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PJ Harvey – Krieg den Palästen

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PJ Harvey 2010 (3)_rasterVon wegen Schöngeist, Romantikerin und Poetin: Auf ihrem neuen Werk LET ENGLAND SHAKE zieht Polly Jean Harvey in den Krieg – gegen ein Land, das nur noch ein Schatten seiner Selbst ist, von korrupten Politikern beherrscht wird und eine Geschichte aus Blut, Schweiß und Tränen aufweist. CLASSIC ROCK stellte die radikalisierte Musikerin zur Rede.

Polly, bislang hast du dich in deinen Texten eher mit dir selbst befasst. Jetzt wendest du dich plötzlich weltlichen, politischen Themen zu. Wie kommt’s?
Weil ich das Gefühl hatte, dass es für mich als Songwriterin höchste Zeit ist, Themen wie Krieg oder Politik anzugehen. Dinge, bei denen ich bisher dachte, ich hätte nicht die Fähigkeit, sie in Songs zu verpacken. Denn das richtig hinzukriegen, ist eine heikle Balance. Und ich habe erst jetzt das nötige Selbstbewusstsein: eben weil ich seit 20 Jahren Stücke schreibe und merke, dass ich beim Einsatz der Sprache immer besser werde.

Wenn du dir das moderne England anschaust, was siehst oder fühlst du?
Ich denke, meine Gefühle zu England sind ähnlich wie die, die viele Leute im Hinblick auf ihre Heimat haben. Damit meine ich, dass wir alle bestimmte Dinge lieben und hassen. Und es eine überaus schmerzhafte Erfahrung sein kann, mitzuerleben, was dort und in der Welt passiert – in allen Bereichen.

Sprich: Worum geht es dir konkret?
Als Songwriter ist es das Wichtigste, etwas zu präsentieren und damit die Fantasien der Menschen zu beflügeln. Dabei ist es eigentlich egal, was ich denke, und gegen wen sich meine Kritik richtet. Viel entscheidender ist es, Ideen vorzulegen, die relevant sind, und das auch mal auf ironische Art und Weise zu tun, wodurch sie eine ganz andere Bedeutung gewinnen. Ansonsten überlasse ich es dem Hörer, daraus zu machen, was er will.

Während du den Zusammenhang von Macht, Krieg und Tod betonst?
Keine Frage. England wurde auf dem Blut seiner Bewohner errichtet – und nicht auf der Nettigkeit und Weitsicht seiner Herrscher.

In den Stücken greifst du eine Reihe von historischen Kriegsschauplätzen auf – etwa die alliierte Invasion auf die türkische Halbinsel Gallipoli von 1915. Was hat es mit dieser speziellen Schlacht auf sich?
Das Album besteht aus vielen kleinen Reisen und führt durch viele verschiedene Gebiete. Wobei ich mich nicht auf den ersten Weltkrieg be-schränke. Sondern es bewegt sich weiter bis zur Gegenwart – bis zum Krieg im Irak. Und es führt an Orte wie Afghanistan oder Russland. Wobei sich ›On Battleship Hill‹ auf Gallipoli und den Ersten Weltkrieg bezieht. Denn mir ging es darum, die Zeitlosigkeit des Kriegs darzustellen und wie er sich ständig wiederholt. Also, dass wir uns als Menschen in einem Kreis aus Streit und Versöhnung befinden. Dass bei allem, was passiert, auch immer ein Wechsel und ein Heilungsprozess stattfinden.

Wobei Soldaten Täter oder Opfer sind?
Ich denke, jeder sollte dazu eine individuelle Meinung haben. Aber es ist natürlich wichtig, eine mentale Saat auszulegen – damit sie bei den Leuten bestimmte Gedanken oder Reaktionen auslöst. Denn wir sollten nie die Hoffnung aufgeben, dass die Welt vielleicht doch noch ein fairer Ort wird. Das ist alles, was man tun kann. Nämlich an Dinge glauben, die einem wichtig sind, zu ihnen stehen und versuchen, jeden Tag die bestmögliche Person zu sein, die man sein kann.

Vom Persönlichen zum Allgemeinen, vom Kleinen zum Großen?
Daran glaube ich. Eben, dass Veränderungen in deinem täglichen Leben beginnen – und bei der Art, wie du andere Leute behandelst. Das hat direkte Auswirkungen auf alles in deiner Umgebung. Es löst eine Lawine aus. Und die brauchen wir. Denn es ist wirklich so, dass wir in merkwürdigen Zeiten leben. Ich meine, der Zugang zur Macht verschiebt sich ständig. Und es passiert jeden Tag etwas Neues, Aufregendes. Etwas, das es in dieser Form noch nicht gegeben hat.

Wie die skurrile WikiLeaks-Geschichte, bei der geheime Daten an die Weltöffentlichkeit gelangen – und dem Seitenbetreiber alles Mögliche angehängt wird, um ihn ruhig zu stellen?
Richtig. Und ich verfolge das sehr genau. Denn diese Geschichte, die sich da vor unseren Augen eröffnet, ist wirklich wahnsinnig aufregend.

Du hast den Titelsong des Albums bei einer BBC-Sendung präsentiert, bei der auch der damalige Premier Gordon Brown Gast war.
Das war wunderbar. Andrew Marr ist ein bedeutender politischer Journalist. Er hat sonntags eine eigene Fernsehshow, die von Millionen Menschen gesehen wird. Und er hat mich eingeladen, darin aufzutreten. Also in derselben Sendung, in der Gordon Brown interviewt wurde. Was unfassbar war. Einer der absoluten Höhepunkte meiner Karriere – eben ›Let England Shake‹ direkt vor ihm zu performen, der damals noch unser Premierminister war. Und das eine Woche vor den Wahlen.

Demnach bist du für seine Abwahl mitverantwortlich?
Das würde ich natürlich gerne von mir behaupten. (lacht) Aber ich habe ihn bei der Gelegenheit ja nicht mal getroffen. Es war jede Menge Security im Studio, und uns wurde gesagt, dass wir uns von ihm fernzuhalten haben. Was schade war. Hätte mich interessiert, was er über den Song denkt.

Woran arbeitest du, wenn du nicht komponierst bzw. live auftrittst?
An einem Projekt mit Seamus Murphy, einem sehr interessanten Fotografen. Wir drehen Kurzfilme zu jedem Song des Albums. Und ich werde in den nächsten Wochen einen Dokumentarfilm zusammenstellen, der hoffentlich vor der Tournee erscheint. Nämlich eine Reise durch England und durch die Songs. Also praktisch eine visuelle Ergänzung zur Musik.

Darf man fragen, was PJ Harvey privat hört?
Ich habe schon lange keine neue Musik mehr gekauft. Außer Sampler mit traditionellem Folk aus Aserbaidschan, China und Kambodscha. Aber ganz allgemein tendiere ich dazu, ältere Musik zu hören – weil es nicht viele Sachen von zeitgemäßen Künstlern gibt, die ich mag.

Wie kommt man an Musik aus Aserbaidschan?
Durch Recherche und das Studieren von traditionellen Folk-Texten. Das sind Dinge, die mich als Songwriter interessieren – einschließlich der Geschichte dieser Songs.

Marcel Anders

Hurtsmile

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Die momentane Pause bei Extreme nutzt Sänger Gary Cherone, um gemeinsame Sache mit seinem engsten Blutsverwandten zu machen.

„Letztlich war es nur eine Frage der Zeit, bis ich etwas zusammen mit meinem Bruder Mark auf die Beine stellen würde“, erklärt Gary Cherone, Frontmann der seit 2004 reaktivierten US-Rockband Extreme. Es ist die Vorgeschichte der Newcomer Hurt­smile, deren gleichnamiges Debütalbum seit Ende Januar in den Läden steht. Mark Cherone wirkte be­reits partiell bei Tribe Of Judah mit, einer Gruppe, die Bruder Gary im Jahr 2001 während der Extreme-freien Zeit formiert hatte. Ab 2007 nahmen Hurtsmile dann erste konkrete Konturen an. „Ich musste unsere Pläne aber wegen des Ex­treme-Comebacks zunächst ein wenig hinten anstellen, aber als Nuno (Bettencourt, Gitarrist von Extreme – Anm.d.A.) nach unserem aktuellen Album SAUDADES DE ROCK (2008) und den Konzerten mit Rihanna touren konnte, griff ich Hurtsmile sofort wieder auf.“

Zusammen mit Freunden, mit denen die Cherone-Brüder schon in der Vergangenheit gelegentlich gejammt hatten, entstand eine neue Gruppe, die stilistisch nicht allzu weit von Extreme entfernt ist und in punkto Gitarrendominanz, Gesangsharmonien und kompositorischer Vielfalt durchaus ähnliche Züge trägt. „In einer Band hängt alles von der Art der Zusammenarbeit ab“, sagt Gary Cherone, der Ende der Neunziger kurzzeitig (und auch relativ erfolglos) Sänger von Van Halen war, „deswegen entstehen allein schon durch die andersgeartete Besetzung klangliche Unterschiede zu Extreme. Insgesamt sind Hurtsmile etwas rauer als Extreme.”

