt. Eine „Mandomania“ schwappte über Deutschland. Nur in Großbritannien hat es bislang nicht so richtig geklappt. Dafür hat Björn eine Erklärung: „In England geht es eher um die richtigen Posen.Wenn du es dort schaffen willst, musst du ein Model vögeln und dir jeden Tag Kokain durch die Nase ziehen, damit die Tabloid-Magazine Fotos davon schießen können. Aber so sind wir nicht, sorry.“
Für ihren Unplugged-Auftritt mussten die knapp 30-jährigen Rocker garantiert niemanden flach legen. Die Band war von Anfang an in den kreativen Prozess involviert. „Die Grundidee für die Cinematografie stammt von uns. Es gab auch keinen Producer für die Musik, wir haben einfach drauflos gespielt“, lacht Björn – und seine charakteristische Reibeisenstimme schallt durch den Raum. Für das Unplugged-Konzert wurde eine Szenerie, bestehend aus vier unterschiedlichen Räumen, kreiert: eine Garage, die die Anfänge der Band symbolisiert, ein Hotelzimmer, ein schwedisches Wohnzimmer, das für ihre Heimat steht, und ein Speicher, der die Zukunft repräsentiert.

Auch bei der Outfit-Auswahl hatten die Jungs von Mando Diao das Sagen. So performten sie in traditionellen schwedischen Kostümen. „Das sind an-sehnliche Kleider von circa 1860 aus dem Landkreis, aus dem wir stammen. Damals wurden diese Kleider zu besonderen Anlässen wie Hochzeiten getragen. Es sind also sozusagen Party-Klamotten“, klärt Björn auf.

Für das Unplugged-Set wurde alles aufs Nötigste reduziert. Die 24 ausgewählten Songs wurden neu arrangiert. Das heißt jedoch nicht, dass das für Mando Diao typische Rock’n’Roll-Feeling auf der Strecke bleibt. „Das Schwierige an dem ganzen Prozess war es, das Energie-Level oben, aber die Laut-stärke unten zu halten“, erklärt CJ. Das ist den Jungs gelungen. Während der Smasher ›Dance With Somebody‹ ungewohnt zurückhaltend beginnt, geht es zum Schluss dann doch noch richtig zur Sache. Nur ohne Verstärker eben. Rock’n’Roll ist schließlich keine Frage der Lautstärke, sondern hat etwas mit Leidenschaft zu tun. Und davon haben die „jungen Wilden“ von Mando Diao genug.
Sie strotzen geradezu vor Selbstbewusstsein und sind nicht auf den Mund gefallen. In der Vergangenheit rissen sie die Klappe hin und wieder ganz schön weit auf. So haben sie sich zum Beispiel beim Release ihres Debüts BRING ’EM IN auf eine Ebene mit den Kinks und den Beatles gestellt. Ganz schön mutig. „Wir sind einfach der Ansicht, dass wir bessere komplette Alben aufnehmen. 1967 wurde das Album-Format von den Beatles mit SGT. PEPPER’S LONELY HEARTS CLUB BAND eingeführt. Davor ging es lediglich um erfolgreiche Singles“, stellt CJ klar.

Dennoch gaben sie Ray Davies, dem Frontmann der 60s-Kult-Band The Kinks, eine Chance. „Wir wollten ihm zeigen, wie es ist, in einer großartigen Band zu spielen. Wenigstens für einen Song“, so CJ mit ironischem Unterton. Gemeinsam mit dem legendären Sänger performten Mando Diao fürs MTV-Unplugged den Kinks-Klassiker ›Victoria‹.
Davies ist nicht der einzige musikalische Gast. Für den Schlafzimmer-Schmachtfetzen ›High Heels‹ konnte Juliette Lewis als Duett-Partnerin gewonnen werden, für ›Gloria‹ holten sich Mando Diao US-Newcomerin Lana Del Ray ins Boot. Des weiteren verpflichtete die Band den langjährigen Beatles-Freund Klaus Voormann. Der 72-jährige Grafiker, Produzent und Musiker, der 1966 das Cover für das Beatles-Album REVOLVER entwarf und für Größen wie Lou Reed und Carly Simon den Bass zupfte, hielt den Abend auf Papier fest. Seine Impressionen werden fürs Artwork des neuen Mando-Diao-Albums verwendet.

Neben den illustren Gästen durfte einer nicht fehlen: Band-Mitbegründer Daniel Haglund, der Mando Diao 2004 verließ und heute als Deutsch- und Musiklehrer arbeitet, ist ebenfalls mit von der Partie. „Als er gefeuert wurde, waren wir auf völlig unterschiedlichen Levels. Wir waren Anfang 20 und wollten so viele Gigs wie möglich spielen“, blickt Björn zurück. „Inzwischen haben wir wieder ein gutes Verhältnis, und es ist für uns ganz natürlich, ihn bei einer solchen Show dabei zu haben. Denn es ist eine Art Mando-Diao-Retrospektive – und er ist immerhin der Gründer dieser Band. Er musste also einfach dabei sein. Außerdem ist er ein großartiger Musiker.“
Nach der Veröffentlichung des Unplugged-Albums gönnen sich die Jungs von Mando Diao nun erst einmal eine Auszeit, bevor es dann an die Aufnahmen des nächsten Studioalbums geht – und sie danach wieder in den Tourbus steigen. Durchatmen heißt jetzt die Devise. Vorerst.

New Model Army – Britisches Erfolgsmodell

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NewModelArmySeit 30 Jahren erschüttern New Model Army mit ihren gewaltigen Sound-Attacken die Musikwelt. Und sie haben nicht vor, damit aufzuhören, wie Band-Kopf Justin Sullivan im CLASSIC ROCK-Interview verrät.

Gerade erst haben sie ihre Welttournee beendet. Es war eine Konzertreise mit vielen, vielen Stopps – einige davon haben New Model Army auch in Deutschland eingelegt. Doch nun ist es Zeit, sich ein bisschen zu erholen, durchzuatmen – und endlich auch mal inne zu halten und darüber nachzudenken, was in den vergangenen Tagen, Wochen, Monaten, Jahren eigentlich alles so passiert ist. New Model Army feiern nämlich ein rundes Band-Jubiläum. Seit 30 Jahren gibt es die britischen Indie-Institution schon – und mit einem Boxset haben die Musiker ihren Fans jüngst eine Sound-Torte zum Geburtstag spendiert.

Dabei liegt das Feiern den Protagonisten Justin Sullivan (Gesang, Gitarre), Marshall Gill (Gitarre), Pete „Nelson“ Nice (Bass), Michael Dean (Drums) und Dean White (Keyboard) gar nicht – zumindest nicht, wenn sie selbst im Mittelpunkt des Fests stehen. „Ich bin dazu gezwungen worden, mir Gedanken über die Karriere von New Model Army zu machen“, sagt Frontmann Sullivan, ein Hüne, der mit einer sanften Stimme spricht, die so gar nicht zu dem wilden, zügellosen Menschen passen will, in den er sich gerne auf der Bühne verwandelt. „New Model Army waren nie dazu gedacht, dass wir mit der Band Karriere machen. Das hat sich einfach so entwickelt. Daher widerstrebt es mir, nun zurückzublicken. Das ist gegen meinen natürlichen Instinkt. Es ging mir immer nur ums Hier und Jetzt. Wir sind stets wild entschlossen, unser Bestes zu geben. Und wir konnten im Laufe der Jahre einige Leute um uns scharen, die uns darin unterstützen und der Band stets loyal zur Seite stehen.“

Wie wichtig das war, zeigte sich besonders in den Neunzigern, einer schwierigen Phase für New Model Army. Denn was 1980 in Bradford noch unter einfachen Vorzeichen begann – es gab nur zwei Regeln: „Keine Tories, kein Kokain“ –, entwickelte sich nach dem (Gold-)Erfolg des 1989er-Werks THUNDER AND CONSOLATION rasch zu einer Unternehmung, bei der auch die Industrie mitbestimmen wollte. Daher wandte sich Sullivan von New Model Army ab und ging eigene Wege mit anderen Partnern. Erst Ende der Neunziger ging es mit kleineren Indie-Releases wieder in die richtige Richtung. So konnte die Gruppe selbst den schmerzhaften Ausstieg des an Krebs erkrankten Drummers und Co-Komponisten Robert Heaton im Jahr 2000 verkraften. Denn der Split mit dem Musiker, der 2004 verstarb, bestärkte sie noch darin, sich fortan nie mehr das Zepter aus der Hand nehmen zu lassen. New Model Army gehörten zu den Ersten, die sich darüber Gedanken machten, wie man den Fans alles aus einer Hand bieten könnte, und verantworteten ihre Veröffentlichungen selbst. Zudem erkannten sie, dass eine Band heutzutage vor allem eins tun muss: auf Tour gehen.

