Wer nicht hören will, muss fühlen. Meint zumindest Neil Young und wäscht seinen ignoranten Mitbürgern im Vorfeld der kommenden US-Präsidentschaftswahlen gehörig den Kopf: Mit Rumpel-Rock-Versionen von traditionellem folkloristischen Liedgut, die jeden Puristen an den Rand eines Infarkts führen dürften – ihm selbst aber diabolischen Spaß bereiten.
Und das nicht nur, weil er hier erstmals seit 2003 seit GREENDALE wieder mit seiner Lieblingsband um Billy Talbot, Ralph Molina und Frank Poncho Sampedro (alias Crazy Horse) agiert, sondern weil er dabei besonders subversiv vorgeht. Denn was der 66-Jährige auf seinem inzwischen 34. Studioalbum unter dem vielsagenden Titel AMERICANA auffährt, ist so etwas wie ein Überraschungsei mit Sprengstofffüllung. Eben elf Rumpel-Rock-Versionen von amerikanischen Folkklassikern, die zum Teil schon mehrere Jahrhunderte auf dem Buckel haben, von jedem stolzen Patrioten (aka 99,9 Prozent aller US-Bürger) notfalls auch rückwärts gesungen werden könnten, und die er und seine Getreuen nicht nur in Grund und Boden jammen, sondern ihnen auch fiese, ideologische Falltüren verpassen. Denn angesichts der kommenden Präsidentschaftswahlen im Herbst, an denen sich Young als kanadischer Staatsbüger zwar nicht beteiligen darf, aber dennoch eine Meinung und ein politisches Ziel hat, sollen genau diese bekannten und scheinbar unverfänglichen Lieder wie ein ideologischer Branbeschleuniger wirken.
Eben Stücke, die das gemeine Volk zwischen Tea Party und Occupy Bewegung an seine Wurzeln, seine Vorfahren, seine Freiheitsgedanken und seinen Willen nach Selbstverwirklichung erinner. Ihnen die politische Lethargie, die blinde Gottesfürtigkeiten und den schnöden Erzkonservatismus austreiben, und sie wieder in aktive, engagierte, leidenschaftliche Demokraten verwandeln. Ein schöner Gedanke. Und längst nicht der einzige, den der weißhaarige Mann mit den buschigen Koteletten an einem regnerischen Dienstag-Vormittag gegenüber CLASSIC ROCK äußert.
Guten Morgen Neil, wie gehts?
Danke, sehr gut.
Wo steckst du gerade?
Ich bin in New York. Ich sitze in meinem Hotelzimmer und schaue auf den Central Park. Also nichts Besonderes.
Dann lass uns über AMERICANA reden, dein erstes Album mit Crazy Hose seit neun Jahren. Warum so eine lange Pause – zumal sie ja deine erklärte Lieblingsband sind?
Ich musste einfach warten, bis ich das entsprechende Gefühl hatte. Bis ich dachte: Das ist es jetzt brauche ich die Jungs.
Das ist alles?
Das ist alles. (lacht) Aber es ist toll, dass wir jetzt wieder zusammen sind. Das ist eine ganz wunderbare Erfahrung. Und genau so sollte es auch sein.
Worin besteht denn die besondere Chemie zwischen euch? Schließlich arbeitet ihr mittlerweile über 40 Jahre zusammen. Also seit deinem zweiten Solo-Album von 1969.
Oh ja, und es ist eine Sache, die einfach gewachsen ist und sich immer weiter entwickelt hat. Also wir verstehen uns blind, kennen uns in und auswendig und haben jede Menge Spaß zusammen. Es ist toll, eine wunderbare Band. Und unser Ding ist, einfach stundenlang zu jammen. Darauf stehen wir, und das praktizieren wir auch diesmal wieder. Wofür es aber die richtigen Songs und das richtige Gefühl sein müssen. Es muss einfach alles stimmen – sonst macht es keinen Sinn, Crazy Horse ins Boot zu holen. Also wenn das nicht vorhanden ist …
Und warum ein reines Coveralbum? Welches Ziel verfolgst du damit? Was ist die Idee?
Warum? Eigentlich gibt es keinen Grund. Es schien mir einfach eine gute Sache zu sein. Und ich habe ja gerade ein Buch geschrieben, worin es auch um die Sachen geht, die ich 1963 und 1964 gemacht habe. Damals, als ich zum ersten Mal Stephen Stills getroffen habe. Zu der Zeit habe ich in einer Gruppe namens The Squires gespielt und bin öfter in einem Café in Fort William in Ontario aufgetreten – mit genau diesen Songs. Woran ich mich während des Schreibens erinnerte. Da kam mir das alles wieder in den Sinn. Und damit auch diese alten Folk-Songs, von denen ich jede Menge im Programm hatte.
Zu denen die Menschen in Kanada und in den USA allein deshalb eine besondere Beziehung haben, weil das ein Teil ihrer DNA ist. Also quasi etwas, das ganz tief in ihnen verwurzelt ist.