Vermutlich auch deshalb gibt es keinerlei Animositäten oder Eifersüchteleien zwischen Cherones beiden Bands, ganz im Gegenteil: „Nuno hat uns immer unterstützt und sich auch absolut positiv über das geäußert, was er bislang gehört hat. Und Pat und Figg (Pat Badger, Bass; Kevin Figueiredo, Schlagzeug – Anm.d.A.) waren sogar im Studio zu Gast, als wir das Album aufnahmen. Sie alle stehen total auf die Hurt­smile-Songs.“

Cherone ist also mächtig stolz auf das Debüt und plant bereits eine flächendeckende Amerika-Tournee, die er am liebsten auch auf Europa ausdehnen möchte. Allerdings dürfte dieses Unterfangen terminlich nicht ganz einfach zu realisieren sein, denn seine Hauptgeldgeber planen bereits für 2011: „Es wird definitiv neue Extreme-Songs geben – voraussichtlich sogar ein komplettes Studioalbum. Wenn alles glatt geht, dann noch in diesem Jahr.“

Rush

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Rush 2007 (8)Kommen zurück auf die europäischen Bühnen – und zwar mit einer Jubiläums­show: Die Progrocker feiern den 30. Geburtstag von MOVING PICTURES mit einem speziellen Set, das alle Stücke des Erfolgsalbums enthält. Geddy Lee spricht mit CLASSIC ROCK über die aktuelle Tour, blickt aber vor allem zurück auf die aufregende Zeit, in der das Jubiläumswerk entstand.

Nach 30 Jahren verblasst so manche Erinnerung. So ergeht es auch Geddy Lee, als er sich in den Sessel fallen lässt, um mit CLASSIC ROCK über MOVING PICTURES zu sprechen. Wie war es doch gleich, damals im Spätsommer 1980, als Rush sich am Stony Lake in Ontario ein Haus gemietet haben, um dort in aller Ruhe an den Songs feilen zu können? Ist ›Tom Sawyer‹ früher eingespielt worden als ›The Camera Eye‹, oder war es doch umgekehrt? Geddy Lee denkt lange nach, aber er kommt einfach nicht drauf. Und nein, diese Gedächtnislücke ist nicht bedenklich, denn Rush waren schließlich noch nie große Partygänger – mit zu vielen Exzessen während der Aufnahmen hat das also nichts zu tun. Vielmehr ist das Ganze ein Zeichen für etwas völlig anderes: nämlich für Rushs Konstanz, ihre Normalität.

In seiner Entstehungsgeschichte unterscheidet sich MOVING PICTURES nicht großartig von seinen Vorgänger- bzw. Nachfolgealben. Und dennoch: Irgendetwas Besonderes muss passiert sein – sonst wäre die Platte nicht derart erfolgreich geworden. Geddy Lee denkt weiter nach. Und sagt schließlich: „Ganz ehrlich, ich kann gar nicht glauben, dass das alles schon 30 Jahre zurückliegt. Und damals, als MOVING PICTURES auf den Markt kam, hatten wir auch nicht das Gefühl, einen Meilenstein erschaffen zu haben. Wir dachten einfach, dass wir eine weitere, gute Platte eingespielt hätten. Doch mit den Jahren erkannten wir, dass MOVING PICTURES einen Wendepunkt in unserer Karriere markierte. Wir haben uns weiterentwickelt, und zwar sowohl in Bezug auf die inhaltliche Ebene als auch auf die musikalische. Heute sagen viele Fans, dass Rush sich mit MOVING PICTURES neu erfunden haben, sie betrachten die Platte als eine Art ‚Wiedergeburt‘. Aber das sehe ich nicht so. Für mich war die Veränderung nicht abrupt, sondern ein schleichender Prozess. Interessanterweise wollten wir zum damaligen Zeitpunkt gar kein Studioalbum machen, sondern eine Liveplatte. Aber ein Freund riet uns davon ab. Er meinte: ‚Euer Stil ist nicht mehr derselbe wie früher. Ihr solltet euch wirklich überlegen, ob es nicht schlauer wäre, neue Songs zu schreiben. Denn wenn ihr jetzt alte Stücke für eine Livescheibe aufnehmt, klingen die ganz anders als im Original!‘ Wir dachten darüber nach und kamen zu dem Schluss, dass er recht hatte. Und so machten wir uns daran, MOVING PICTURES zu komponieren.“

Je länger Lee über die damalige Zeit nachsinnt, desto mehr Erinnerungen kehren zurück. Als Erstes taucht die Umgebung wieder vor seinem geistigen Auge auf, der See, an den das gemietete Haus an-grenzte, aber auch der Ort Morin Heights, in dem (das inzwischen geschlossene) „Le Studio“ lag, wo Rush MOVING PICTURES vollendeten. Dort, in dieser von Bergen flankierten Kleinstadt in Quebec, war die Band bereits für PERMANENT WAVES untergekommen – und sie sollte auch bis 1994 regelmäßig zurückkehren. „Die Landschaft faszinierte uns“, be-schreibt Lee seine Eindrücke. „Wir wohnten alle zusammen in einem kleinen Haus, das in der Nähe des Studios lag. Der Weg dorthin führte durch einen Wald, und ich weiß, dass ich mich immer herrlich entspannen konnte, wenn ich nach getaner Arbeit allein zurückmarschiert bin. Zudem lag das Studio direkt am See, es sah einfach umwerfend aus. Und es hat mich definitiv inspiriert. Manche Leute wundern sich zwar darüber, dass in so einer ruhigen, abgeschiedenen Gegend eine Hardrock-Platte entstehen kann, aber für uns war das kein Widerspruch, ganz im Gegenteil.“

Und doch: Gerade diese besondere Atmosphäre, diese Ruhe und Ausgeglichenheit, spiegelt sich in den Songs von MOVING PICTURES wider. Das Offensichtliche, Vordergründige verschwand Anfang der Achtziger nach und nach aus Rushs Musik, an seine Stelle trat das Erdige, Subtile, Unterschwellige. Man könnte es auch so formulieren: Die Sturm-und-Drang-Phase neigte sich dem Ende zu. Als MOVING PICTURES entstand, waren Geddy Lee und Gitarrist Alex Lifeson 27, Drummer Neil Peart 28 Jahre alt. Es ging Rush nicht mehr darum, Led Zeppelin nachzufolgen (wie auf FLY BY NIGHT oder CARESS OF STEEL) oder sich in immer vertracktere musikalische oder lyrische Höhen hinaufzuschwingen – das hatten sie mit 2112, A FAREWELL TO KINGS oder HEMISPHERE bereits erfolgreich und exzessiv getan. Nun wollten sie etwas Neues ausprobieren, den Weg weitergehen, den sie mit PERMANENT WAVES eingeschlagen hatten: Ihr Progrock durfte komplexe Arrangements enthalten, aber eben nicht nur. Rush und Radio – diese beiden Dinge sollten sich nicht ausschließen: Der Erfolg von ›Spirit Of Radio‹ und ›Freewill‹ gab ihnen Recht. PERMANENT WAVES knackte die Top 5 der US-Billboard-Charts.

Doch obwohl sich das Trio durch die weltweite Zustimmung in seiner Haltung bestärkt sah – einen konkreten Plan, wie’s nun weitergehen sollte, hatten die Kanadier nicht. Es gab nichts, keine übrig gebliebenen Song-Ideen vom letzten Album, keine Melodien, die spontan bei einem Soundcheck entstanden waren und die man hätte ausbauen könnten. „Wir mussten komplett bei Null anfangen. Das war auch der Grund, weshalb wir nicht umgehend nach Morin Heights ins Studio gefahren sind, sondern uns erst am Stony Lake in Ontario eingemietet haben. Es gab schließlich keine Songs, die wir hätten einspielen können – die mussten wir erst noch schreiben!“, berichtet der Sänger, Bassist und Keyboarder.

„Also setzten wir uns von Montag bis Freitag hin, um zu jammen und so Ideen zu entwickeln. Übers Wochenende fuhren wir dann alle nach Hause. Auf diese Art und Weise sind eigentlich all unsere früheren Platten entstanden – erst Ende der Achtziger, als wir begannen, mit Peter Collins zu arbeiten, gab es richtige Demos. Vorher brauchten wir das nicht. Wir spielten die Songs einfach so lange, bis wir sie alle draufhatten. Dann wussten wir, dass wir gut genau vorbereitet waren, um ins Studio zu gehen. Dort ging dann alles recht schnell. Wir nahmen die Stücke auf, änderten noch ein paar Kleinigkeiten, das war’s dann. Obwohl, jetzt wo ich so drüber nachdenke, fällt mir ein, dass es auch schon bei MOVING PICTURES Demoaufnahmen gab. Ganz zu Beginn der Arbeit an dem Album haben wir mit unserem damaligen Produzenten Terry Brown in den ,Phase One‘-Studios in Toronto an irgendeinem der ersten MO-VING PICTURES-Songs gearbeitet. Ich weiß nur immer noch nicht, ob es nun ›Tom Sawyer‹ oder doch ›The Camera Eye‹ war. Na ja, es ist eben doch schon 30 Jahre her…“