Dies unterscheidet sie von den meisten Acts. Sie denken für sich selbst und für ihre Fans, trauen sich, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. „Wir sind in vielerlei Hinsicht eine ganz normale Band“, betont Sullivan (54). „Aber einige Dinge sind besonders bei New Model Army. Wir haben Erfolg, gehören aber keinem speziellen Genre an. Und wir hatten noch nie in irgendeinem Land einen Top 20-Hit. Zudem bekommen wir viel Lob für unsere Achtziger-Veröffentlichungen. Aber wir beschränken uns nicht auf die Songs aus dieser Phase, im Gegenteil. Denn abgesehen von den jetzigen Jubiläums-Gigs spielen wir bei den meisten Shows bis zum Zugabenblock nur zwei, drei Stücke aus dieser Ära, der Rest stammt aus der Zeit nach 2000. Und trotzdem sind die Leute begeistert. Sie interessieren sich für uns, unsere aktuelle Entwicklung – und wollen eben nicht einfach die immer gleichen alten Stücke hören. Das ist schon ein Privileg für eine Band.“

Sullivan weiß das zu schätzen. Genauso, wie er die Qualitäten und das Engagement seiner langjährigen Fan-Gemeinde zu schätzen weiß. Dazu zählt speziell „The Following“, eine ebenso treue wie wild aussehende Anhängerschar, die beim Gros der Gigs die Frontreihen bevölkert. Sie waren es, die ihn und seine Mitmusiker immer darin bestärkt haben, unbeirrt weiterzumachen. Auch in schweren Zeiten, so zum Beispiel 2008, als New Model Armys einflussreicher Manager Tommy Tee starb. Der Gedanke, dass hinter der Band eine Gemeinschaft steht, die alles auffängt und mitträgt, hilft nicht nur dem Briten selbst, sondern auch den Fans. Teil der „Familie“ zu sein, ist das vielleicht wichtigste Gefühl, das die Army vermittelt. Daher ziehen sie nicht nur Menschen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten an, vom Banker bis hin zum Schüler, vom Landbewohner bis zum Stadtkind.

Doch was auf der einen Seite funktioniert, eine wohlige Zusammengehörigkeit bildet, grenzt auf der anderen Seite auch aus. New Model Army waren nie eine Band für die Masse. Zu wandlungsfähig – sowohl inhaltlich, musikalisch als auch politisch. Und wenig daran interessiert, sich anzubiedern (oder, netter formuliert, sich stets auf die Seite der Mehrheit zu schlagen). Das hat unter anderem dazu geführt, dass andere Künstler oder Organisationen sie ignorierten. Greenpeace beispielsweise wies New Model Army ab, als es um die Mitwirkung an Benefiz-Shows ging. Tom Jones breitete den Mantel des Schweigens über seine 1993er-Army-Kollaboration beim Stones-Cover ›Gimme Shelter‹. „Wir haben im Laufe der Jahre schon mit einigen PR-Agenturen zusammengearbeitet. Und die Leute dort fragten uns nach jeder Kampagne: ‚Was zum Teufel habt ihr eigentlich angestellt? Ihr werdet ja regelrecht gehasst!‘ Ich kann dazu nur sagen: keine Ahnung!“, so Sullivan mit einem Schulterzucken.

Dies führt(e) natürlich automatisch dazu, dass die Musik von New Model Army in den Hintergrund trat. Dabei ist ihre stilistische Ausrichtung einzigartig. Keine andere Band vermischt derart gekonnt und kompromisslos Punk-Flair mit dem Traditions-Folk der Arbeiterklasse, tiefschürfenden Balladen oder auch wild peitschendem Riff-Rock. Kein Wunder, dass sie damit unterschiedlichste Acts beeinflusst haben – ihr Spektrum reicht von den Levellers bis hin zu Sepultura.

Sie selbst ziehen ihre Inspirationen aus einem ebenso vielfältigen Musiker-Konsortium: „Amerikanischer Soul aus den Sechzigern hat mich schon früh fasziniert“, betont der Brite. „Und dann ist da QUADROPHENIA, meiner Meinung nach das beste Rock-Album aller Zeiten, aufwühlend und wundervoll. Doch ich liebe auch Queens Of The Stone Age, PJ Harvey, Kate Bush oder aktuell Alela Diane!“

Den größten Respekt hat Sullivan jedoch vor Neil Young, dem individualistischen Sturkopf, der sich nach wie vor gegen jegliche Vereinnahmung erfolgreich zu wehren weiß: „Für die Fans, die seiner Generation angehören, ist er wohl der Einzige, der seinen Idealen noch treu geblieben ist. Ich mochte seine Einstellung schon immer – er kann herrlich direkt sein und schert sich einen Dreck darum, was andere Leute über ihn denken. Für jemanden, der schon 65 ist, eine reife Leistung, die ich bewundere. Wir verfolgen einen ähnlichen Ansatz. Und ich glaube, dass wir damit nicht schlecht fahren. Denn immerhin schaffen wir es, die Hallen auszuverkaufen, obwohl wir uns nicht dem Massengeschmack anpassen, sondern einfach die Songs spielen, nach denen uns der Sinn steht.“

Giant Saint – Innovation aus Prinzip

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giantsand-4_bwStatt sich zum 25. Geburtstag von Giant Sand eine Torte schmecken zu lassen, das neue Album BLURRY BLUE MOUNTAIN zu preisen und einfach das Leben zu genießen, ist Howe Gelb auf Krawall gebürstet. Zumindest, wenn es um das Thema „Wüste“ geht.

Calexico sind eine sehr, sehr beliebte Band. Vor allem in Deutschland dürfte man nur wenige Musikfreunde finden, die deren an- geblicher „Wüstenmusik“ wirklich abgeneigt sind. Umso er- frischender ist es, sich mit Howe Gelb zu unterhalten. Denn Howe Gelb hat, gewissermaßen versehentlich, Calexico erfunden: Was seine Band Giant Sand früher einmal gemacht hat, war Calexico „avant la lettre“. Für zwei, drei Alben klangen Giant Sand tatsächlich nach Weite, Staub und struppig vorbeihoppelnden Steppenhexen. Howe Gelb war es, der diesen extrem erfolgreichen Sound zwischen Ennio Morricone und staubigem Folk definiert hat – um dann, wie es sich gehört, andere Pfade einzuschlagen, sich weiterzuentwickeln.

Seine beiden Bandmitglieder John Converti-no und Joey Burns aber witterten damals eine Marktlücke und ein Geschäftsmodell. Sie beschlossen, Giant Sand zu verlassen. Und dabei nahmen sie den patentierten Wüstensound mit, nannten sich fortan Calexico, mieteten sich ein paar deutsche Musiker dazu – und wurden damit vor allem hierzulande sehr, sehr erfolgreich. „Erfolgreicher jedenfalls, als wir es uns mit Giant Sand jemals erträumt hätten“, sagt Howe Gelb, seufzt dabei vernehmlich und streicht sich unwirsch eine widerspenstige Haartolle aus dem Gesicht.

