Man muss ja nicht drum herum reden: Der Listen-Wahn greift um sich. Wer die 100 fluffigsten Reggae-Songs für einen Dienstagvormittag am Strand sucht, der wird mit Sicherheit irgendwo fündig. Denn Fachzeitschriften kompilieren, was das Zeug hält, und das Internet ist ohnehin voll von Bestenlisten – mit gemeinhin eher zweifelhaftem Erkenntniswert.
CLASSIC ROCK mischt jetzt also auch mit. Machen wir! Aber wir küren nicht einfach nur die 100 besten Gitarristen aller Zeiten, wir lassen küren. Denn unseren britischen Redaktionskollegen gelang ein außerordentlicher Coup: Großmeister wie Angus Young und Kirk Hammett, wie David Gilmour, Slash, Neil Young und Ted Nugent klären darüber auf, welche Saitenkünstler sie am meisten bewundern. Und warum.
Mit teilweise überraschenden Ergebnissen. Dass etwa Jimmy Page, einst eifriger Schüler der Folk-Virtuosen Bert Jansch und John Renbourn, ausgerechnet Jack White ausgewählt hat, verblüfft ebenso wie Glam-Metaller Jay Jay Frenchs Vorliebe für den früh vollendeten Blueser Mike Bloomfield und Tony Iommis Begeisterung für die Jazz-Ikone Django Reinhardt. Was darüber hinaus auffällt: Die hoch virtuose Schneller-höher-weiter-Fraktion, von Nachwuchsmusikern meist deutlich favorisiert, steht bei unseren gestandenen Profis nicht gar so hoch im Kurs. Verwunderlich ist das allerdings nicht: Wer sein Geld mit Gitarrespielen verdient, der weiß, dass Musikmachen eben doch mehr ist, als in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Noten zu spielen. Wer sportlichen Konkurrenzkampf sucht, der soll mit Gleichgesinnten um die Wette laufen. Mit künstlerischem Ausdruck hat das dann aber eher wenig zu tun. Ohne ins allzu Pathetische abzudriften, lässt sich also eines konstatieren: Die Juroren warfen ihre ganze Erfahrung in die Waagschale und haben mit dem Herzen gesprochen.
Und das schlägt bei einigen noch immer für einen Gitarristen, der mehr Jahre tot ist, als er einst auf Erden wandelte: James Marshall Hendrix. Als Neuerer war der Mann aus Seattle ja auch kaum zu schlagen: Als die Konkurrenz noch brav über 30-Watt-Kofferverstärker klampfte, entfesselte Jimi mit seinen Marshall-Türmen das Bluesrock-Inferno schlechthin, Feedback und Divebombs inklusive. Sehr beeindruckend. Doch wichtiger noch als die technischen Begleitumstände: Der Musiker Hendrix hatte etwas zu sagen. Und das ist eben durch nichts zu ersetzen.
VOODOO CHILD
JIMI HENDRIX
Von Joe Satriani
Ich war eigentlich ein angehender Drummer, als ich die Stones und die Beatles in der „Ed Sullivan Show“ sah; George Harrison muss wohl der Anlass gewesen sein, dass ich das Drumkit gegen eine Gitarre tauschte. Aber erst als ich später im Radio ›The Wind Cries Mary‹ hörte, brachen alle Dämme. Was Hendrix auszeichnet, ist die Wahl der Noten. Das mag wie eine Binsenwahrheit klingen, ist aber elementar wichtig. Immer wenn ich seine Musik höre, habe ich den Eindruck, dass er gerade zum ersten Mal eine Gitarre in die Hand nimmt – dann aber in Bruchteilen einer Sekunde sein ganzes Potenzial ausschöpft. Wenn man ›Machine Gun‹ von LIVE AT THE FILLMORE hört, hat man nicht die leiseste Ahnung, was in den nächsten Minuten passieren wird. Bei ›Voodoo Chile‹ mag man nicht glauben, wie perfekt die Nummer umgesetzt wird, obwohl sie eigentlich ein banaler Blues in E ist. Auf ›1983‹ klingt er nicht mal wie er selbst; es ist mir noch immer ein Rätsel, was da abläuft. Er morpht sich selbst in den Song, das ist entscheidend – und das ist es, was die großen Gitarristen auszeichnet. Nach seinem Tod waren die 70er Jahre leider eine Durststrecke für viele großartigen Player. Eine Ausnahme ist Jeff Beck, der einfach besser und besser wurde. Ich sah ihn im letzten Jahr in Oakland und war den Tränen nahe, als ich ihn von der Seite der Bühne beobachtete. Als Gitarrist möchte man natürlich das aus sich heraus-holen, was in einem steckt. Und dazu gehört auch, dass man all die großartigen Gitarristen, die man bisher gehört hat, in irgendeiner Form zitiert – ohne sie oberflächlich zu kopieren. Wenn ich spiele, sitzen all meine Heroen auf meiner Schulter.
JAM-KORYPHÄE
JIMMY HERRING
Von Alex Skolnick
Der Name Jimmy Herring mag vielen nicht vertraut sein, aber die Bands, in denen er spielte, sind allen ein Begriff: Allman Brothers und Grateful Dead, dazu noch Whitespread Panic und – an der Seite von Billy Cobham – Jazz Is Dead. Er gilt in der Jam-Band-Szene als Koryphäe – was etwas verwunderlich ist, da er stilistisch eigentlich eher vom Jazz beeinflusst ist.
Jimmy hatte darüberhinaus seine eigene Band namens Aquarium Rescue Unit, die für jeden, der einmal in einer Band gejammt hat, das Maß aller Dinge ist. Doch obwohl Leute wie die Dave Matthews Band und Bruce Hornby sie mit auf Tour nahmen und ihr Label anflehten, sie unter Vertrag zu nehmen, bekamen sie nie einen vernünftigen Deal und lösten sich 1997 auf.
Wie man vielleicht schon ahnen kann: Jimmy ist ein unglaublicher Gitarrist. Er hat das Bluesgespür von Warren Haynes (Gov’t Mule) oder Johnny Winter und das Vokabular eines Jazzers wie John Schofield, hinzukommt noch eine Prise von Steve Morse. Wer neugierig ist, sollte sich das Aquarium Rescue Unit-Album MIRRORS OF EMBARASSMENT aus dem Jahr 1993 besorgen. Danach werdet ihr euch fassungslos fragen, warum ihr von diesem Mann bisher noch nie gehört habt!