Eine Spanne von drei Dekaden zu überblicken, bedeutet nicht nur eine Herausforderung für das persönliche Erinnerungsvermögen, sondern ist in der Tat auch eine Zeitreise. Das wird besonders deutlich, wenn man einen Blick auf die Texte von MOVING PICTURES wirft. Schon früher, z.B. bei ›Anthem‹, ›2112‹, ›Freewill‹ oder ›The Trees‹, hatte Schlagzeuger und Texter Neil Peart sich auf die Arbeit der in Russland geborenen, aber in den USA wirkenden jüdischen Autorin und Philosophin Ayn Rand (1905-1982) bezogen. Ihre Theorie des Objektivismus ist umstritten und wird – je nach Standpunkt – dem rechten politischen Lager zugerechnet (allerdings vor allem im angloamerikanischen Raum). Rush und insbesondere Peart gerieten daher zahlreiche Mal in Erklärungsnot, wenn sich jemand die Mühe machte, eine Diskussion über dieses Thema vom Zaun zu brechen. Die Wahrheit ist freilich: Geddy Lees Eltern sind polnische Juden, die in den Konzentrationslagern von Dachau und Bergen-Belsen interniert waren, dies jedoch überlebten. Schon allein deswegen ist eine Zuordnung der Band in dieses Lager schlicht absurd.
Hinzu kommt, dass sowohl Rands Werke (und dabei insbesondere „An-them“ (1938), „The Fountainhead“ (1943) und „Atlas Shrugged“ (1957)) als auch Rushs Alben im Kontext der damaligen Geschehnisse zu betrachten sind. Als MOVING PICTURES entstand, stand das von George Orwell so düster beschriebene 1984 erst noch bevor. Die Mauer existierte noch real, ebenso der Ostblock, und auch der Kalte Krieg war längst nicht Geschichte. Die Worte, die Peart im Sommer 1980 niederschrieb, entstanden in einem Klima, das von Furcht und Misstrauen gegenüber dem Anderen, dem Fremden geprägt war.

„Neil hat im Lauf der Rush-Karriere einige Texte geschrieben, mit denen ich nicht besonders glücklich war“, setzt Geddy Lee an, „aber das war hauptsächlich am Anfang der Fall. Zur Zeit von MOVING PICTURES gab es nur einige wenige Zeilen, die mir nicht gefielen, der größte Teil seiner Lyrics war hervorragend. Wir arbeiten immer nach demselben Muster: Neil schreibt etwas, er zeigt es mir dann, ich lese den Text durch und mache Anmerkungen an den Stellen, die ich nicht verstehe oder die ich anders formulieren würde. Wir sprechen dann darüber, und er nimmt die Zettel wieder mit nach Hause und arbeitet das Ganze entsprechend um.

Das Gute an Neil ist: Er geht sehr ergebnisorientiert vor. Will sagen: Sein Ziel ist es, einen passenden Text zu schreiben. Wenn das aber partout nicht funktioniert, zum Beispiel weil die Worte und die Musik sich nicht ergänzen, dann ist er nie beleidigt, sondern zuckt mit den Schultern und macht etwas Neues.“
Die Texte zu MOVING PICTURES stammen allesamt von Neil Peart – einzige Ausnahme: die Lyrics zu ›Tom Sawyer‹, die aus einer Kollaboration mit Pye Dubois stammen (kanadischer Dichter, u.a. Texter der Band Max Webster – Anm.d.Red.). Dubois’ ursprünglichem Porträt eines modernen Rebellen fügte Peart einen weiteren Aspekt hinzu: den Kampf zwischen dem Wunsch nach ewiger Freiheit und den Zwängen der Gesellschaft.

„Jedes Mal wenn ich an MOVING PICTURES denke, kommt mir als Er-stes ›Tom Sawyer‹ in den Sinn“, sagt Lee lachend. „Der Song hat uns alle Türen geöffnet, war in Filmen zu hören, in TV-Shows, einfach überall. Dabei sah es zunächst so aus, als würde nie etwas draus werden. Denn im Studio haben wir uns endlos mit dem Stück herumgeplagt. Alle an-deren Tracks entwickelten sich viel schneller, nur ›Tom Sawyer‹ bereitete uns Kopfzerbrechen. Ständig hatten wir das Gefühl, dass noch irgendetwas Wichtiges fehlte. Doch am Ende der Aufnahmen war es der Song, den wir alle am besten fanden. Ein weiterer Beweis dafür, dass man nie im Vorfeld sagen kann, ob etwas funktioniert oder nicht. Man muss es einfach ausprobieren und sehen, wie weit man kommt.“

Wie weit die Band in ihrer Entwicklung gekommen war, zeigt sich in ›Tom Sawyer‹ wohl am deutlichsten. Der Song verfügt über ein komplexes, bis ins letzte Detail durchdachtes Arrangement. Doch er ist auch zugänglich, insbesondere durch einen Riff, der sich bereits beim ersten Hören im Gehirn festsetzt und diesen Platz nie wieder verlässt. Doch MOVING PICTURES ist kein Album, das auf einem einzigen Hit beruht. Lee versüßt ›Red Barchetta‹ mit unglaublichen Eröffnungsharmonien. ›YYZ‹ ist eines der wenigen Instrumentals der Rock-Geschichte, die nicht als Beiwerk, sondern als eigenständiger Song wahrgenommen werden, während ›Limelight‹ be-weist, dass Rush nicht nur den Prog beherrschen, sondern auch im Poprock Großes leisten können. Und dann ist da natürlich noch ›The Camera Eye‹, elf-minütiges MOVING PICTURES-Herzstück und Gänsehaut-Epos, das vom düsteren, brodelnden ›Witch Hunt‹ und der Reggae-Electronica-Fusion ›Vital Signs‹ abgelöst wird.

„Wir haben nie wieder einen Song wie ›The Camera Eye‹ geschrieben. Das Epische hat uns während der Aufnahmen auch gar nicht gefallen. Wir hatten das Gefühl, dass der Track zu lang war und sich die einzelnen Themen zu oft wiederholten. Wahrscheinlich hatten wir einfach nicht genug Abstand – denn sonst wäre uns sicherlich aufgefallen, dass gerade dadurch ein ganz besondere Atmosphäre erzeugt wird.

Das ist uns erst im letzten Sommer wieder bewusst geworden, denn im Rahmen der MOVING PICTURES-Tour nah-men wir ›The Camera Eye‹ erstmals seit über 25 Jahren wieder in unser Set auf. Die Leute liebten den Song! Ich muss allerdings auch zugeben, dass wir ihn etwas gekürzt haben, aber nur um eine knappe Minute. Denn als wir uns auf die US-Show vorbereiteten, hörten wir uns das Stück an und kamen überein, dass einige Passagen auf der Albumversion einfach zu langatmig sind. Die haben wir zusammengestrichen.“

Das wäre zur Zeit der MOVING PICTURES-Aufnahmen noch nicht so einfach möglich gewesen. ProTools? Fehlanzeige. Doch vor technischen Problemen waren Rush deswegen keineswegs gefeit. Aus diesem Grund landeten die Bänder nämlich einige Tage später als geplant im Briefkasten der Plattenfirma. „Als wir mit dem Mix beschäftigt waren, ging plötzlich alles schief. An einigen Stellen waren auf einmal Sounds zu hören, wie vorher nicht da waren, an anderer Stelle fehlte irgendwas. Wir suchten stundenlang nach dem Fehler, konnten aber nichts finden. Also schlug unser Produzent Terry Brown vor, den Laden zu schließen und einen Techniker aus England kommen zu lassen. Es stellte sich schließlich heraus, dass eine Leitung falsch angeschlossen war und zu-dem eine so hohe Luftfeuchtigkeit im Studio herrschte, dass wir Probleme hatten, die Höhen richtig einzustellen. Nun, am Ende ging es dann doch.

Zudem hatte es einen großen Vorteil: Wir stellten alles manuell ein, jeder von uns war beteiligt, es fummelten also acht Hände zeitgleich auf dem Board herum. Eine aufregende Sache! So etwas erlebt man heute nicht mehr, da wird alles am Computer eingestellt, fertig. Dabei lieben wir es, uns die Hände schmutzig zu machen!“

Das aktive Mitmachen, Mitentscheiden, Dabeisein ist etwas, das Rush seit jeher wichtig war und auch heute noch ist. Sie sind in jeden Produk-tionsschritt involviert, wollen die Kontrolle über das Gesamtwerk be- und erhalten. Das war auch bei MOVING PICTURES so. Da die Band – und allen voran Neil Peart – etwas erschaffen wollte, das stark cineastische Züge trägt, ein Album, bei dem die Musik dazu da ist, die Texte klanglich umzusetzen und so nacherlebbar zu machen, war auch das Artwork von immenser Bedeutung. „Neil hatte die Idee für den Titel der Platte, und da er die Texte verfasste, wollte er, dass diese auch im Covermotiv umgesetzt werden. Er hat daher unserem Grafikdesigner Hugh Syme eine Rohfassung der Lyrics gegeben, um ihm einen Eindruck davon zu vermitteln, in welche Richtung er gehen wollte. Hugh hat sich dann Gedanken dazu gemacht und alle weiteren Schritte mit Neil abgesprochen. Nachdem die beiden sich einig waren, kamen sie zu Alex und mir, um uns ihre Vorschläge zu unterbreiten.