Eigentlich geht es darum, in aller Ruhe das herrlich spröde scheppernde neue Album von Giant Sand zu bewerben, BLURRY BLUE MOUN-TAIN. Kaum kommt das Gespräch aber auf Burns und Convertino, wird Howe Gelb ein wenig ungemütlich: „Ich meine: Wüstenmusik! Was soll das sein? Ihr in Deutschland seid es doch, die Calexico diesen Unsinn abkauft. Natürlich gibt es bei mir zu Hause in Tuscon, Arizona, diese unfassbare Wüste. Und natürlich kann diese Leere auch inspirierend sein, schließlich habe ich viel Zeit dort verbracht. Vor allem aber ist die Wüste voller Staub – wo man geht und steht. Niemandem, der diese Wüste aus eigener Erfahrung kennt, könnten Calexico ihre seltsame Spaghetti-Western-und-Dis-ney-Version davon verkaufen. Ich befürchte zudem, dass sie damit in einer Falle stecken. Neulich wollten sie mit GARDEN RUIN aus diesem Klischee aus­brechen. Und da wurde ihnen von der Kritik höflich mitgeteilt, dass es schon genug mittelmäßige Bands gibt, die mittelmäßigen Pop machen. Und was tun Calexico? Nehmen brav wieder ein ,Wüstenalbum‘ auf. Also, ich würde das nicht aushalten.“

Nein, in gegenseitigem Einvernehmen hat man sich wohl kaum ge­­trennt. Und der Schmerz über den Verlust der Mitstreiter ist noch deutlich spürbar. Er offenbart auch etwas über diesen Musiker, bei dem Melancholie sich mischt mit einem heiteren Fatalismus. Über 40 Platten hat er seit 1983 veröffentlicht, ist mit Neil Young, David Byrne, Bob Dylan und Captain Beef­heart verglichen worden. Das ist schon mehr, als andere erreichen – selbst wenn über all die Jahre und bei aller Reputation kein einziger Hit heraus­gesprungen ist: „Ich kann mich nicht beschweren. Ich komme ursprünglich aus einem Industrie-Revier in Pennsylvania. Bevor ich nach Tuscon ging, war eine Arbeit in der Fabrik alles, was in Zukunft für mich vorgesehen war. So gesehen hat die Wüste mein Leben verändert. Und die Gitarre. Der Gitarre verdanke ich alles. Und natürlich Rainer.“

Rainer, das ist Rainer Ptacek, geboren in der DDR und Szenegröße in Tuscon, nachdem seine Eltern in die USA emigriert waren. Ptacek war Gelbs Seelenverwandter und langjähriger Mitstreiter. Gelb spricht von ihm wie von einem großen Bruder: „Er wusste, dass er sterben würde“, sagt Gelb und spielt auf Ptaceks Gehirntumor an, „und doch arbeitete er 1997 so intensiv wie immer. Man kann förmlich hören, was er schon auf der anderen Seite, der Seite des Todes, gesehen hat. Das ist Größe.“

Größe ist auch die Fähigkeit, Großes zu leisten – und darüber zu schwei­gen. Jahrzehnte, bevor ein Josh Homme mit Kyuss und Konsorten „in die Wüste“ gegangen ist oder im Freak Folk plötzlich wieder „Kollektive“ musi­zierten, hat Howe Gelb in den achtziger Jahren das Prinzip der Gruppe mit offenen Grenzen kultiviert. An das Projekt Giant Sand konnte andocken, wer wollte. Und das waren über die Jahre nicht wenige: Steve Wynn, Julia­na Hatfield, PJ Harvey, Chris Cacavas, Kurt Wagner (von Lambchop), Lucin­da Williams, Lisa Germano… diese Liste ließe sich nun noch zentimeterweise fortsetzen.

Gelb seufzt wieder und erwähnt noch den unlängst eigenhändig aus dem Leben geschiedenen Vic Chesnutt: „Vic war der Großartigste. Niemand war so weit draußen, niemand konnte ihn stoppen, außer ihm selbst. Und das tat er dann leider Gottes auch. Aber es stimmt schon: Ich habe mich immer bemüht, frische Musiker zu holen, die Band für fremde Einflüsse offen zu halten, neugierig zu bleiben.“

Mit dem Begriff Americana kann er denn auch wenig anfangen. „Was wir ganz am Anfang gemacht haben, kam uns eigentlich vor wie Punk, hand­gemacht und wütend, mit Mut zur Dissonanz. Wenn ich mir das nun rück­blickend anhöre, erinnert es mich eher an den klassischer Rock aus den siebziger Jahren. So gesehen waren die Achtziger eine musikalische Wüste, in der wir etwas Neues machen konnten.“

War Howe Gelb schon immer klar, dass seine Musik dem Zahn der Zeit widerstehen würde? „Nein“, sagt er: „Im Gegenteil. Was ich mache, das ist immer im Moment geboren. Es muss sich jetzt gut anfühlen, sonst kann ich’s auch lassen. Nur wenn es das tut, dann kann es sich vielleicht auch in 25 Jahren noch richtig anfühlen.“
Klassisch im strengen Sinne von „wahr, schön und gut“ war das nicht immer, was Giant Sand produzierten: „Da war schon viel Trial-and-Error dabei“, räumt Gelb ein: „Der einzige Fehler, den ich nun wirklich nie gemacht habe, ist, irgendeiner Mode hinterherzuhecheln. Wobei, wenn ich mir Calexico anschaue: Gelohnt hätte es sich…“
Wobei Gelb auch ohne gigantische Tantiemen ein nicht unangenehmes Leben führt. Gelebt, gearbeitet und aufgenommen wird daheim in Tuscon oder – wie unlängst mit der Band Of Gypsies – auf einem Dach im spanischen Cordoba. In die Ferien aber fährt Howe Gelb mit seinen Kin­dern eigentlich nur noch nach Dänemark, die Heimat seiner Frau: „Erst neulich war ich dort wieder stundenlang unterwegs, spazieren, und weißt du was? Es kam mir dort vor wie in der Wüste, so weit und wild und leer. Aber es wäre gelogen, würde ich behaupten, dass die Einöde mich irgend­wie ,inspiriert‘. Das tut sie schon lange nicht. Es gab eine Zeit, da war ich wirklich lange in der Wüste, da habe ich mich wirklich darauf eingelassen, mit Drogen, und ich bin ehrlich gesagt froh, dass ich da wieder heraus­gefunden habe.“

Ist es nicht ein schmeichelhaftes oder wenigstens merkwürdiges Gefühl, heute als Vorreiter so vieler Genres und Konzepte gefeiert zu werden? „Ach“, seufzt Gelb ein weiteres Mal und lächelt: „Wer nur lange genug dabei ist, wird immer der Vorreiter von irgendwas sein.“

Ray Davies – Freundschaftsdienste

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Ray Davies 2010_bearbEr ist einer der erfolgreichsten Songwriter, die das Königreich von Fish’n’Chips je hervor­ge­bracht hat: Raymond Dou­glas Davies – kurz: Ray – hat Dutzende von Rock-Klas­sikern verfasst, die wirklich jeder kennt. Und doch: Der 66-Jährige ist alles andere als glücklich. Sei es, weil er gerne seine alte Band, die Kinks, reformieren würde, aber nicht kann. Oder weil er mit SEE MY FRIENDS ein Tribute-Album vor­legt, das er am liebs­ten vollkommen an­­ders be­stücken wür­de – wenn man ihn ließe.

An einem nasskalten Herbsttag in Berlin muss Ray Davies für etwas werben, das wie ein einziger Kompromiss gegenüber seiner Plattenfirma wirkt. Die hatte ihn im vergangenen Jahr ein unkommerzielles Werk namens THE KINKS CHORAL COLLECTION mit Chor-Versionen bekannter Kinks-Stücke aufnehmen lassen – und erwartet nun lukrative Wiedergutmachung. Und zwar mit einer CD namens SEE MY FRIENDS, die als klassisches Tribute-Album durchaus durchgehen würde, wäre das Objekt der Bewunderung nicht an jedem einzelnen Stück beteiligt und würde sich dabei mit Künstlern duettieren, die – daraus macht er überhaupt kein Geheimnis – größtenteils dem Wunschzettel der Marketingdirektoren entsprechen. „Die meisten Leute hat man mir ans Herz gelegt. Und ob-wohl ich davon nicht wirklich begeistert war, habe ich ihnen zumindest eine Chance gegen. Was soll ich sagen: Es waren einige positive Überraschungen dabei.“

Wie beispielsweise Gary Lightbody, Amy MacDonald oder Bon Jovi. Namen, die das kommerzielle Potenzial des Werkes steigern sollen, und durchaus auch tun. Und zudem – bewusst oder unbewusst – auch ein kleines bisschen Selbstironie zeigen. Etwa, wenn Gelegenheitsschauspieler Jon Bon ausgerechnet ›Celluloid Heroes‹ über gescheiterte Hollywoodstars schmettert, und in grauer Vorzeit mal im Vorprogramm der Kinks unterwegs war. „Ich würde lügen, wenn ich sage, dass er damals bleibenden Eindruck auf mich gemacht hätte“, grinst Ray. „Er war einer von diesen wilden Jungs in Spandex-Hosen, die versucht haben, so viele Mädchen wie möglich zu beeindrucken. Das Problem war nur: Schon Anfang der Achtziger waren bei den Kinks nicht mehr wirklich viele junge Damen im Publikum. Da dürfte er also ziemlich leer ausgegangen sein. Aber egal, er war nett und hat sich wirklich Mühe gegeben. Das ist alles, was zählt.“

