Der modernen Welt – sagt Ry Cooder – mangle es an Anstand, Sitte und Moral. Sie sei komplett aus den Fugen geraten, verwahrlost und verrottet. Weshalb der 71-jährige Gitarrist ein regelrechtes Manifest vorlegt: THE PRODIGAL SON versteht sich als Lehrstunde in Sachen Gospel, Blues und Spiritualität – aber auch als praktische (Über-)Lebenshilfe.
Das Problem ist nur: Ry Cooder ist nicht wirklich Willens, darüber zu reden: „Wer das Album hört, weiß, was ich damit sagen will“, so der mundfaule Künstler. „Das erschließt sich von alleine – weil ich sehr direkt bin.“ Nämlich mit einer Mischung aus Gospel, Folk, Blues und Rock’n’Roll, die sich gemeinhin unter dem Begriff „Americana“ zusammenfassen lässt. Die erdig, knarzig, staubig und trocken ist. Von seinem markanten Gitarrenspiel und seiner eindringlichen, tiefen Stimme lebt und sich mit Glauben, Nächstenliebe und Spiritualität auseinandersetzt.
„Dinge, die uns in dieser schnelllebigen, rastlosen Zeit vollends abhandengekommen sind“, so der Mann aus Santa Monica, der schulterlanges, weißgraues Haar zu schwarzer Hornbrille und schwarzen Klamotten trägt. Und an die er uns auf seinem metaphorisch betitelten, 16. Studio-Album THE PROGIGAL SON („der verlorene Sohn“) mit einer Mischung aus Eigenkompositionen und Cover-Versionen von Blind Willie Johnson, Blind Roosevelt Graves und den Stanley Brothers erinnert. „Ich will niemanden belehren. Und ich sage auch nicht, dass Religion eine gute Sache oder welcher Glaube der Richtige ist. Ich will nur, dass die Leute ein bisschen runterkommen, durchatmen und sich auf ihren gesunden Menschenverstand besinnen.“
“Heute kann sich niemand ruhigen Gewissens zurücklehnen, denn wir müssen kämpfen – für unsere Rechte, unser Land und die Zukunft unserer Kinder.” (Ry Cooder)
Wodurch alte Schätze der amerikanischen Musikgeschichte wie ›Everybody Ought To Treat A Stranger Right‹, ›You Must Unload‹ oder ›Harbor Of Love‹ eine hochaktuelle politische Relevanz erhalten. Als kleine Denkanstöße, Wachrüttler und Kampfansagen – gegen die Trump-Administration und den Wahnsinn unserer Zeit. „Vor ein paar Jahren hatte ich eigentlich gehofft, dass ich mich mit 70 zur Ruhe setzen kann“, lacht Cooder. „Aber dem ist nicht so: Heute kann sich niemand ruhigen Gewissens zurücklehnen, denn wir müssen kämpfen – für unsere Rechte, unser Land und die Zukunft unserer Kinder.“
Weshalb ihn 2018 auch an die Zeit der Bürgerrechtsbewegung erinnere, die er genau verfolgt habe, die ihn bis heute präge und ihn zu dem gemacht habe, was er ist: Ein Freigeist und ein Grenzgänger zwischen den Kulturen. Einer, der als Gitarrist bei Captain Beefheart angefangen hat, dann Session-Musiker für Neil Young, Randy Newman, die Rolling Stones und Bob Dylan war, der kauzige Solo-Alben veröffentlichte, die sich kaum verkauften und dann mit dem Soundtrack zu Wim Wenders’ PARIS TEXAS (1984) und dem von ihm kuratierten Album BUENA VISTA SOCIAL CLUB (1996) zum Grammy-Preisträger und zur Musik-Institution wurde. „Das waren Glücksgriffe, mit denen ich nie gerechnet hätte – und die mich regelrecht verfolgen: Sie kommen in jedem verdammten Interview zur Sprache. Ich kann die Fragen einfach nicht mehr hören…“
Worüber er stattdessen reden möchte? „Über Autos. Ich liebe Hot Rods und Oldtimer-Rennen. Davon kriege ich nie genug. Und eigentlich wollte ich Lackierer werden, aber dafür fehlte mir das Talent. Ich bin mit dem Pinsel längst nicht so gut wie mit den Saiten.“ Damit ist die Audienz beim „grumpy old man“, wie er in einigen Internet-Foren beschrieben wird, auch schon vorbei. „Ich rede nicht gerne über mich. Es reicht, wenn das andere tun.“