Ich mag die drei Ebenen des Bildes. Diese Mehrdeutigkeit, mit der auch der Titel MOVING PICTURES spielt. Einmal die Bilder, die aus dem Gebäude getragen werden, dann das alte Ehepaar, das in Tränen ausbricht, weil es die Tasche fallen lassen hat. Und schließlich die Filmcrew auf der Rückseite beim Dreh. Alle bewegt bzw. bewegen etwas – im Englischen ist das Wort ‚to move‘ ja mehrdeutig. Zudem freue ich mich auch heute noch darüber, dass wir damals den Schritt gewagt und kein weiteres Fantasy- oder SciFi-Bild mehr als Cover verwendet haben. Es war wirklich höchste Zeit, damit aufzuhören. Zumal es bei uns eigentlich immer schon so war, dass die Optik der Musik entsprechen sollte. Und da sich unser Sound verändert hatte, musste sich logischerweise auch die visuelle Umsetzung ändern.“

Die konsequente Art, mit der Rush an ihre eigene Erneuerung herangingen, verschaffte ihnen nicht nur neuen Zulauf von Fans aus dem Mainstream-Sektor, sondern nötigte auch der eingeschworenen Fan-Gemeinde Respekt ab. Und doch hatte der Erfolg auch seine Schattenseiten. Die ersten Wolken waren bereits vor MOVING PICTURES aufgezogen – speziell Neil Peart hatte enorme Schwierigkeiten, mit dem Ruhm klarzukommen. Er hasste es, im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu stehen – ein Problem, das er im Song ›Limelight‹ thematisiert. „Keiner von uns braucht das Rampenlicht. Wir haben keine besonders ausgeprägten Egos. Aber während Alex und ich es locker nehmen, wenn Fans auf uns zukommen und ein Autogramm wollen oder mit uns sprechen möchten, schafft es Neil einfach nicht, sich zu entspannen. Das war früher ganz schlimm, inzwischen ist es deutlich besser geworden. Was vielleicht auch daran liegt, dass wir dazu übergegangen sind, in solchen Momenten einfach herumzualbern. Das entspannt die Situation enorm.

Aber um auf ›Limelight‹ zurückzukommen: Es ist schon eine ziemliche Dreistigkeit, dass wir auf der einen Seite ein erfolgreiches Album aufnehmen wollen, das sich bitte millionenfach verkaufen soll – und dann ein Stück draufpacken, das von den negativen Seiten des Star-Daseins handelt. Ziemlicher Widerspruch, oder? Aber so ist das eben oft in einer Band…“

Speziell Neil Peart ist ein Meister darin, wenn es darum geht, etwas Unerwartetes zu tun. Das war früher so – und hat sich bis heute nicht geändert. Denn während Geddy Lee und Alex Lifeson endlich das bereits für 2010 geplante neue Studioalbum fertigstellen wollten, gierte Peart förmlich nach einer Tournee, wie der Sänger berichtet: „Die Idee, MOVING PICTURES komplett auf die Bühne zu bringen, stammt nicht von mir. Ich wollte lieber Songs schreiben. Doch Neil hatte Feuer gefangen, gab einfach nicht nach. Schließlich kam irgendjemand darauf, dass wir doch beides miteinander kombinieren könnten. Erst ein paar Songs aufnehmen, dann live spielen, dann wieder zurück ins Studio, daraufhin eine weitere Tour. Alle waren begeistert, also entschieden wir, dass wir es genau so machen wollten.

Und dann erst kamen wir auf den Gedanken, MOVING PICTURES in den Mittelpunkt der Show zu rücken. Schließlich ist es unser erfolgreichstes Album, jedenfalls in den USA. Und es enthält ›Tom Sawyer‹, eine Hymne, die jeder Rush-Fan vergöttert. Zudem ist ein Großteil der Stücke von MOVING PICTURES ohnehin ein fester Bestandteil unseres regulären Sets, also mussten wir uns nicht großartig bemühen und zig Lieder einstudieren, die wir ewig nicht geprobt hatten – abgesehen von ›The Camera Eye‹ gestaltete sich das recht einfach. Und durch die Nordamerika-Tour, die wir im vergangenen Sommer gespielt haben, ist uns erst richtig klar geworden, wie herausragend das Stück eigentlich ist und welche Emotionen es bei den Leuten hervorrufen kann. Es scheint, als hätten wir nach 30 Jahren endlich unseren Frieden mit dem Song geschlossen…“

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Die beiden Fotografien sind vor dem Parlamentsgebäude von Ontario entstanden. Es steht im Queen’s Park in Toronto und wurde in den Jahren von 1886-1893 er-baut. Eines der Bilder, welche die Träger gerade transportieren, zeigt das Cover von Rushs 2112-Album. Für die Gestaltung des MOVING PICTURES-Artworks war Hugh Syme zuständig – gemeinsam mit der Fotografin Deborah Samuel hatte er das Shooting geplant und darin die verschiedenen Aspekte des englischen Begriffs „moving“ zu visualisieren versucht.

Long Distance Calling – Siebziger Signale

Long-Distance-CallingNach SATELLITE BAY und AVOID THE LIGHT mussten sich die Instrumentalrocker fragen lassen, ob ihr Konzept weiter aufgeht. Lange, Wellen schlagende Songs mit ab und zu einem Gastsänger, trägt das noch? Mit ihrem dritten Album brechen Long Distance Calling auf ins Ungewisse – und bleiben sich treu.

Im Urwald von Puerto Rico steht ein Radioteleskop. Die besten Tage der mit 305 Metern Durchmesser und 51 Metern Tiefe gewaltigen Schüssel liegen hinter ihr: Seit Pierce Brosnan in „Golden Eye“ und Jodie Foster in „Contact“ über die Reflektoren turnten, ist sie eher gammelig geworden. Zahllose Reflektorspiegel sind kaputt, durch den Asphalt bricht der Dschungel, und wenn sich nicht bald ein Sponsor findet, schließt der Betreiber die Anlage vielleicht noch in diesem Jahr. Damit würde auch das Radiosig­nal abbrechen, das seit 1974 von hier, von Arecibo aus, ins All geschickt wird. Die Botschaft soll Außerirdischen sagen, dass es uns gibt: ein Hallo von sehr weit weg. LONG DISTANCE CALLING eben.

Den rund um Münster beheimateten Instrumentalrockern liefert ›Arecibo‹ einen von sieben Songnamen auf dem schlicht LONG DISTANCE CALLING betitelten Album. Und wer denkt, Bands ohne Texte hätten es leichter, der irrt. „Die Songtitel schieben die Wahrnehmung ja bereits in eine bestimmte Richtung“, gibt Janosch Rathmer zu bedenken, der Schlagzeuger des Quintetts. „Von daher ist die Titelsuche fast genauso kompliziert wie die Erstellung kompletter Texte.“ Das übergreifende Space-Thema hatten die brachialen Filigrantechniker sich lang im Vorfeld gesetzt; alles andere wurde neu verhandelt.

Neu sind zum Beispiel die Funkanleihen: Wenn ›Into The Black Wide Open‹ hereinrollt, sieht man unwillkürlich „Die Straßen von San Francisco“ vor sich, und bei ›Figrin D’an Boogie‹ (einer liebenswert nerdigen Hommage an die Alien-Kapelle der Star Wars Cantina) vielleicht sogar eine orange-braun gemusterte Tapete. Dabei war es bloß eine Frage der Zeit, bis das Seventies-Faible bei ihnen durchschlug: „Wir haben fast alle zuvor Metal gespielt“, sagt Janosch, „und machen gerade dieselbe Erfahrung: Je älter man wird, je länger man sich mit Musik beschäftigt, desto sicherer interessiert man sich irgendwann für die Quellen. Man landet unweigerlich bei den Siebzigern und schließlich ein Stückchen weiter – beim Blues.“

Seine 70er-Ikonen heißen John Bonham, Bill Ward oder Billy Cobham (Mahavishnu Orchestra) und, auf die Band übertragen, Pink Floyd und Led Zeppelin. Eine Umorientierung ist das nicht: „Wir haben Long Distance Calling nie direkt im Postrock gesehen, sondern immer als instrumentale Rockband.“ Was einander kaum ausschließt, aber Long Distance Calling kullern tatsächlich auf neue Horizonte zu. „Vor allem wollten wir kurzweilig sein. Die Herausforderung für eine Band, die fast ohne Gesang arbeitet, besteht darin, die Hörer bei der Stange zu halten. Noch nie haben wir so viel und intensiv für eine Platte geprobt. Sie sollte anders und kompakter werden… was vielleicht nicht auf ganzer Linie geklappt hat“, lacht er und meint die Parts, wo Long Distance Calling dann doch wieder perlend ausuferten.

Auf Anhieb geklappt hat hingegen die Akquise seines Wunschkandidaten John Bush („einer der unterschätztesten Frontmänner im Rock/Metal-Bereich“) als Gastsänger auf ›Middleville‹. Der Armored Saint- und ehemalige Anthrax-Sänger stieß bei Janoschs Kollegen zunächst auf Skepsis – bis sie seinen Beitrag hörten. Bush hat selbst Text und Gesangslinien beigetragen und klingt im Ergebnis charismatisch und grungig – „wie Layne Staley, der die Töne trifft!“, freut Janosch sich. Und das ist doch mal eine gute Botschaft.