Mit weitaus mehr Hochachtung spricht er dagegen von Bruce Springsteen, den er anlässlich seines New Jersey-Trips zu Familie Bon Jovi auf der Nachbarfarm besucht und mit ihm ›Better Things‹ eingespielt hat. „Er war unglaublich, wie gut er vorbereitet war“, setzt Ray mit zufriedenem Grinsen an. „Er hat viel über die Kinks gelesen und hatte etliche Fragen zur Bandgeschichte und zum Hintergrund bestimmter Songs. Deshalb haben wir uns auch nur 25 Minuten mit seinem Gesang befasst und ansonsten vier Stunden ununterbrochen geredet. Was einfach toll war. Ein echtes Highlight.“

Genau wie die Leidenschaft, mit der Metallica seinen Evergreen ›You Really Got Me‹ malträtieren. Nämlich mit noch mehr Biss als im Original, das gemeinhin als erster Metal-Song der Musikgeschichte gilt – weil das markante Riff an Brutalität und Schärfe kaum zu überbieten ist. „Sie machen das wirklich exzellent“, lautet der Kommentar des Komponisten. „Einfach, weil es nahezu live war, also mit ganz wenigen Overdubs aufgenommen wurde. Außerdem hat es denselben rebellischen Geist wie bei den Kinks – und ähnlich viel Power. Das erste Mal, dass wir es zusammengespielt haben, war übrigens vor einem Jahr im Madison Square Garden, beim Konzert für die Rock’n’Roll Hall Of Fame. Sie fanden es toll, und deshalb habe ich sie gefragt, ob sie eine Studioversion mit mir aufnehmen würden. Sie sagten zu, und wir haben dafür gerade mal vier Takes gebraucht.“

Eine Professionalität, die er nach 47 Jahren Musikgeschäft zu schätzen weiß. Auch wenn seine ursprüngliche Liste an potenziellen Duettpartnern mit weit weniger kommerziell attraktiven Superstars bestückt war. Sie enthielt eher alte Freunde wie Spoon, Frank Black, Alex Chilton, Jackson Browne, Lucinda Williams oder den kauzigen US-Schauspieler Harry Dean Stanton. „Ich bin ein riesiger Fan von ihm und halte ihn für einen der spannendsten Charaktere, die in Hollywood rumlaufen. Aber bei Universal kannte nun mal niemand seine Platten, und die Verantwortlichen dort fanden ihn schlichtweg zu obskur. Dabei spielt er immerhin mit Leuten wie Bob Dylan und ist ein richtig guter Gitarrist. Aber vielleicht klappt das ja beim nächsten Mal. Denn am Ende des Projekts haben sich immer mehr Leute gemeldet, die unbedingt etwas mit mir machen wollen. Wie etwa Shirley Manson, die ich wahnsinnig in-teressant finde.“

Wobei Davies die Aufmerksamkeit, die er gegenwärtig mit SEE MY FRIENDS erfährt, am liebsten nutzen würde, um das Original wiederzubeleben. Sprich: Die legendären Kinks, die zwischen 1964-1996 stolze 23 Studioalben veröffentlichten, wegweisende Songs wie ›All Day And All Of The Night‹, ›Sunny Afternoon‹, ›Dead End Street‹, ›Lola‹, ›Days‹ oder ›Waterloo Sunset‹ schrieben, neben Beatles, Stones, Pink Floyd und Who zu den wichtigsten Rock-Bands der Insel zählen und längst nicht nur für nette, kleine Beat-Stücke stehen, sondern auch für exzentrische Rock-Opern wie PRESERVATION ACT 1 und 2, die den Horizont ihrer Hörerschaft bei weitem überstiegen.
„Wir haben es uns und unseren Fans nie wirklich leicht gemacht“, lacht Ray. „Aber das wollten wir ja auch gar nicht. So gerne wir Hits hatten und in großen Hallen spielten, so sehr haben wir unseren Erfolg genutzt, um zu experimentieren und unsere Grenzen auszuloten. Klar, ist das manchmal fürchterlich in die Hose gegangen, aber es hatte auch große Momente, in denen wir dachten: ,Na also, die Leute sind doch gar nicht so blöd!‘ Nur: Wer es in diesem Geschäft zu etwas bringen will, der muss auf Nummer sicher gehen und immer mit dem Strom schwimmen. Was uns einfach zu langweilig war.“

Somit löste sich die Band Mitte der neunziger Jahre auf – nach mehreren Album-Flops und unüberwindbaren Differenzen zwischen den Brüdern Ray und Dave. Beide schienen das zunächst sehr zu genießen und vergingen sich an Autobiografien wie Solo-Alben. Doch nach anderthalb Dekaden, Daves Schlaganfall und den tiefroten Zahlen des gemeinsamen Konk-Studios in Nord-London, ist zumindest bei Ray der Wunsch gewachsen, es noch einmal als Band zu versuchen.

Weshalb er bereits an neuen Songs mit Drummer Mick Avory bastelt – und auch über eine Zusammenarbeit mit Ex-Bassist Pete Quaife nachgedacht hat. „Ich hatte vor, nach Dänemark zu fliegen, wo er gelebt hat, und dort ein paar Stücke mit ihm aufzunehmen. Doch so weit ist es nicht gekommen – er ist im Juni nach langer, schwerer Krankheit gestorben. Und das hat mir einmal mehr gezeigt, dass es höchste Zeit für die Kinks wird. Also dass wir mit dieser Reunion nicht viel länger warten dürfen, weil es sonst zu spät ist.“

Doch dazu fehlt allerdings derzeit eine wichtige Komponente: Gitarrist Dave Davies, der gesundheitlich zwar wieder halbwegs auf dem Damm ist, aber immer noch mit der gleichen Begeisterung wie früher auf dem brüderlichen Kriegspfad wandelt. Was Ray mit einer Mischung aus Ironie und Sarkasmus kommentiert: „Er ist gegen alles, was ich ihm vorschlage. Einfach, weil er möchte, dass sämtliche Ideen von ihm stammen – selbst wenn sie letztlich nicht viel taugen. Insofern ist es, als ob man sich mit der Europäischen Gemeinschaft auseinander setzt. Sprich: Egal, was man tut – es kann nichts Vernünftiges dabei herauskommen. Zumal er den ganzen Tag in seinem Haus auf dem Land rumsitzt und die Leute mit völlig absurden E-Mails bombardiert. Es ist wie ,Dave gegen den Rest der Welt‘. Dabei sollte er endlich begreifen, dass ihn die Welt liebt – und ich tue das auch. Aber das passt nicht in sein verstocktes Hirn. Insofern hoffe ich, dass er auch durch dieses Album erkennt, wie sehr die Menschen da draußen unsere Songs zu schätzen wissen.“

Denn für den Fall der Fälle, also für die Kinks-Reunion 2011, hat der Mann aus Fortis Green bereits eine Vielzahl an begleitenden Projekten geplant. Wie eine erste Europatournee seit 1993, ein Musical über die Karriere der Band und nicht zuletzt ein Biopic des UK-Regisseurs Julien Temple, dem Davies sogar sein sagenumwobenes Privatarchiv mit mehreren tausend Stunden Filmmaterial geöffnet hat. „Eine Menge Zeug in teilweise indiskutabler Qualität, aber auch einige sehr schöne Aufnahmen von unseren Tourneen in den Siebzigern, die zeigen, wie anarchisch wir damals waren.“

Und falls sich Dave nicht beirren lässt? Falls er weiter schmollt? „Dann kann er mich kreuzweise“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Nur, um mit einem weitaus feingliedrigeren Schlusssatz abzuschließen: „Wahrscheinlich mache ich mich dann an SEE MY FRIENDS II – Kandidaten für eine Fortsetzung gibt es genug.“ Was fast wie eine Drohung klingt. Zumindest ein bisschen.

Titelstory: Bruce Springsteen – Die Reise ins Ich

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bg03Er gilt als introvertiert, menschenscheu und wortkarg. Dabei ist Bruce Springsteen einfach ein Rockstar der etwas anderen Art. Einer, der Familie und Privatsphäre groß schreibt, lieber die Musik sprechen lässt und sich meist nur mit Journalisten unterhält, die er auch kennt. Im Zuge der Veröffentlichung von THE PROMISE: THE DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN STORY erlaubt der Boss jedoch, dass sich CLASSIC ROCK zwei Tage an seine Fersen heftet – und zeigt sogar seine Schokoladenseite.

