Der ganze Berry auf 16 CDs im edlen Leinenschuber – samt Bildband und Essay über den Wegbereiter des Rock ‘n’ Roll.
Bereits beim Auflegen des ersten Songs ertappt man sich dabei, wie man unwillkürlich mit dem Knie im Rhythmus wippt. Zugleich setzt leichtes Kopfnicken ein – und schon befindet man sich in irgendeiner Bar im St. Louis der 50er, um dem heißesten Rock ‘n’ Roll zu lauschen, den es gibt. In „Maybellene“ ist früh alles da, was Chuck Berry ausmachte: pointierte Lyrics, seine unverkennbare Stimme und die Funken sprühende Gibson.
Berry war der Alleskönner unter den Rock’n’Roll-Helden der ersten Stunde. Mal sang er schneidend und cool, dann wieder glänzte er als schmachtender Crooner, sein Gitarrensound begeistert bis heute junge Gitarristen, und auf der Bühne gab er im Duckwalk den Entertainer. Nebenbei schrieb er seine eigenen Songs, damals noch eine Seltenheit, und nahm sogar sein Management selbst in die Hand. Nicht zuletzt trugen seine Texte über Teenager-Probleme wesentlich dazu bei, dass die Jugendkultur in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zur Leitkultur wurde. Berry formte aus Blues, Jazz, Country und karibischen Klängen etwas vollkommen Neues – und beeinflusste damit die Beatles ebenso wie die Beach Boys oder Bruce Springsteen.
Das Label Bear Family widmet dem Ausnahmekünstler eine edle Leinenbox, die auf 16 CDs das Gesamtwerk Berrys enthält – mithin alle Single- und LP-Tracks für Chezz, Mercury und Atco plus zwei rare Aufnahmen von 1954: das vom Calypso inspirierte ›Oh Maria‹ und ›I Hope These Words Will Find You Well‹. Dazu gibt’s ausgewählte Live-Auftritte, darunter eine Performance auf der Camel Rock’n’Roll Dance Party von 1956 vor kreischenden Jugendlichen, die Walled Lake Shows in Detroit, bei denen das Publikum teils lauter singt als der Sänger selbst, sowie Berrys Besuche bei der BBC.
Gelungen sind auch die beiden Bücher, die in der Box enthalten sind, und von denen eines frühe Fotografien zeigt, auf denen der Junge aus St. Louis bei Auftritten und im Kreis seiner Familie zu sehen ist. Die Aufnahmen stammen aus dem kürzlich entdeckten Archiv von Chucks Onkel Harry Davis. Das zweite präsentiert auf satten 252 Seiten weitere Bilder, eine ausführliche Diskografie, sowie ein Vorwort von Paul McCartney. Zudem zeichnet Berry-Biograph Bruce Pegg in einem neuen Essay die Karriere des Künstlers nach, wobei er ausführlich auf die Anfänge in den 50ern eingeht, als der Frühvollendete für Chezz großartige Tracks wie ›Roll Over Beethoven‹, ›Rock And Roll Music‹ oder ›Johnny B. Goode‹ am Fließband produzierte.
„Wenn man Rock and Roll einen anderen Namen geben wollte, könnte man ihn Chuck Berry nennen.“ (John Lennon)
In Zeiten der Rassentrennung musste sich der aufstrebende Star freilich auch rassistischer Anfeindungen erwehren, etwa wenn der Stenz mal wieder ein weißes Mädchen geküsst hatte – was natürlich strengstens verboten war. Um 1960 geriet die bis dahin steile Karriere erstmals ins Stocken: Die Hits blieben aus, die Glanzzeit des Rock ‘n’ Roll schien vorerst vorbei – und Berry hatte einen Prozess am Hals, weil er sich mit einer Minderjährigen herumgetrieben hatte.
Schon 1964 feierte er ein Comeback. Neue Bands wie die Beatles und die Stones coverten seine Songs und verhalfen ihm so zu neuer Popularität. Da passte es grade recht, dass Berry mit FROM ST. LOUIS TO LIVERPOOL eine seiner besten Platten rausbrachte, mit hervorragenden Stücken wie ›You Never Can Tell‹ und ›Promised Land‹. Nach dem Wechsel zu Mercury Mitte der 60er ging’s dann jedoch bergab. Die Fab Four und Bob Dylan revolutionierten mit ihren Alben die Popmusik, da konnte der doch eher von den Singles her kommende Berry nicht mithalten.
Ende des Jahrzehnts kehrte das alternde Jugendidol zu Chezz zurück – und wie aus dem Nichts gelang ihm mit ›My Ding-A-Ling‹ einer seiner größten Hits überhaupt. Zumindest kommerziell war Berry da noch einmal auf der Höhe, seine Kreativität aber schien langsam erschöpft. Nur allzu deutlich ist das auf seiner letzten Platte mit eigenen Songs zu hören, dem Atco-Album von 1979. Von da an verlegte sich Berry auf Live-Auftritte und tingelte um die Welt.
Mit seinem Werk, vor allem in den 50er Jahren, hat er ein Monument geschaffen. Nicht umsonst schwärmte John Lennon: „Wenn man Rock and Roll einen anderen Namen geben wollte, könnte man ihn Chuck Berry nennen.“ Wer bloß das wirklich Essenzielle vom großen Neuerer haben will, der ist mit einer Best Of gut bedient. Generalisten haben nun allerdings erstmals die Chance, den ganzen Berry in einer Box versammelt zu bekommen. Fans werden allein schon an den umfangreichen Liner Notes und Fotos ihre Freude haben.
Chuck Berry
Rock And Roll Music – Any Old Way You Choose It
Bear Family