Barry Burns (Mogwai)

Mogwai 2011 @ Steve Gullick (4)

 

Auf ihrem siebten Album HARDCORE WILL NEVER DIE BUT YOU WILL lassen es sich Mogwai gutgehen. Den Schotten ist wohl in ihrer Haut: Sie wissen, was sie können; wissen, was sie wollen. Zeit für Veränderung, oder?

Die einzige Band, die noch etwas bedeutet!“ – „Mogwai bringen Frieden und Farbe in meine Welt.“ – „Mogwai will never die, but you will!“ – Unter ihren Fans inspirieren Mogwai eine Art religiöser Hingabe, während Fremde sich verwundert die Ohren reiben. Mogwai: eine Band mit so wenig Gesang, dass man sie getrost als Instrumentalkombo bezeichnen kann, ein Quintett aus Fußballfans, Nerds und Fricklern, die mit ihrer Verachtung für „Musikprodukte“ nicht hinterm Berg halten. Mogwai: die unwahrscheinlichste Supergruppe der Welt, die bei ihrer Gründung 1995 beschloss, den Zirkus nicht mehr mitzumachen. Was folgte, war ein anderer Zirkus. Erst unter „Ambient“ sortiert, wurden Mogwai bald zu Bannerträgern des Postrock: überlange Songs mit einer oszillierenden Dynamik anstatt ­Strophe/Refrain? Das muss Postrock sein! Mogwai-Keyboarder, Pianist, Flötist und Gitarrist Barry Burns kann darüber eigentlich nur lachen. Schließlich ­pflücken er, Dominic Aitchison, Stuart Braithwaite, Martin Bulloch und John Cummings sich instinktiv Melodien aus dem Nabel. Nicht immer alle auf einem Song. Nicht immer unter der Maßgabe von Takten. „Wir reden wenig über unsere Musik“, erklärt Burns. „Wir lassen einfach alle durch ihre Teile wurschteln.“ Den Albumtitel verdanken sie diesmal einem schottischen Asi (schottisch: „ned“), dem ein Ladenbesitzer keinen Alk verkaufen wollte: „Hardcore will never die, but you will“, soll der junge Tunichtgut darauf gesagt haben.

Barry, das neue Album ist nicht so sehr Folge des 2008er THE HAWK IS HOWLING, sondern eher Abkehr von dessen Härte, oder?
Uns schwebte tatsächlich ganz was anderes vor. Erst hatten wir Bedenken, dass der Wandel zu drastisch wäre, aber dann merkten wir, dass wir die neuen Songs ins Herz geschlossen hatten. Mittlerweile sind wir ausgesprochen stolz auf sie!

Den letzten Sommer habt ihr am Schleifstein verbracht. Werdet ihr obsessiv, sobald es losgeht?
Kein Witz, HARDCORE WILL NEVER DIE BUT YOU WILL war harte Arbeit, vom Songwriting über Wochen des Probens bis hin zu einem zweimonatigen Studioaufenthalt. Aber wir sind eng befreundet; wenn wir uns übereinander aufregen, rückt irgendeine Form von Alkohol das schnell wieder zurecht.

Mal düster, mal feierlich, introspektiv und aufgedreht, streng und üppig – HARDCORE verortet euch fest in der Beethoven School of Rock. Ergeben Klassikbezüge für Mogwai Sinn, oder ist es eher ein Zufall, dass ›Too Raging To Cheers‹ an Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ erinnert?
Seltsam, das ist mein liebstes Klassikstück! Ich kann mich nicht daran satt hören. Sollte es den Song irgendwie beeinflusst haben, wäre ich entzückt. Dieses Album ist sehr abwechslungsreich ausgefallen, finde ich, selbst im Vergleich zu HAPPY SONGS FOR HAPPY PEOPLE – und das empfand ich schon als bemerkenswert.

›Hunted By A Freak‹, ›Stop Coming To My House‹, ›I Am Batman‹ und nun ›How To Be A Werewolf‹ und ›You’re Lionel Richie‹: Mogwai haben bekanntermaßen die besten Songtitel, sind allerdings unwillig, über die Verbindungen zwischen Song und Titel zu sprechen… weil es keine gibt. Aber was steckt hinter ›You’re Lionel Richie‹?
Na, Lionel Richie! Ein völlig verkaterter Stuart hat ihm das am Flughafen ins Gesicht geblökt, auf dem Heimweg von einem DJ-Gig. Tja, Alkohol und Promis sind ein Rezept für Desaster.
Am Anfang von ›You’re Lionel Richie‹ rezitiert jemand etwas auf Italienisch…
Das ist unser guter Freund Dr. Kiko! Er liest aus einem Aufsatz vor, den er mit acht oder neun Jahren in der Schule verfasst hat. Die Kinder sollten beschreiben, was sie werden wollten, als Erwachsene. Die meisten sagten sowas wie Arzt, Pilot… Kiko hingegen erklärte, er wolle am liebsten Sklave werden.

›George Square Thatcher Death Party‹ klingt wie eine Schlagzeile aus der Boulevardpresse – ein paar Ausrufezeichen dahinter und fertig. Wie könnte so eine Anti-Party für die „Eiserne Lady“ aussehen?
Es wäre eine absolut grandiose Affäre, die ich selbstverständlich am Fernseher mitverfolgen würde. Vielleicht flöge ich dafür sogar von Berlin aus nach Hause! Thatcher hat Schottland damals übers Knie gefickt, sie verdient nichts als Verachtung. Wobei die neue britische Regierung wahrscheinlich noch übler ist.

Was ist dir aus der Thatcher-Ära 1979 bis 1990 noch in Erinnerung?
Der Streik der Minenarbeiter und jede Menge Trostlosigkeit. Aber zum Glück auch Skateboards!

John Niven, Musikjournalist und Autor von „Kill Your Friends“, nahm Mogwai dereinst als A&R-Mann unter Vertrag und beschwert sich noch heute, dass ihr ihn als Initiation zu Celtic Glasgow geschleppt habt. 2006 steuerten Mogwai dann den Soundtrack zu „Zidane, A 21st Century Portrait“ von Douglas Gordon bei. Sind Fußball & Mogwai eine himmlische Verbindung?
Stuart, John und Martin sind halt riesige Celtic-Fans. Wir Schotten haben eine Leidenschaft für Fußball, obwohl wir miserabel kicken. Die Zidane-Sache war, glaube ich, eher ein glücklicher Zufall. Mir ist immer noch nicht klar, ob Douglas ahnte, wie wichtig Fußball damals für uns war. Ich bin da ein bisschen rausgewachsen, aber wenn St. Pauli ausnahmsweise gewinnen, bin ich nicht unfroh!

Du hast in Berlin eine Kneipe eröffnet, während John Cummings sich nach New York aufgemacht hat. Warum bei dir Berlin?
Meine Frau und ich suchten die Veränderung, und aus unerfindlichen Gründen ist Berlin oft die erste Wahl für Glaswegians. Ja, es ist kälter in Berlin, aber es gibt eine Menge Platz und Freiheit, die ich in Schottland vermisst habe. Weniger aggressive Leute. Ich nehme lieber den muffeligen Busfahrer in Berlin als einen wutgeladenen Teenager in Glasgow, weißt du?

Da wir hier bei CLASSIC ROCK sind: Wie weit in die Rock- und Blues­geschichte reicht eigentlich dein Musikgeschmack?
BLOOD ON THE TRACKS von Dylan ist in jeder Hinsicht perfekt. Und ich liebe STANDING ON THE VERGE OF GETTING IT ON von Funkadelic: Das war das erste Mal, dass ich so eine Produktion gehört habe. An das Erlebnis erinnere mich genau; ich konnte mein Glück gar nicht fassen. Eine große Schönheit ist auch EGE BAMYASI von Can – das erste Krautrock-Album, das ich mir je gekauft habe. Ich bin kein großer Blues-Fan, aber Stuart hat mir Abner Jay weitergereicht, den ich seither vergöttere – was für ein Fund!

Die letzten Jahre haben uns eine Schwemme an „Postrock“-Bands beschert. Geben Mogwai jemanden die Daumen hoch?
Nee, ist mir eigentlich egal. Ich höre sowas privat nicht. Vermutlich auch besser so.

Ist der Begriff Postrock für Mogwai überhaupt noch relevant?
Sagen wir so: Ich hasse ihn heute mehr als gestern. Wir machen IMFS – Instrumental Music from Scotland! Blöd nur, dass „imfs“ so schwer auszusprechen ist, nicht wahr?

…And You Will Know us By The Trail Of Dead – Jenseits des Regenbogens

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Konzerte, bei denen jeder alles spielt, zerlegte Bühnen und glorreiche Exzesse: Wer die US-Alternative-Rocker mit dem unhandlichen Namen je live erlebt hat, dürfte sie so schnell nicht vergessen. Mit ihrem siebten Album TAO OF THE DEAD machen …And You Will Know Us By The Trail Of Dead sich endlich wieder Ehre – ohne Tote, ohne Grenzen.