Toronto, Mitte September 2010. In der kanadischen Boomtown, die in diesen Tagen einmal mehr Austragungsort des Toronto International Film Festivals ist, herrscht Ausnahmezustand. Denn alles, was in Hollywood Rang und Namen hat (oder gerne hätte) ist vor Ort, um sein neuestes Produkt zu bewerben, die Luxushotels und Gastro-Tempel heimzusuchen und die lokalen Bars unsicher zu machen. Was abgesperrte Straßenzüge, hohes Sicherheitsaufkommen und geschlossene Gesellschaften bedeutet. Schließlich zählen zu den diesjährigen Stars unter anderem Clint Eastwood, Robert DeNiro, Mickey Rourke, Bill Murray, Liv Tyler, Anthony Hopkins, Black Eyed Peas-Fergie und Bruce Springsteen. Eine Rock-Ikone, die die Öffentlichkeit für gewöhnlich meidet, rote Teppiche, Blitzlichtgewitter und Autogrammjäger liebt wie Schmierseife und so ziemlich der Letzte ist, den man bei einem solchen Event vermuten würde.

Doch der 61-Jährige ist sogar die heimliche Hauptattraktion der zweiwöchigen Veranstaltung. Grund dafür ist seine Dokumentation THE PROMISE: THE MAKING OF DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN, die sein Haus- und Hofregissseur Thom Zimny zusammengestellt hat und in der die vielleicht schwierigste Phase seiner gesamten Karriere reflektiert wird: die Aufnahmen zum vierten Album DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN, die 1977/78 im heimischen Proberaum in New Jersey sowie den sündhaft teuren New Yorker Record Plant Studios stattfanden. Damals tüftelte der junge, chronisch erfolglose Künstler fast anderthalb Jahre an neuen Songs, verwarf letztlich die Hälfte des aufgenommenen Materials und stand zudem unter immensem Druck: Sein Label wollte ihn wegen schwacher Verkaufszahlen feuern, Ex-Manager Mike Appel verstrickte ihn in einen langwierigen Rechtsstreit, bis zu dessen Beilegung er kein Material veröffentlichen durfte, und die Stücke, die er gerne auf Platte gebannt hätte, entsprachen nicht seinen Klangvorstellungen.

HELDEN IN UNTERHEMDEN
Deshalb feilte er mit seiner E Street Band so lange daran, bis alle kurz vor dem kollektiven Kollaps standen: völlig ausgepowert, übermüdet und in Sachen Stimmung auf dem absoluten Nullpunkt. Band-Intimus Barry Rebo begleitete das Geschehen mit einer Videokamera der ersten Generation. Sprich: im klassischen Schwarz-Weiß, mit teils grobkörnigem Touch und klassischer „Fly On The Wall“-Perspektive, also mitten im Geschehen, aber ohne Ablenkung von den Protagonisten. Zu sehen sind fertige Männer Ende 20, die absolut unsägliche Klamotten tragen (Springsteen im Ripp-Unterhemd, Little Steven im Leder-Pimp-Outfit) und deren Bärte und Haare im Verlauf der Aufnahmen immer länger und länger werden.

Diesem tristen Look setzt Thom Zimny, der Emmy- und Grammy-Gewinner, nun etwas Optimismus entgegen. So integriert er aktuelle Interviews sowie eine 2009er-Live-Performance aus dem Paramount Theatre in Asbury Park, bei der die Band das komplette DARKNESS-Album performt. Das ergibt einen spannenden Mix aus Alt und Neu, der stilvoll deutlich macht, was aus den verzweifelten Musikern von einst geworden ist: gestandene Familienväter nämlich, die sich ihren Rock’n’Roll-Traum erfüllt haben, oder – wie Organist Danny Federici – längst verstorben sind.

ED NORTONS AUSSETZER
Der Film dauert insgesamt 85 Minuten, und obwohl er durchaus auch einige Längen hat, wird er in Toronto als größte cineastische Sensation des Jahres 2010 gefeiert. Natürlich mit ordentlichem Tamtam. Angefangen mit einer Interview-Session, bei der kein Geringerer als Schauspieler Edward Norton seinen Busenkumpel Bruce verbal auf den Zahn fühlt. Was jedoch eher zur Lachnummer wird. Denn Norton mag ein begnadeter Schauspieler sein („Fight Club“, „American History X“) – als Fragesteller jedoch eignet er sich weniger, da er a) so nervös ist, dass er sich ständig verhaspelt oder komplett den Faden verliert und b) so lang bzw. komplex um den heißen Brei herumredet, dass Springsteen am Ende längst vergessen hat, worauf er eigentlich antworten soll. Und: Das Drama zieht sich letztlich grauenvoll zähe 70 Minuten hin, weil sich scheinbar niemand traut, Norton das Mikro zu entreißen. Springsteen hingegen hat sichtlich Spaß an der absurden Situation und hilft seinem Freund ein ums andere Mal aus der Patsche.

Ein Beispiel: „War da ein Punkt, eine Periode oder eine bestimmte Phase in deinem Leben, an die du dich erinnerst, und in der du dir den bewussten Übergang vom Schreiben eines guten Songs zum Malen auf einer viel größeren Leinwand vorgenommen hast? Nach dem Motto: ,Ich probiere es jetzt mal episch?‘“ Eine Formulierung, über die Bruce minutenlang nachdenken muss, ehe er loslacht und das Ganze mit einem „Ja, dieses Album, über das wir gerade reden, Mann!“ beantwortet. Einfach, weil er genießt, dass etwas nicht perfekt, sondern schlichtweg menschlich ist. Doch für Norton ist es der letzte Auftritt im Rahmen des Film-Festivals. Im weiteren Verlauf des Events wird er nicht mehr gesehen.

DER ROTE TEPPICH
Wenige Stunden später folgt dann eine Veranstaltung, bei der sich The Boss sicherlich genauso unwohl fühlt wie Ed Norton bei dem vorangegangenen Interview: die Weltpremiere von THE PROMISE: THE MAKING OF DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN in der Roy Thompson Hall. Die findet in einem gigantischen Kino statt, das mit Kuppeldecke, Kronleuchter und Plüschsitzen aufwartet und Platz für 1.500 Zuschauer bietet. Die bestehen größtenteils aus Medien-Vertretern, aber auch Hardcore-Springsteen-Fans. Sie dürfen auf der riesigen Leinwand erleben, wie sich Bruce (im Smoking) mit Gattin Patti Scialfa den Weg über den roten Teppich bahnt, von einer Linse in die nächsten lächelt, dabei aber am liebsten die große Flatter machen würde. Doch der Spießrutenlauf ist noch nicht vorbei. Erst muss Manager Jon Landau noch einmal den historischen Kontext und die Intention der Doku erklären, dann bedankt sich Bruce bei allen Beteiligten vor und hinter der Kamera und nimmt schließlich Platz in seiner Loge im ersten Rang. Dort werden er und Patti in den nächsten anderthalb Stunden exakt beobachtet (wahrscheinlich sogar mit dem einen oder anderen Nachtsichtgerät) und wirken dabei, als wären sie auf einem Präsentierteller drapiert und festgeklebt. Denn sie können die Veranstaltung nicht unbemerkt verlassen, sondern müssen bis zur letzten Minute durchhalten.

Was sie als gute Gastgeber natürlich auch tun, sämtlichen Marketingdirektoren ihrer Plattenfirma die Hand schütteln, Glückwünsche entgegennehmen und offenkundig bester Laune sind. Doch wer jetzt denkt: „Hier geht noch was!“, der sieht sich getäuscht. Für eine ausgelassene Aftershow-Party ist der 61-Jährige aus New Jersey einfach der Falsche. Und auch die Gerüchte um ein Gratiskonzert in geheimer Location erweisen sich als Ente. Den Boss zieht es vielmehr auf die Couch seiner Präsidentensuite im Interconti – wo er seine Ruhe hat.

Springsteen_Darkness On The Edge Of Town Story 1 @ Frank StefankoDIE NACHWEHEN
Doch selbst wenn im Grunde wenig passiert ist: Am nächsten Morgen kann ganz Hollywood die Koffer packen. Springsteens Stipp-visite in Southern Ontario ist das einzige Gesprächsthema des Tages, zudem locken die Spekulationen um einen spontanen Live-Gig vor den Toren der „Bell Lightbox“ (dem offiziellen Festival-Gebäude an der King Street) halb Toronto (= 2,5 Millionen Einwohner) auf die Straßen. Sprich: Die Stadt steht Kopf. Dabei ist der Meister längst anderweitig verplant: Er und Patti schleichen sich heimlich in eine geschlossene Veranstaltung. Sie gehen ins „Royal Theatre“ an der College Street, ein altes Programmkino, das seine besten Tage hinter sich hat, aber über eine tolle Akustik verfügt.

