Sie sind seit mehreren Dekaden im Geschäft und haben weltweit über 60 Millionen Platten verkauft. Ganz im Gegensatz zum Anfang ihrer Karriere sieht man sie heute als Gralshüter maximaler Integrität im Rock, als die Band, die gigantischen Erfolg nie als Sprungbrett zu egomanischen Exzessen missbraucht hat. Weswegen Stone Gossard nicht den millionenschweren Rockstar raushängen lässt, sondern zu den bodenständigsten, nahbarsten und sympathischsten Musikern überhaupt zählt.
Es war ganz sicher keine einfache Geburt. Gitarrist Stone Gossard und Bassist Jeff Ament, die Keimzelle von Pearl Jam, waren seit 1984 befreundet, was bald zu gemeinsamen Musikprojekten führte. Green River gelten als sagenumwobene Grunge-Urväter, Mother Love Bone schienen den Weg Richtung Mainstream zu ebnen – bis deren Sänger Andrew Wood wenige Monate vor Erscheinen des Debütalbums APPLE einer Überdosis Heroin zum Opfer fiel.
Zu Ehren ihres gefallenen Kameraden hoben die beiden daraufhin Temple Of The Dog aus der Taufe, was aus heutiger Sicht als Grunge-Supergroup aller Grunge-Supergroups gelten würde, schließlich übernahm kein Geringerer als Chris Cornell, Woods Mitbewohner, den Haupt-Gesangspart, und auch ein gewisser Eddie Vedder war an Bord. Nur dass von Grunge noch nirgends wirklich die Rede war und keiner der Beteiligten auch nur annähernd bekannt genug war, um von einem Gipfeltreffen zu reden. Wenige Monate nach Erscheinen dieser Hommage jedoch sollte es kaum noch eine größere Band auf dem Planeten geben als jene, die Ament, Gossard und Vedder im Jahr zuvor gegründet hatten: Pearl Jam.
Wer die Jahre 1991-93 bewusst miterlebt hat, weiß: Einen größeren (und vielleicht absurderen) Hype hat die Rockwelt seither nie wieder erlebt. Nie mehr wieder wurde kurzerhand eine Stadt so unausweichlich zum Synonym für eine – de facto imaginäre – Szene, zum Gütesiegel, mit dem sich rund um den Globus Millionen Platten verkaufen ließen. „The Sound Of Seattle“-Sticker fanden sich auf nicht wenigen CDs dieser Zeit, inklusive Pearl Jams Debütalbum TEN. Praktisch jede Band, die im Umkreis von 300 km um die Metropole im Bundesstaat Washington beheimatet war, drei rotzige Punk-Akkorde klampfen konnte, stylish versifft aussah, möglichst wehleidig klang und am besten noch heroinsüchtig war oder zumindest so tat, als ob, konnte sich eines Plattenvertrags sicher sein. Im Fahrwasser dieser ausgerufenen „Bewegung“ startete sogar manch eine willkürlich damit assoziierte Gruppe durch, die mit Seattle nicht das Geringste zu tun hatte (hallo, Stone Temple Pilots…).
Dass all diese Bands in Qualität, Ambition und tatsächlichem Musikstil meilenweit auseinander lagen, interessierte nicht: Alles war „Grunge“, obwohl man sich wirklich anstrengen musste, um zwischen Alice In Chains, Mudhoney, Nirvana, Pearl Jam oder Soundgarden nennenswerte Parallelen zu finden. Wo die einen den zu reiner Peinlichkeit verkommenen Metal neu erfanden oder einfach nur Lo-Fi-Indie-College-Rock-Geschrammel mit coolerem Aussehen verbanden, führten die anderen Galle spuckenden Hardcore mit sich unbarmherzig im Hirn festklammernden Melodien zusammen oder legten den Grundstein für die New School des Doom. Pearl Jam hingegen waren weder Punk noch Metal noch College-, sondern einfach nur: Rock. Aber eine bis dato selten gehörte Art von selbigem – drangvoll, energiegeladen, tiefgründig, komplex, kathartisch, explosiv, unheilvoll dräuend, vertraut und doch so anders –, was irgendwann mal in einer weiteren hilflosen Genrebezeichnung münden sollte: Alternative Rock.
Nur dass Pearl Jam, ebenso wie einige ihrer Seattle-Kollegen, Anfang der 90er so monumentale Erfolge einfuhren, dass von „alternativ“ nicht die Rede sein konnte. TEN fand letztlich 13 Millionen Käufer allein in den USA, der Nachfolger VS. stellte dort 1993 gar einen Rekord für die meisten Verkäufe in der ersten Woche nach Erscheinen auf: 950.000. Zahlen, an denen damals nur Country-Megastar Garth Brooks vorbei kam und die seit der großen Download-Krise als praktisch unerreichbar gelten, außer man heißt Adele.
Was die allermeisten Bands als perfekten Traumstart feiern würden, hatte allerdings einen kleinen Haken: Niemand bei Pearl Jam wollte eigentlich je so groß werden, und vor allem nicht so schnell. Dass es Kurt Cobain da nicht anders ging, erfuhren wir 1994 auf die tragischste Art und Weise. Pearl Jam reagierten zum Glück weniger drastisch, aber ebenfalls sehr konsequent. Ihr drittes Album VITALOGY erschien zunächst nur auf Vinyl (Jahre, bevor dieses Medium seinen großen Boom erlebte – vielleicht nicht unwesentlich genau dieser mutigen Entscheidung geschuldet), außerdem gab es keine Videos, keine Interviews, vor allem aber fast keine Hits auf dem gewollt sperrigen Werk. Und dann war da noch der jahrelange Streit mit dem US-Branchenriesen Ticketmaster, dessen Quasi-Monopol die Band nicht hinnehmen wollte, was sie effektiv einige Jahre fast komplett vom US-Live-Markt ausschloss.
Mit zwei Jahrzehnten Abstand blickt Stone Gossard heute auf diese Zeit zurück und resümiert: „Es ging alles so wahnsinnig schnell damals, das hat uns total überrollt. Wie hätte irgendjemand voraussagen können, dass die Sache so explodieren würde? Natürlich war es zunächst super, man will ja auch Erfolg haben. Doch in so einem extremen Maßstab nach gerade mal zwei Alben… Wir waren da krass überfordert. Von außen sehen die Leute auch nur das Schöne daran, Hits, Platin, ausverkaufte Tourneen, Geld. Was sie nicht sehen, sind die Sachen, die damit einher gehen, vor allem, wenn man als Newcomer so schnell abhebt. Verträge, Logistik, Anwälte, Zwänge… das hatte alles nichts mit dem zu tun, was wir eigentlich wollten. Vor allem Ed hatte seine Probleme damit, und irgendwann mussten wir dann mal klar Nein sagen. Wir waren nicht alle davon überzeugt, aber Ed sagte, wir sollten ihm vertrauen, und wir zogen es durch. Und er sollte Recht behalten, denn hätten wir uns damals nicht so konsequent verhalten, würde es die Band heute wohl nicht mehr geben. Zu der Zeit allerdings stieß diese Verweigerungshaltung bei vielen auf Unverständnis. Man warf uns immer wieder vor, undankbar zu sein. Aber unser Anliegen damals war vor allem, den Prozess des Musikmachens so unverfälscht wie möglich zu lassen, und das war der einzige Weg, das zu erreichen.“