Renaissance-Menschen, Katzenliebhaber, Mystiker, Punkrock-Prinzen – wie beschreibt man Trail Of Dead anno 2011 am besten? „‚Dreckige Schwanzlutscher‘ passt ganz gut, glaube ich“, grunzt Sänger, Gitarrist, Schlagzeuger und Pianist Conrad Keely. Er und Schlagzeuger, Gitarrist und Mitsänger Jason Reece sind die Keimzelle von Trail Of Dead und seit 1993 so dicke, dass sie einander blind verstehen. „Ein befreundeter Biologe hat unsere Kommunikationsweise mit der von Bienen verglichen“, bestätigt Keely: „Die tauschen ihre Signale über Pheromone aus.“

Insektenzäh haben die Zwei auch alles überdauert, was nach dem dritten Album SOURCE TAGS AND CODES (2002) an Unbilden über Trail Of Dead hereinbrach – von den Erwartungen einer Major-Plattenfirma (hätten sie nicht wenigstens so groß wie Muse werden können?) bis zu Ausfällen im eigenen Lager (2004 flog Bassist Neil Busch wegen „erheblicher Gesundheitsprobleme“ alias Heroin raus).

PROG? WER? WIR?
Beim Hausputz für THE CENTURY OF SELF (2009) haben Trail Of Dead ihre Flügel wiedergefunden – und mit dem kaleidoskopisch wirbelnden TAO OF THE DEAD hebt das Quintett jetzt ab. Für Keely ist die Neue der Soundtrack zu einem Science-Fiction-Epos: „Wir wollten schon immer Soundtracks schreiben“, sagt er, „nur kriegen wir keine Angebote. Also mussten wir uns den Film dazudenken. Tatsächlich spielt ein Kaleidoskop darin eine Rolle – ein Medaillon, in dem Seelen gefangen sind.“

Das Artefakt heißt ›The Fairlight Pendant‹ – benannt nach dem ersten Digital-Sampler, der im Prog Rock der Frühachtziger nicht fehlen durfte. Überhaupt ist Prog das Stichwort: TAO OF THE DEAD ist eine elaborierte Komposition in 16 Sätzen und zwei Akten, deren längerer Teil eins in D und der zweite, kürzere (ein „Satellit“ wie bei Pink Floyds MEDDLE) in F geschrieben wurde. Kompliziert? Nicht wirklich. „Denk dir zwei Kurven“, veranschaulicht Keely, „die aus Mosaiksteinen bestehen. Wie ein doppelter Regenbogen.“ Alle Songs funktionieren auch einzeln, aber erst zusammen ent­wickeln sie ihren Charme. Etwa, wenn im ›Summer Of All Dead Souls‹ kurz die Beatles und Oasis aufflattern, die Band Fahrt aufnimmt und ›Cover The Days Like A Tidal Wave‹ wie mit japanischer Tusche hinwirft, so grob und subtil zugleich.

Im 16-minütigen Teil zwei (›Strange News From Another Planet‹) hat man es dann mit einer veritablen Prog-Oper zu tun. „Genesis, Yes, Steve Hillage und Rush waren Pfeiler meiner musikalischen Sozialisation“, gibt Keely zu. „Während wir die Songs schrieben, habe ich den anderen immer wieder ›Dancing With A Moonlit Knight‹ vorgespielt (vom Genesis-Album SELLING ENGLAND BY THE POUND – Anm.d.A.). Trotzdem möchte ich nicht, dass man uns für Prog um des Prog Rocks Willen hält. Obwohl das natürlich stimmt.“

SPIELE OHNE GRENZEN
Alles so schön bunt hier: Fast meint man, die Songs von TAO OF DEAD hätten ihre eigenen Farben, Formen, Gerüche. Sind Trail Of Dead eigentlich Synästhetiker? „Ich glaube“, sagt Keely, „bis zu einem gewissen Grad hat jeder Synästhesie. Sie verstellt mir nicht den Blick auf die Wirklichkeit, aber sie erlaubt mir, Musik auch in anderen Formen als nur dem reinen Klang wahrzunehmen. Das Arrangieren vergleiche ich deshalb oft mit dem Kartografieren: Wir malen eine Landkarte und lassen die Hörer unserem Orientierungssinn vertrauen.“

Eines der geradlinigeren, an den Postrock der frühen Jahre erinnernden Stücke heißt ›Pure Radio Cosplay‹. Kennt man Cosplay (kostümiertes Rollenspiel) nicht eher von Anime- und Manga-Fans? „Wir alle verkleiden uns“, kontert der Sänger. „Und Musiker häufiger denn je! Rock ist zu einer Institution geworden, deren Konventionen wir scheinbar klaglos gefressen haben; jedenfalls werden sie heute kaum noch hinterfragt. Die ganzen ‚Looks‘ stehen für Archetypen, auf die man sich vor langer Zeit geeinigt hat. Denk an Genesis: Die haben das Cosplay für Musiker auf ein bis dahin ungekanntes Niveau gehoben. Ich fürchte – und das inspirierte uns zu dem Song –, dass es heute für viele Musiker wichtiger ist, sich zu verkleiden, als aus innerem Drang heraus Musik zu machen.“

Trail Of Dead haben keine speziellen Bühnenklamotten, und doch schreien ihre schlicht-schwarzen Outfits deshalb nicht weniger vernehmlich ‚Rockband‘ – ein Modell, das Keely im Grunde fad geworden ist. „Bands interessieren mich generell nicht besonders“, schnappt er. „Was nicht heißt, dass ich keinen Spaß an guten Alben hätte; ein Album wird mir immer mehr bedeuten als die Musiker, die gerade zufällig dahinter stecken.“

EINMALEINS FÜR DEMIURGEN
Der Sohn einer irischen Mutter und eines thailändischen Vaters hat 2007 sein Haus in Texas für ein Wohnklo in Brooklyn getauscht – eine Umgebung, die ihn augenscheinlich noch frecher gemacht hat. „Als ich jünger war“, sagt er, „neigte ich dazu, die Stile zu kopieren, die ich um mich herum sah. New York hat mir hingegen gezeigt, dass es nicht reicht, zu kopieren – als Künstler musst du klauen, und zwar dreist und straffrei. Unsere Vorstellungen von Eigentum sollten neu definiert werden, jetzt, wo ‚Besitz‘ schon mit einer virtuellen Konversation die Hände wechseln kann.“

Die Hauptinspiration der neuen Platte fand sich allerdings nicht online, sondern im Bücherschrank: das Tao Te King, eine Sammlung von 81 Spruchkapiteln, die angeblich auf den chinesischen Weisen Lao Tse aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. zurückgehen. Dessen Existenz ist ungewiss – sicher ist nur, dass die Sätze des Tao Te King die chinesische Philosophie entscheidend geprägt haben. Seit dem 19. Jahrhundert wird es in einer wachsenden Flut von Übersetzungen auch im Westen gelesen, der ihm Begriffe wie Wu Wei (Nichthandeln) und den ‚Weg des Wassers‘ verdankt. „Wobei die Lektüre des Tao bei mir mit anderem reagierte, das ich zu der Zeit las“, sagt Keely. „Baltasar Gracian zum Beispiel (spanischer Jesuit und Autor von „Handorakel und Kunst der Weltklugheit“, 1601-1658 – Anm.d.A.). Ich denke, das Tao Te King wird oft als religiöser Text missverstanden. Dabei ist es mehr ein praktisches Handbuch.“ So klingt etwa die in Kapitel 57 geborgte Textzeile „You Rule By Being Just, And Wage War With Surprise“ bei Lao Tse, Sun Tsu, Machiavelli oder Trail Of Dead erstaunlich ähnlich.

Dazu passt, was Keely dem US-Magazin „Spin“ sagte, als er 2009 seine mit Kunst und Kitsch vollgestopfte New Yorker Höhle öffnete: Künstler seien Weltenbauer. Welche Verantwortung ergeht daraus für seine Schöpfung? „Ich muss Gott spielen, und Gott muss rücksichtslos und grausam sein. Nicht, dass er alles zerstört, aber er stellt seiner Schöpfung ab und zu das Bein. Mit ein bisschen Glück verkraftet sie das sogar.“

Melanie Aschenbrenner

Q&A

Trail Of Dead-Sänger Conrad Keely (38) ist Multiinstrumentalist, bildender Künstler (sein erster Berufswunsch war Zeichner bei Marvel Comics), Schriftsteller und Tausendsassa – und unser Entweder/Oder ist ihm eindeutig zu wenig:

Don Carlo Gesualdo oder John Dowland?
Unter den Komponisten Alter Musik? Michael Praetorius. (1571-1621)

Eartha Kitt oder Diana Ross?
Schwarze Soulsängerinnen? Billie Holiday.

Devo oder Kraftwerk?
Kraftwerk.

Giacometti oder Michelangelo?
Als Bildhauer? Da nehme ich lieber Jean-Baptiste Carpeaux (1827-1875).

Jackson Pollock oder Fra Angelico?
Maxfield Parrish. Für Jackson Pollock habe ich einen ganz besonderen Platz in der Hölle reserviert – einen, wo er in alle Ewigkeit seine eigenen Gemälde anstarren muss.