In diesem ehrwürdigen Rahmen findet die Präsentation von Springsteens THE PROMISE statt. Die Doppel-CD ist in zwei Varianten erhältlich, einmal als eigenständiges Album, aber auch als Teil des opulenten Boxsets zu Ehren der remasterten Neuauflage von DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN. Darin kommen die Fans neben den beiden Werken auch in den Genuss eines 80-seitiges Booklets, der „Making Of“-Doku sowie von nicht weniger als vier Stunden Live-Material von der 1978er-US-Tournee bzw. der kompletten Asbury-Performance von 2009.

Eine imposante Angelegenheit, die dem grassierenden Boxset-Wahn die vorläufige Krone aufsetzt. Denn das hier ist nicht zu toppen. THE PROMISE beinhaltet nämlich nicht weniger als 21 unveröffentlichte Stücke, die Springsteen im Rahmen der nervenaufreibenden DARKNESS-Sessions verworfen hatte. Und zwar nur aus einem Grund: Sie passten nicht zu dem, was ihm konzeptionell vorschwebte. Nämlich ein Album über das Amerika der Mittsiebziger – ein Land, dessen mystischer Traum nach Vietnam, Watergate und Mineralölkrise merklich verblasst, dessen Bevölkerung existenzielle Ängste und Sorgen hat und dringend ein Sprachrohr braucht. Einen, der auf den Punkt bringt, wie sich die Menschen fühlen und was hier schief läuft. Springsteen übernimmt den Job nur zu gerne. Nicht, um damit zu Ruhm und Geld zu gelangen, sondern um seine eigene Position zu finden – in der Gesellschaft wie in der Musikszene.

Deshalb müssen die Songs die unterschwellige Morbidität der Zeit einfangen, die richtigen Themen behandeln sowie Hoffnung und Zusammenhalt vermitteln. Motto: „Hier ist jemand, der zu euch hält.“ Springsteen, der Menschenversteher, der Freund und Helfer. Ein Retter im Unterhemd, der keinen Bedarf hat an Pop-Songs wie ›Because The Night‹, altmodischem Rock’n’Roll wie ›Fire‹, Soul, R&B und Balladen oder gar verklärter Kleinstadtromantik. All das wandert ins Archiv und gerät in Vergessenheit – bis schließlich Bonus-Material für die DARKNESS-Neuauflage gesucht wird und jemand auf diese Aufnahmen stößt, die weit mehr sind als nur Demos und Outtakes. THE PROMISE ist nicht weniger als ein vollwertiges Springsteen-Album, das auch direkt nach BORN TO RUN hätte erscheinen können – wenn Bruce es damals gekonnt bzw. gewollt hätte. Genau diese Werk stellt Springsteens Manager Jon Landau nun vor 50 geladenen Gästen im „Royal Theatre“ vor, während der Boss unbemerkt in der hintersten Sitz-reihe kauert und das Hörerlebnis genauso genießt wie alle anderen.

Springsteen_Darkness On The Edge Of Town Story 3 @ Frank StefankoPASTA MIT BRUCE
Erkannt wird er erst auf dem Weg nach draußen – und prompt umlagert. Autogramme, ein paar kurze Statements, ein Foto fürs Handy und so weiter. Der Boss lässt alles geduldig über sich ergehen, bis Landau einschreitet und eine handverlesene Schar aus Label-CEOs und Journalisten (unter anderem die Chefredakteure von Mojo, Q und dem US-Rolling Stone) zum Italiener nebenan eskortiert. In dem kleinen Familienrestaurant namens „Marinella“ überschlägt sich der Besitzer fast vor Begeisterung, führt mit wilden Gesten an lange Holztafeln mit traditionellen Vorspeisen und selbstgebackenem Brot und erleidet beim Eintreffen von Springsteen fast einen Herzinfarkt.

Was folgt, ist eine Lehrstunde in Sachen Promotion alter Schule: keine unpersönliche Pressekonferenz, kein Interview-Marathon, kein oberflächlicher Smalltalk unter den Argusaugen von Bodyguards, sondern ein Star beim Tischgespräch mit Gattin, der immer wieder neue Gesichter an seine Tafel bittet, mit ihnen Kalbsschnitzel Mailänder Art und Tiramisu teilt und über Gott und die Welt sinniert. Zwar ohne Mikrofone und Aufnahmegeräte, aber mit einer Lockerheit und vor allem mit einem Redefluss, den man ihm nie zugetraut hätte. Mehr noch: Springsteen ist unterhaltsam, witzig und tischt eine Anekdote nach der anderen auf.

Als CLASSIC ROCK ihm gegenüber Platz nehmen darf, mit einem kräftigen Händedruck und einem charmanten Küsschen von der Gattin begrüßt wird, ist er bei einem Thema, an dem er so richtig Spaß hat: sein Spargeltarzan-Look in der „Making Of Doku“, angeheizt von Pattis Kommentaren der Marke „Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob er nur das eine Unterhemd hat“. Bruce lacht lauthals und berichtet zudem von den Reaktionen seiner Stammhalter: „Evan und Sam haben sich das angesehen und danach gemeint, dass ich einfach nur peinlich rüberkommen würde. Doch in Wahrheit habe ich damals genauso ausgesehen wie sie heute. Und ich glaube, das hat ihnen ein bisschen Angst gemacht – denn sie sind ihrem Dad wie aus dem Gesicht geschnitten. Und welches Kind will schon wie seine Eltern sein? Das ist fast so schlimm, wie mitzuerleben, dass Papa und Mama von einer riesigen Menschenmenge beklatscht werden, wo sie doch eigentlich ausgebuht gehören. Und deswegen haben wir die Kids auch nie gezwungen, zu unseren Konzerten zu kommen. Das wäre nicht gut für ihre Psyche.“

Amüsante Einsichten, die er mit einem kräftigen Schluck Rotwein runterspült, nur um gleich zur nächsten Geschichte überzugehen. Diesmal zum Punk Rock, der ihn – das gibt er offen zu – in der DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN-Phase stärker inspiriert hat als gemeinhin angenommen. „Natürlich habe ich mitbekommen, was in England abging. Und ich fand Bands wie die Sex Pistols oder The Clash immer toll. Insbesondere ihre bissigen Texte und die unbändige Energie ihrer Performance – das hatte etwas Ansteckendes. Und ihre Songs handelten von Sachen, die relevant und wichtig waren, weil sie die Leute auf der Straße beschäftigten. Und auch wenn ich mit der Mode so gar nichts anfangen konnte, fand ich das doch sehr inspirierend. Ein paar Jahre später habe ich übrigens Joe Strummer in einer Bar in Los Angeles getroffen – zum ersten und leider auch letzten Mal. Er kam direkt auf mich zu, verzog keine Miene, und ich dachte schon: ,Jetzt kriege ich was auf die Nase!‘ – wofür auch immer. Doch was ist passiert? Joe wollte ein Autogramm von mir und hat mich zu einem Drink eingeladen. Ich war echt gerührt.“
So geht das fast 30 Minuten. Springsteen sinniert über die politische Misere in seiner Heimat, nennt Obama eine „rare Ausnahmeerscheinung, die es zu unterstützen gilt“, erweist sich als Kenner der aktuellen Musikszene, der für The Gaslight Anthem, die Kings Of Leon und Mumford & Sons schwärmt, sowie sich über seinen eigenen Status als „Elder Statesman“ des Rock amüsiert. „Es lässt sich nicht länger verheimlichen: Der Rock’n’Roll wird alt, Mann. Nur: Den neuen Dylan haben sie bislang nicht gefunden – dabei suchen sie ihn seit Anfang der Siebziger, als Bob noch jung und knackig war. Das zeigt doch, wie verrückt dieses Geschäft ist. Und dass sich echte Charaktere nicht so einfach ersetzen lassen.“