Ja, wenn auch nicht in dieser Version. (lacht) Aber ansonsten kennt sie wirklich jeder. Einfach, weil sie von den Texten und manchmal auch von den Melodien Teil des uramerikanischen Kulturguts sind.
Also Protestlieder, traurige Balladen und Stücke, die historische Ereignisse dokumentieren?
Das ist da alles am Start. Und wenn du mich fragst, sind das ziemlich verrückte Songs. Wobei ich hier und da einige Strophen verwendet habe, die über die Jahre weggelassen oder entfernt wurden. Eben, um wieder die Qualität und die Aussage des Originals zu erreichen. Ich habe da wirklich viel recherchiert – und auch die Kommentare fürs Albumcover geschrieben. Eben was die Geschichte der Songs betrifft, woher die Arrangements stammen, wie sie sich entwickelt haben und solche Sachen. Da gab es zum Beispiel diesen Typen, der mal in einer Gruppe namens The Thorns war. Er hieß Tim Rose und ist leider nicht mehr unter uns. Aber einige Leute glauben, dass er ›Hey Joe‹ geschrieben hat. Andere glauben das wieder nicht. Dabei hat er definitiv dafür gesorgt, diesen Song im Folk-Zirkel der Mittsechziger populär zu machen. Also lange vor Hendrix, The Leaves und all den anderen Versionen. Er war einer der Architekten des Folk-Rock. Daran gibt es keinen Zweifel. Und er war Mitglied in einer Gruppe namens The Big Three, mit denen er ›Oh Susannah‹ aufgenommen hat. Von denen habe ich das Stück zum ersten Mal gehört – sprich: ohne Drums. Denn sie hatten keine. Sie hatten nur einen Bass und ein paar Gitarren, das war’s. Und sie spielten in dem Café, in dem auch ich auftrat. Ich habe das ge- hört und gedacht: „Heilige Scheiße, ist das gut. Ich muss das unbedingt mit den Squires spielen – und mit Schlagzeug. So könnte es noch besser werden.“ Anschließend habe ich fünf oder sechs Songs auf ähnliche Weise arrangiert. Eben in dem ich die Melodien umgeschrieben und Bass bzw. Schlagzeug hinzugefügt habe. Also genau nach diesem Konzept, nach dem von Tim Rose. Das war es, was ich damals getan habe.
Und als ich dieses Buch schrieb, habe ich mich daran erinnert. Was dann dafür sorgte, dass ich mich entschied, diese Songs noch einmal zu probieren. Also genau wie damals. Ich suchte nach passenden Songs und traf mich mit Freunden, die mir helfen konnten. Wie Craig Kallman, den Vorsitzenden von Atlantic Records. Er hat eben- falls eine Menge recherchiert und mir ständig irgendwelche alten Titel geschickt, die aus dieser Ecke kommen. Die habe ich mir dann angehört und ein paar davon ausgewählt. So ist das Ganze entstanden.
Angesichts der kommenden amerikanischen Präsidentschaftswahlen: Was willst du uns mit dieser Songauswahl konkret sagen bzw. vermitteln?
Nun, zunächst einmal dachte ich, dass das klassische Konzeptalbum tot wäre. Aber das ist es nicht. Und als ich das erkannte, entschied ich mich, es einfach zu versuchen. Also Musik wie- der als Medium zu benutzen, vielleicht sogar zu missbrauchen. Was es ja kaum noch gibt. Diese Qualität der Musik ist nahezu vergessen – sie ist zur reinen Unterhaltung verkommen. Zu einer Art Klangtapete, zu der man Kartoffeln schält oder Kreuzworträtsel löst. Also nichts, was einen groß beschäftigen könnte. Und das ist verdammt traurig. Das ist nicht der Grund, warum ich Musik mache. Denn da würde ich mich in einem Maße eingeschränkt fühlen, dass ich lieber ganz drauf verzichte. Denn: Ein Künstler, der sein Publikum nicht erreicht, hat seinen Job verfehlt. Ich hoffe, dass es bei mir nie soweit kommt.
Das heißt: Worin besteht die Botschaft?
(lacht) Es geht um dasselbe wie immer. Also das, was ich den Leuten schon seit Jahren vermitteln will: Ich versuche sie auf eine Art spirituelle Reise zu schicken, die es ihnen ermöglicht, neue Kraft und frische Ideen zu sammeln, um wieder auf die Beine zu kommen – physisch und psychisch. Es geht darum, sich wieder zu finden. Und zwar in einer Welt, die sich ständig verändert, und die von uns verlangt, dass wir nicht stehen bleiben, sondern offen und variabel sind, um uns den jeweiligen Verhältnissen anzupassen. Wie die Natur. Und ich bin mir sicher, dass wir das können, dass uns das gelingt – sofern wir nur wollen. Ich bin sehr optimistisch, was das Gute im Menschen betrifft. Zumindest bei denjenigen, die noch Menschen sind.