Bach oder Beethoven?
Johann Sebastian Bach!

iPad oder Schmierpapier?
Moleskine. Wenn das Notizbuch wertvoll ist, behandle ich es wenigstens sorgfältig genug, um es am Ende in meine Sammlung stellen zu können.

SOURCE TAGS AND CODES oder TAO OF THE DEAD?
Als Advokat des Teufels würde ich sagen: SO DIVIDED (2006).

Beatsteaks – Reifungsprozesse

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Beatsteaks_Bandfoto_2011

Sie haben sich in den vergangenen beiden Jahren rar gemacht. Doch nun schlagen die Beatsteaks wieder zu. Mit ihrem neuen Album BOOMBOX – und einer massiven Europa-Tournee, die mehrere Monate dauert und die Berliner in die größten Stadien führt.

Am Promenadenplatz, unweit des Münchner Marienplatzes, wo der meist geliebte und meist gehasste Verein Deutschlands seine Meisterschaften zu feiern pflegt, hat sich eine Band eingemietet, die immer gut drauf ist. Die Beatsteaks. Bayerischer Hof – man gönnt sich ja sonst nichts. In einer kleinen, aber feinen Suite empfangen drei der fünf Steaks die Journalisten. Sänger Arnim Teutoburg-Weiß und Drummer Thomas Götz mussten in Berlin bleiben, um mittels Skype-Konferenzen die von Nick Launay angefertigten Mixe abzuhören. Auch Gitarrist Peter Baumann kann nicht am Gespräch teilnehmen. Er nimmt sich auf dem luxuriösen Hotelbett der Aufgabe an, alte Fotos für ein Musikmagazin auftreiben. Bassist Torsten Scholz und Gitarrist Bernd Kurtzke sind also allein zum Reden abkommandiert, aber laut Torsten sowieso „viel krasser am Mic“ als der Rest.

Das Klischee der unverwüstlichen Frohnaturen, die stets mit einem breiten Grinsen durch die Welt rennen, zerstören die beiden „Promo-Huren“ (O-Ton Scholz) allerdings gleich wieder. Gefühlsstatus bei den ersten Aufnahmesessions zum neuen Album BOOMBOX im Berliner „Chez Cherie“-Studio: gehemmt. „Irgendwie war das alles nicht so, wie wir uns das vorgestellt haben“, erinnert sich Bernd. „Da geht ’ne rote Lampe an, wir sind alle fürchterlich aufgeregt und versuchen, uns darauf zu konzentrieren, richtig zu spielen. Dabei vergessen wir, dass es um was komplett an-deres geht, nämlich: Musik machen.“

Zudem musste in den angemieteten Räumen erst einmal alles auf die Bedürfnisse der Musiker abgestimmt werden – und zwar in nerviger Kleinarbeit: „Du kommst rein, baust drei Tage das Schlagzeug auf, um herauszufinden, in welcher Ecke die Bassdrum am allergeilsten klingt. Das ganze Gedöns eben, das betrieben werden muss, ehe man endlich mal dazukommt, einen Song aufzunehmen… Und am Ende hast du gar keine Kraft mehr, um das Lied zu spielen.“ Obendrein kam Arnim, das Sprachrohr der Band, beim Einsingen in der Gesangskabine nicht zu Rande, fühlte keine Verbindung zur bereits aufgenommenen Musik.

Bei einer Diskussion im Proberaum lag die Lösung plötzlich auf der Hand: Wieso nicht einfach innerhalb der eigenen vier Wände arbeiten? „Alle Demoaufnahmen hatten viel mehr Herzblut als die Sachen, die im Studio entstanden sind“, so Kurtzke. Wenn Singer/Songwriter heutzutage ih- re Platten im eigenen Schlafzimmer aufnehmen, dann schafft es eine Rockband ja wohl auch, in ihrem Proberaum akzeptable Resultate zu erreichen.

Die Bestätigung haben die Beatsteaks am 28. Januar geliefert. Seit diesem Termin ist BOOMBOX erhältlich – und es kann sich hören lassen. Die Songs sind poppiger und zugleich experimenteller geraten. Sei es Stoner-Rock-Gedröhne, Reggae-Feeling, College-Rock à la frühe Weezer, beinharter Punk oder Pop-Rock – alles, was Bock macht, ist willkommen. Ein britischer Kritiker würde sicher urteilen: „Their most ambitious effort yet.“ Großen Wert legte das Quintett ferner aufs Songwriting, das im Vergleich zum Vorgänger LIMBO MESSIAH (2007) vielleicht ein bisschen zu geradlinig und schulbuchmäßig geraten ist. Nichtsdestotrotz kann man spüren, dass die Berliner den nächsten Schritt machen wollten.

Wie viel Anklang BOOMBOX in den Download-Shops und im Tonträgerhandel letztendlich finden wird, ist den Beatsteaks natürlich keineswegs egal – aber so richtig wichtig eben auch nicht. „Unser Durchbruch kam zu einer Zeit, in der Plattenverkäufe nur noch eine Nebenrolle gespielt haben“, sinniert Bernd. „Das ist schon bei SMACK SMASH, also 2004, nicht mehr ins Ge-wicht gefallen. Wir mussten uns den Arsch ab-spielen, um unsere Rechnungen zu bezahlen – und das hat sich bis heute nicht geändert.“

Sich den Arsch abspielen – darum geht’s. Für Torsten ist eine neue CD im Grunde nur ein Mittel zum Zweck: „Machst du ’ne geile Platte, hast du geile Songs für die Bühne!“ Einer dieser geilen Songs ist das vielleicht stärkste Stück des Albums: die grandiose Vorabsingle ›Milk & Honey‹. Mit ihr ließen es die Beatsteaks zuletzt bei der Verleihung der „1Live Krone“ am 2. Dezember in der Bochumer Jahrhunderthalle krachen. „Als wir da oben standen, dachte ich mir: ‚Alter, wir müssen doch jetzt noch weiterspielen! Nur ein Lied? Was is’n das für ’ne Scheiße?‘“, entsinnt sich Torsten. Nach der Pause, in die sich die Beatsteaks 2008 nach einem Open Air-Gig in der Berliner Wuhlheide und zwei Shows in Argentinien verabschiedet hatten, zieht es Arnim Thomas, Peter, Bernd und Torsten nun unweigerlich auf die Bühnen der Nation.

Die etwa zweijährige Auszeit tat allerdings mehr als not. „Wenn du zehn Jahre lang immer diesen Rhythmus Tour-Platte-Tour-Platte hast und nie einen Schritt zurücktrittst und mit et-was Abstand auf die Sache draufschaust, verkommst du zu einem Fachidioten“, meint Bernd. „Du merkst irgendwann nicht mehr, ob und wann du schlechter oder besser wirst.“ Mindestens genauso wichtig waren für den Musiker zudem auch andere Fragen – nämlich ziemlich private: „Wie läuft’s in meinem anderen Leben? Gibt’s das überhaupt noch?“

Aber hallo! Jeder Beatsteak hatte etwas, worum er sich kümmern musste. Bernd und Thomas z.B. schufen im Proberaum eine Aufnahme-Umgebung, in der sich jeder wohlfühlen kann und die dennoch funktional ist. Einige Bandmitglieder hatten Torsten zufolge „ein paar sehr persönliche Sachen zu bewältigen, die nicht so schön waren“. Er selbst nahm Bassunterricht, entwickelte Beatstuff weiter (den Merchandise-Shop der Formation) und wurde Vater („Hat für mich sehr jut gepasst, im positiven Sinn“).

In der selbst verordneten Bandpause lernten sich die Rocker zudem „auf einer total anderen Ebene neu kennen“. Früher haben sie in der Kneipe, beim Konzert und auch privat zusammen rumgehangen. Jetzt bestimmt der Nachwuchs, wann man sich sieht: Auf Kindergeburtstagen oder anderen Zusammenkünften der kleinen Beatsteaks laufen sich die Eltern regelmäßig über den Weg. „Bernd kommt mit seinem Sohn, Peter mit seinem Bengel, ich mit meiner Tochter“, erzählt Torsten, „da ist die Arbeit erstmal total unwichtig.“ Eine „voll schöne und voll gute“ Erfahrung.

So unumgänglich es war, dass die Beatbuletten einen gewissen Abstand voneinander und von der Band bekamen, so schwer war es auch, nach der Auszeit erneut auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. „Wir haben echt lange gebraucht, bis wir wieder zueinander gefunden haben“, gibt Torsten zu. Aber er hat daraus eine Lehre gezogen: „Das hätten wir vermeiden können. Einfach nur, indem jemand sagt: ‚Alter, bis da und dann müssen wir wieder am Start sein, also lass uns treffen!‘“

Lothar Gerber

Beady Eye – Das böse »N«

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Beady Eye_berbAnderthalb Jahre nach ihrer Trennung melden sich 4/5 von Oasis mit neuer Identität, aber auch jeder Menge Altlasten zurück. Weshalb der Name Noel Gallagher im Interview nicht erwähnt werden darf, der Split absolutes No-Go ist und man sich doch bitte auf den aktuellen Tonträger konzentrieren solle. Alles schön und gut – wenn Liam & Co. dazu wirklich etwas zu sagen hätten.