DER INNERE ZIRKEL
Wobei sich im Falle von Bruce nur sagen lässt: Gott sei Dank! Denn der Rocker nimmt sich für dieses Mittagessen geschlagene drei Stunden Zeit, macht vor keinem Thema („Die USA müssen aus Afghanistan und Irak abziehen“) und keiner noch so privaten Frage halt („Ich glaube nicht, dass meine Kinder Rockmusiker werden – sie gehen schließlich auf Elite-Unis“) und hat dabei genauso viel Spaß wie alle Anwesenden. Die dunklen Zeiten von früher sind endgültig vorbei. Die Situation ist unkompliziert und entspannt, alles wird mit viel Wein begossen und endet letztlich in einem Meer aus Umarmungen und Danksagungen. Und selbst der Patrone darf zum Schluss noch ein Erinnerungsfoto mit dem Star schießen, das nun wohl längst zwischen Danny DeVito und Wayne Gretzky hängt. Bruce jedoch nimmt gleich den nächsten Privatflieger nach Hause – während Toronto weiter von einem Gratiskonzert seines neuen Film-Festival-Lieblings träumt. Vielleicht bei der nächsten Doku. Obwohl das ein Problem werden dürfte: „Noch mehr Material gibt es nicht. Jedenfalls weiß ich nichts davon“, so Landau, der noch einen Nachschlag mit dem Boss verspricht. Allerdings nur für einen exklusiven Zirkel an Medienvertretern, mit denen Bruce seit Jahren „per Du“ ist. CLASSIC ROCK hat seine Bewerbungsunterlagen ein-gereicht und wartet auf eine entsprechende Berufung. Denn: Das nächste Springsteen-Album kommt bestimmt.

Marcel Anders


Springsteen_Darkness On The Edge Of Town Box 1Ein Boss hält sein Versprechen – mit 21 Archivsongs im Paket mit LP-Meilenstein sowie Konzert­mitschnitten und Studioimpressionen auf DVD.

Seinen unzweideutigen Ruf als grundehrliche Haut, Stimme des amerikanischen Volks und pathosfreier Komponist hat sich Bruce Springsteen im Laufe von rund vier Dekaden mit rustikalen Hymnen, vor allem aber Konzerten erspielt, die zu Glanzzeiten locker die Drei-Stunden-Grenze überschritten. An diesen Superlativen seines jüngeren Ichs muss sich die 61 Jahre alte, aber unglaublich agile Rock-Ikone heute noch messen lassen. Hoch liegt die Messlatte auch, wenn der „Boss“ verstaubte Archive sichtet, um Populäres und Bekanntes, aber auch lange Zeit Verschollenes zu Tage zu fördern. Doch mit THE PROMISE: THE DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN STORY erfüllen Springsteen und die E Street Band die Erwartungen locker. Nicht Kleckern, sondern Klotzen lautet gar die Devise – zumindest in der spektakulär verpackten LIMITED EDITION DELUXE COLLECTION mit drei CDs und drei DVDs in einem verblüffend authentisch gestalteten 80-seitigen Notizbuch, das Faksimiles von Originalen und nie zuvor gesehene Fotos enthält. Der 1978 mit einiger Verspätung erschienene LP-Klassiker DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN mit Konzert-Favoriten wie ›Badlands‹, ›Adam Raised A Cain‹, ›Streets Of Fire‹ und ›Darkness On The Edge Of Town‹ ist frisch digital optimiert worden. Pures Entzücken jedoch lösen insbesondere die zum großen Teil unveröffentlicht gebliebenen 21 Tracks aus, die damals nicht den Weg aufs fertige Produkt fanden. Sie sind keine Wegwerfware, sondern verlorenen gegangene Perlen. Songs wie ›Outside Looking In‹, ›Wrong Side Of The Street‹, ›The Brokenhearted‹, ›Ain’t Good Enough For You‹, ›The Little Things (My Baby Does)‹, ›Breakaway‹ und ›The Promise‹ zeigen einen Springsteen, der kreativ auf Hochtouren läuft. Zweifellos würde THE PROMISE, das Springsteens Eindrücke nach dem internationalen Erfolg von BORN TO RUN ebenso thematisiert wie die Auseinandersetzung mit Ex-Manager Mike Appel, heutzutage als Klassiker gelten, wäre es seinerzeit erschienen. Springsteen konnte es sich gar leisten, ›Because The Night‹ Co-Autorin Patti Smith zu überlassen. An die Greg Kihn Band ging ›Rendezvous‹, Gary U.S. Bonds erhielt ›This Little Girl‹, Robert Godon und The Pointer Sisters teilten sich ›Fire‹, und Southside Johnny & The Asbury Jukes erfreuten sich an ›Talk To Me‹. Ergänzt wird die Song-Sammlung durch rund sechs Stunden Filmmaterial: Das Optimum in der Kollektion ist die anderhalbstündi-ge Doku „The Promise: The Making Of The Darkness On The Edge Of Town“ von Regisseur Thom Zimny. Sie enthält nie gezeigte Studioszenen der E Street Band aus den Jahren von 1976 bis 1978. Aus jener Periode stammen auch zahllose US-Konzertmitschnitte unter dem Titel „Thrill Mill Vault“. Auf derselben DVD befindet sich auch eine 2009 im Paramount Theatre, Ashbury Park, aufgezeichnete Aufführung sämtlicher Songs von DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN. Ebenfalls komplett enthalten: ein rund dreistündiges Konzertgastspiel von 1978 im texanischen Houston. Alles in allem ein üppiges, aber dennoch bekömmliches Festtagsmahl in besinnlicher Vorweihnachtszeit – nicht nur für eingefleischte Fans von Springsteen.

Michael Köhler

Der Schattenmann

Ohne Manager Jon Landau, der ihm seit knapp vier Dekaden mit Rat und Tat zur Seite steht,
wäre Bruce Springsteen wohl nie über den Status des Provinzrockers hinausgekommen. Doch wer ist der 63-Jährige, der so viel Einfluss und Stehvermögen hat? CLASSIC ROCK macht sich auf den Weg nach New York und trifft einen gemütlichen, älteren Herrn, der längst sein eigener Mythos ist.

Zum vereinbarten CLASSIC ROCK-Termin im Sony-HQ an der Madison Avenue ist er vor allem eines: zu spät. Und zwar geschlagene drei Stunden. Nicht, weil er ein unzuverlässiger Mensch wäre oder weil er den Besuch aus Deutschland nicht ernst nehmen würde, sondern weil ihm der New Yorker Stadtverkehr einen Strich durch den Terminplan macht – und er zunächst zu einem Meeting mit dem Designer des vor wenigen Tagen veröffentlichten Boxsets THE PROMISE: THE DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN STORY muss, der ihm erste Testversionen des aufwändigen Artworks vorlegt. Natürlich bei gutem Essen und teurem Wein, denn Landau ist ein Genussmensch: korpulent, mit lichtem Scheitel, feiner Brille, unbändigem Redefluss und herzhaftem Lachen. Einer, der gerne Anekdoten erzählt, aber auch mit (falschen) Legenden aufräumt und sehr direkt auf den Punkt kommt. Und der über ein riesiges musikalisches Wissen verfügt. Sei es, weil er mal Kritiker in Diensten des Magazins Rolling Stone war, zig Alben für Springsteen, aber auch Jackson Browne (THE PRETENDER) produzieren durfte, neben Bruce noch Shania Twain, Natalie Merchant oder die berüchtigten MC5 betreut hat und nicht zuletzt als Vorsitzender des Hall Of Fame-Komitees agiert. All die Posten stehen für Erfahrung, Einfluss und Macht – aber auch für die Fähigkeit, unangenehme Situationen mit stoischer Gelassenheit zu meistern. Etwa, wenn er mitten in seinen Ausführungen von nervigem Handyklingeln unterbrochen wird – und antworten muss, weil es sich um seinen Brötchengeber handelt. „Hi Boss! Ich rede gerade mit diesem Journalisten aus Deutschland. Ich versuche, unsere Platte zu hypen, aber er mag sie nicht und nimmt mich ins Kreuzfeuer. Es ist wirklich schwer, dich zu verteidigen.“ Es folgt ein herzhaftes Lachen – auf beiden Seiten. Und die Pointe: „Er sagt: ,Beim nächsten Mal machen wir es besser.‘ Ist das okay? Gut. Kann ich in einer halben Stunde zurückrufen? Prima…“ Womit die Uhr tickt, denn seinen Goldesel lässt niemand warten, nicht mal der heimliche Boss vom Boss.

Jon, 1974 hast du einen Artikel im Studentenmagazin „The Real Paper“ veröffentlicht, in dem du Bruce als die Zukunft des Rock’n’Roll preist…
Stimmt. Und ich werde bis heute danach gefragt. 36 Jahre später! (lacht)

Wobei du dich eines Zitats von Lincoln Steffens über die russische Oktober-Revolution bedient hast, oder?
Durchschaut! Lincoln war ein berühmter US-Journalist, der aus Moskau berichtet hat. Und er schrieb: „Ich habe die Zukunft gesehen, und sie passiert hier in Russland.“ Damit hat er falsch gelegen – ich hingegen hatte recht.