Das „Landmark“ im Londoner Stadtteil Marylebone hat schon bessere Tage gesehen. Die alte Dame unter den Luxushotels ist leicht angegraut und stickig. Was Liam Gallagher und Gem Archer, Sänger und Gitarrist von Beady Eye, nicht daran hindert, ihre Interviews in der eiskalten, nach Zigarre müffelnden Bar des Etablissements abzuhalten. Einfach, weil es gleich um die Ecke ihres Studios liegt, und es hier – so die Herren unisono – den besten Irish Coffee der Stadt gebe. Den sie gleich zu Beginn des CLASSIC ROCK-Gesprächs ordern und mit Beifallsbekundungen wie „fuckin’ awesome, man!“ verzehren.

Was die Gesamtsituation aber kaum entspannt: Vor der Bar wacht ein Schrank von einem Bodyguard, dass die Herren Rockstars ja nicht gestört werden, und am Nachbartisch verfolgen Manager und PR-Strategen gebannt jedes Wort – als würden hier Staatsgeheimnisse ausposaunt. Oder als könnte der Medienmensch irgendwelche unangemessenen Fragen stellen und bedürfe entsprechender Kontrolle. Was in erster Linie dafür sorgt, dass beide Seiten einen heißen Tanz um die Namen mit den Anfangsbuchstaben „N“ wie Noel Gallagher und „O“ wie Oasis veranstalten. Sie, weil sie es am liebsten komplett ausblenden und abhaken würden, der Verfasser dieser Zeilen, weil er nicht gleich einen Abbruch riskieren möchte.

Der Witz an der Geschichte: Zu den im Vorfeld als „erwünscht“ ausgegebenen Themenbereichen wie „neue Arbeitsweise“, „neue Bandchemie“ oder „neues Album“ haben sie de facto wenig zu sagen – weil sie überall verbale Fallen wittern. Als wolle man ihnen partout an den Kragen. So sei alles „besser und anders“, würde sich „toll anfühlen“ und sei „extrem aufregend“. Nur: Fragt man nach, woran sie das festmachen, also ob sie jetzt mehr Freiheit und mehr Entscheidungsgewalt hätten, geraten sie ins Stocken. Denn das impliziert natürlich das Eingeständnis, dass es früher nicht so war, dass sämtliche Songs von Noel stammen, er der uneingeschränkte Bandleader war und ihm alle anderen lediglich zulieferten.

Kostprobe Liam, der mit schwarzem Hut, schwarzen Handschuhen und schwarzen Klamotten in einem Italo-Western mitspielen könnte: „Es fühlt sich definitiv neu an – denke ich zumindest. Ja, das tut es – ohne Zweifel. Es fühlt sich verdammt gut an, Mann. Obwohl: Eigentlich ist es gar nicht so anders – denn die Musik haben wir geschrieben, wenn du weißt, was ich meine. Aber es ist definitiv neu – ohne Zweifel.“ Was komplett sinnfrei ist. Und zudem in einem Manchester-Akzent vorgetragen wird, der in etwa tiefstem Sächsisch oder Bayerisch gleichkommt. Bis es irgendwann reicht und ein verbaler Vorstoß unabdingbar ist – weil das hier sonst zur Farce gerät: „Warum habt ihr nicht als Oasis weitergemacht? So wie im Sommer 2000, als Noel schon mal ausgestiegen, aber wehleidig zurückgekehrt ist?“ Worauf der jüngere Gallagher scheinbar nur gelauert hat: „Weil Oasis Geschichte sind“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. „Es gibt kein Oasis ohne Noel. Genauso wenig, wie es Oasis ohne mich gibt. Das ist einfach so. Und weil Noel weg ist, machen wir auch nicht weiter und singen seine Songs. Denn das ist doch alles, was die Leute hören wollen. Und deshalb gibt es keinen Grund, da rauszugehen und nur Andys, Gems oder meine Stücke zu singen. Das wäre hirnrissig. Also mussten wir etwas Neues anfangen. Das haben wir getan.“

Womit der Damm gebrochen ist. Denn obwohl die Gründe für die Trennung „persönlich“ seien und deshalb nicht zur medialen Diskussion stünden, bedauere er die Trennung der erfolgreichen Brit-Band nach 19 Jahren und sieben Alben sehr: „Natürlich ist es beschissen, dass es soweit gekommen ist, und das war ein wirklich Dreckstag. Aber man muss halt weitermachen. Und wir hatten viele tolle Jahre, die die nicht so tollen bei weitem überragt haben. Nur: Das war’s dann auch. Ich laufe nicht heulend durch die Gegend – ich blicke nach vorne.“

Mit einem Album, das bezeichnenderweise DIFFERENT GEAR, STILL SPEEDING heißt („ist mir im Pub eingefallen – intuitiv“), von Altmeister Steve Lillywhite produziert wurde und genau so klingt, wie man es erwartet: nämlich wie Oasis ohne Noel. Also Retro-Rock, der an Beatles, Stones und Who erinnert, auch mal akustisch und extrem poppig daherkommt, aber längst nicht so psychedelisch anmutet wie in der jüngsten Vergangenheit. „Einige Sachen sind sogar anti-psychedelisch“, wirft Gem Archer ein – wenn ihn Liam reden lässt. „Wie etwa ›Bring The Light‹ – das ist Rock’n’Roll alter Schule. Es könnte auch von Jerry Lee Lewis oder Little Richard stammen.“

Was die Abgrenzung von der Vergangenheit unterstreichen soll. Und das scheint wichtiger als alles andere – sogar mehr, als wirklich eigene Akzente zu setzen. Was das Enttäuschende an Beady Eye ist: Man hat die Chance für einen Neustart, für etwas wirklich Frisches, leichtfertig vertan. Eben mit einem radikalen Richtungswechsel und anderen Ideen. Stattdessen macht man lediglich, was man immer getan hat – und ist auch noch stolz darauf. Angefangen mit einem Gesang, der John Lennon zum Teil verblüffend ähnlich ist, und Songs wie ›The Roller‹, die sich derart ungeniert bei Klassikern wie ›Instant Karma‹ bedienen, dass es fast einem Plagiat gleicht.

Doch was erwartet man von einem Frontmann, der sich nach dem zweiten Irish Coffee als Reinkarnation des ermordeten Ex-Beatle bezeichnet – bzw. von seinem Bandkollegen nicht daran gehindert wird: „Lennon war eine Naturgewalt. Und ein bisschen was von ihm steckt definitiv in mir. Das spüre ich.“ So kommt das Ego richtig in Fahrt: Liam berichtet von seinem Besuch bei Yoko Ono im Dakota („magic, man!“) und erklärt lapidar, dass Beady Eye zwar besser als Oasis wären, kommerzieller Erfolg aber längst nicht alles sei. Die Kunst und die Selbstverwirklichung stünden im Mittelpunkt – alles andere zähle nicht. „Wenn es sich nicht verkauft, ist es für mich trotzdem ein Riesenerfolg. Und ich werde keine Ruhe geben, bis die Leute erkennen, was es wirklich ist. Nämlich großartiger Rock’n’Roll.“

Ein eigenwilliger Ansatz, der sich in der Live-Präsentation fortsetzt. Da weigert sich das Quartett standhaft, altes Liedgut zu interpretieren und setzt stattdessen auf die 13 Albumtracks sowie eine Coverversion von ›Sons Of The Stage‹ aus der Feder der Achtziger-Manchester-Band World Of Twist. „Außerdem haben wir jede Menge B-Seiten, die wir einstreuen können. Alles andere würde nicht passen, Mann. Insofern konzentrieren wir uns auf das Album – und nichts anderes.“ Was sie sich allerdings nur in mittelgroßen Clubs vor eingeschworenen Fans erlauben können, die ohnehin alles abfeiern. Nicht aber vor einem Massenauditorium. Das müssen sie sich erst erspielen und von seinen Qualitäten überzeugen. Bis dahin werden sie immer Ex-Oasis sein und einen übermächtigen Kritiker haben: Der mit dem bösen N, der sich derzeit im Vaterschaftsurlaub befindet, aber jede Gelegenheit nutzt, um gegen seine ehemaligen Kollegen zu wettern. So kommentierte er Beady Eye unlängst mit den Worten, es wäre traurig, dass sich sein Bruder in knapp 18 Monaten keinen besseren Namen habe einfallen lassen. Womit er den Nagel auf den Kopf trifft. Denn wenn man Liam auf das „wachsame Auge“ und seine tiefere Bedeutung anspricht, erntet man ein trockenes: „Keine Ahnung. Es ist besser als wachsamer Ellbogen. Aber es ist nur ein Name. Einer, der mir gefällt – mit einem guten Vibe. Soll Noel doch erst mal was Besseres machen.“

Zumal sich der 38-Jährige sicher ist: „Irgendwann wird er schon ankriechen, um sich zu entschuldigen. Aber dann ist es zu spät: Weil wir längst woanders sind.“ Vorerst sitzt er aber erstmal in einem protzigen Hotel, trinkt alkoholische Heiß-Getränke und ist so charmant wie ein Pitbull. Keine Ahnung, ob man ihm da wirklich Glück wünschen soll.

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