Wie hast du es geschafft, aus einem recht erfolglosen Künstler eine derartige Ikone zu machen?
Bruce tut immer das, was er will – und nichts anderes. Was nicht heißt, dass ich keinen Einfluss auf seine Entscheidungen hätte. Aber letztendlich trifft er sie. Doch er hatte damals, als ich BORN TO RUN als Co-Produzent betreut durfte, ein offenes Ohr für meine Ideen und Vorschläge. Daraus ergab sich schließlich alles Weitere. Ich schätze, wir sind einfach ein gutes Team.

Das seit 36 Jahren zusammenarbeitet – selten in dieser Branche…
Definitiv. Doch es in Sachen Künstlerbetreuung unterschiedliche Modelle. So kommt es vor, dass mehrere Manager eine große Firma gründen und mit ihr viele Musiker auf einmal betreuen. Ich hingegen konzentriere mich primär auf Bruce, selbst wenn ich im Laufe der Zeit auch mit einigen anderen Künstlern gear­beitet habe. Und er ist nun mal jemand, der es mag, persönliche Beziehungen aufzubauen und diese dann über längere Zeit zu pflegen. Sprich: Er ist niemand, der morgens aufwacht und sich sagt: ,Okay, ich muss jetzt mal dringend etwas verändern.‘ Bruce liebt es, sich mit Leuten zu umgeben, die er kennt und denen er vertraut. Und er weiß, dass er das bei mir kann.

Selbst wenn du ihn 1977 nicht davon abgehalten hast, mit ›Because The Night‹ und ›Fire‹ gleich zwei Welthits zu verschenken – nämlich an Patti Smith und die Pointer Sisters?
Oh Gott, was soll ich dazu sagen? (lacht) Der größte Streitpunkt zwischen Bruce und mir war immer die Auswahl der Stücke für ein Album. Und wenn er für sich einmal entschieden hat, dass ihm et-was nicht gefällt oder etwas nicht passt, dann trennt er sich einfach davon. Auch ›Because The Night‹ schaffte es nie in den engeren Kreis der Kandidaten für ein Album – obwohl wir wussten, dass der Song ein Hit war. Aber Bruce wollte ihn nicht und gab das Stück stattdessen an Patti Smith weiter. Sie hat wirklich toll dazu gesungen. Es war ein interessanter Moment, als ich ihre Version zum ersten Mal im Radio hörte. Ich dachte nur: ,Oh Mann, hätten wir es doch selbst gemacht!‘ Aber zumindest ging das Lied an eine wunderbare Person. Und mit ›Fire‹ war es dasselbe.

Nun ist mit THE PROMISE: THE DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN STORY ein Album erschienen, das an eine Phase erinnert, in der es um die Karriere von Bruce nicht wirklich gut stand. Er verkaufte kaum Alben, lag im Rechtsstreit mit seinem Ex-Manager und verbrachte fast ein Jahr im Studio. Wie denkst du heute über diese Zeit?
Meine erste Reaktion nach der Premiere der Doku zu THE PROMISE (beim Toronto Film-Festival im September 2010 – Anm.d.Red.) war eine Diät. Ich kam mir im Vergleich zu damals nämlich plötzlich unglaublich dick vor. Andererseits bin ich natürlich auch unheimlich stolz, Teil dieser Geschichte zu sein und den Leuten da draußen eine Vorstellung davon zu vermitteln, worum es uns Ende der Siebziger mit DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN überhaupt ging. Deshalb unterscheidet sich diese Doku auch deutlich von all diesen Filmen, die normalerweise unter dem Motto „Making Of“ laufen. Da ist dann immer jemand, der darüber redet, wie viele Preise eine Platte gewonnen hat oder wie viele Stückzahlen von ihr verkauft worden sind. Es geht nur um den kommerziellen Aspekt. Wir dagegen haben einen Film über ein Album gedreht, das nicht besonders erfolgreich war, keine Auszeichnungen erhalten hat und von den meisten Fans auch nicht euphorisch aufgenommen wurde. Klar, ein paar Leute fanden es toll, aber ganz generell betrachtet enthielt die Scheibe keine Hits – die hatten wir ja alle verschenkt! Denn uns ging es zu diesem Zeitpunkt nicht um Geld und Ruhm, sondern oberste Priorität war: „Lasst uns toll sein! Denn dann passieren auch andere gute Dinge.“

Wobei Bruce und die Band offenbar bis an ihre Grenzen gegangen sind. Jeder, der im Film auftaucht, wirkt unglaublich müde und erschöpft.
Das sieht nicht nur so aus! (lacht) Es war die Hölle auf Erden!

Und trotzdem hat niemand die Brocken hingeworfen?
Den Teil zeigen wir nicht! (lacht) Nein, wir wollten das, was wir da angefangen hatten, irgendwie beenden – und zwar so gut wie möglich. Deshalb sagt Steve Van Zandt ja auch im Film: „Wir haben unser normales Leben aufgegeben, um dieses Album zu machen.“ Und das trifft es: DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN hat uns voll in Beschlag genommen – wir waren wie auf einem Kreuzzug.

Die 21 nicht veröffentlichten Songs der damaligen Sessions, die jetzt Teil des Boxsets bzw. der Doppel-CD THE PROMISE sind, wirken wie das fröhliche Gegenstück zu DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN – weil ihnen die unterschwellige Morbidität fehlt.
Stimmt. THE PROMISE ist poppiger als die meisten Alben von Bruce. Und es enthält viele Nummern, die wie Singles klingen. Zwar vielleicht nicht wie Singles, wie man sie im Jahr 2010 veröffentlichen würde, aber perfekt für die damalige Zeit. Und sie weisen Einflüsse auf, von denen die Spring­steen-Fans gar nicht wussten. Springsteen bezieht sich eben nicht nur auf Phil Spector und die Ronettes, sondern auch auf die Beach Boys – ›Someday We’ll Be Together‹ zeigt das deutlich. Da das Material so lange im Archiv lag, hatten wir das schon völlig vergessen. Daher war es auch für Bruce eine riesige Überraschung, als er sich die Aufnahmen das erste Mal wieder anhörte. Die Tapes enthielten nämlich jede Menge guter Stücke, die zum Teil noch gar nicht fertig waren, weil Text-Passagen fehlten oder eine Gitarren- oder Bass-Spur nicht eingespielt worden war. Bruce hat sie dann mit unserem Techniker Toby Scott überarbeitet. Deshalb ist THE PROMISE für ihn auch ein „richtiges“ Album. Und meiner Meinung nach füllt es perfekt die musikalische Lücke der drei Jahre zwischen BORN TO RUN und DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN.

Ist die 2010er-Neuauflage von DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN auch deshalb so opulent ausgefallen, weil das Album trotz des ursprünglichen kommerziellen Misserfolgs ein so wichtiges Album für Springsteens Karriere war?
Verhältnismäßig geringe Verkaufszahlen sagen ja nichts über die generelle Qualität der Musik aus. Bruce bringt nicht ohne Grund bis heute bei jedem Konzert vier bis fünf Stücke aus diesem Album. Also mehr als von BORN IN THE USA, der erfolgreichsten Platte, die wir je gemacht haben. Deshalb sind wir diese Wiederveröffentlichung so angegangen. Sie stellt etwas Besonderes dar, denn die Leute bekommen wirklich etwas für ihr Geld.

Wenn du das Ganze als vollwertiges Album betrachtest und so stolz darauf bist – wird es auch eine Tournee dazu geben?
Momentan gibt es keine Pläne. Das ist alles, was ich dazu sagen kann. Außer, dass es unwahrscheinlich ist, denn er arbeitet schon wieder an neuen Songs.

Demnach existiert auch kein Rentenplan für euch beide?
Oh, ich wollte eigentlich mit 60 in Rente gehen. Aber das ist schon so lange her, dass ich den Gedanken längst verdrängt habe. Und mir ist auch nicht zu Ohren gekommen, dass Bruce diesen Plan verfolgen würde. Also werden wir wohl so weiterarbeiten wie bisher. Und ich muss sagen, dass ich sehr dankbar bin für das anhaltende Interesse an dem, was wir da tun. Es ist wunderbar.

 

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