Zum vierten Studioalbum der international besetzten Prog-Rock-Allstartruppe erklärt Gitarrist Roine Stolt das Innenleben dieser außergewöhnlichen Band.
Es ist schon eine eigenwillige Truppe, die sich da alle paar Jahre in einem amerikanischen Tonstudio trifft, um gemeinsam Musik zu machen. Da gibt es zum einen den häufig vorpreschenden Mike Portnoy, als Schlagzeuger ein Tausendsassa, als Mensch impulsiv bis schwierig. Neben ihm Neal Morse, seit gut zehn Jahren überzeugter Christ und durchaus mit gesundem Ego ausgestattet, um seine eigenen Ideen für die besten zu halten. Diesen beiden starken Charakteren stehen zwei zurückhaltende Musiker gegenüber: Pete Trewavas, Bassist bei Marillion und sicherlich einer der höflichsten Menschen, die man sich vorstellen kann. Last but not least: Roine Stolt, Gitarrist der Flower Kings und ein vergleichsweise scheuer Künstler, der harte Auseinandersetzungen möglichst meidet. Portnoy, Morse, Trewavas, Stolt, diese vier nennen sich Transatlantic und zelebrieren eine progressive Rockmusik, wie man sie derart wundervoll seit den Hochphasen von Camel, Yes oder King Crimson nicht mehr hören konnte. „Wenn wir vier im Studio aufeinandertreffen, herrscht eine ganz besondere Magie“, bestätigt Stolt die einzigartige Stimmung bei Transatlantic-Produktionen. „Natürlich könnte man auch, wie heute üblich, ein Album in unterschiedlichen Studios und getrennt voneinander aufnehmen. Aber genau das wollen wir nicht. Alle großen Rockgruppen haben ihre Meisterwerke gemeinschaftlich eingespielt, seien es die Beatles oder die großen Bands der 70er. Das spezielle Flair ginge verloren, wenn Transatlantic nicht geschlossen im Studio arbeiten würden.“
Andererseits: Genau deshalb dauert es zumeist deutlich länger als erhofft, bis sich für die vielbeschäftigten Musiker ein Zeitfenster öffnet, in dem alle verfügbar sind. Stolt: „KALEIDOSCOPE war letztendlich schon seit fast zwei Jahren geplant, aber es klappte einfach nicht, alle vier Beteiligten unter einen Hut zu kriegen.
Umso mehr freut es mich jetzt, dass es letztendlich doch noch funktioniert hat.“
KALEIDOSCOPE heißt das neue Album der Allstar-Truppe, es ist die vierte Studioscheibe, mit der Transatlantic ihr Publikum verzücken. Fünf neue Songs hat das Quartett aufgenommen, davon sind zwei Stücke deutlich über 25 Minuten lang, der Rest ist kürzer. Welche dieser beiden Kategorien den Beteiligten selbst am besten gefällt, kann Stolt nicht sagen: „Auch wenn es wie ein Widerspruch klingt, aber die kürzeren Nummern stellen für uns eine mindestens ebenso große Herausforderung dar. Man muss sehr sorgfältig darauf achten, dass das Arrangement wirklich schlüssig ist und kein Part einem anderen den Rang abläuft. Ich denke, für Transatlantic wäre es der Horror, eine Radionummer im Stile von Coldplay oder U2 zu schreiben, wenn man wirklich auf jeden Beat, jede Note, jede Textzeile genau achten muss.“ Aber auch längere Kompositionen bergen ihre Tücken: „Wenn man einen Song über mehr als zehn Minuten ausdehnt, muss man die Intensität und Dynamik variieren, um den Zuhörer nicht zu überfordern. Also baut man ruhigere Momente, kleine Jam-Parts oder längere Improvisationen ein. Nur so kann man verhindern, dass den Fans nicht anschließend der Schädel dröhnt.“
Apropos: Den Künstlern selbst rauchte bei den Aufnahmen zu KALEIDOSCOPE so manches Mal der Kopf. „Wir alle haben unsere Egos und kämpfen um unsere Visionen wie Löwenmütter um ihre Babys. Allerdings, früher war das noch weitaus schlimmer. Heute spürt man, dass wir zehn Jahre älter und erkennbar reifer geworden sind. Als Mike noch bei Dream Theater trommelte, stand er ständig unter Strom. Und auch Neal ist durch seine Hinwendung zum Christentum milder, besonnener und geduldiger geworden. Als wir mit Transatlantic starteten, war ich in der Band der Unbekannteste und dementsprechend zurückhaltend. Dadurch, dass Mike und Neal heute toleranter als früher sind, traue ich mich mehr und kann meine Ideen selbstbewusster vertreten. Insgesamt haben wir auf KALEIDOSCOPE so gut und kooperativ wie nie zuvor zusammengearbeitet. Natürlich sind wir auch jetzt noch immer ein wenig selbstsüchtig, aber als Komponist sollte man das auch zumindest ansatzweise sein.“
Man spürt die neue Gelassenheit in jedem Ton, der auf KALEIDOSCOPE festgehalten wurde. Transatlantic scheinen sich diesmal mehr getraut zu haben als noch auf dem Vorgänger THE WHIRLWIND (2009), als die Band sukzessive in Richtung Mainstream abzudriften drohte. Anno 2014 klingt alles stilistisch breiter aufgestellt und mit experimentellen Passagen aufgewertet. „Wir alle lieben die Beatles, Led Zeppelin, Deep Purple, aber auch die frühen Fusion-Bands wie Weather Report oder Return To Forever. Hinzu kommen Mikes Affinität zum Heavy Metal und Neals Qualitäten als Singer/Songwriter. Pete und ich kommen eindeutig vom britischen Prog Rock der 70er. Das alles haben wir diesmal auf KALEIDOSCOPE ineinander verwoben. Der stilistische Unterschied zu THE WHIRLWIND mag bei oberflächlicher Betrachtung nicht allzu groß sein, wenn man sich aber die Songs im Detail anhört, wird man merken, dass die neue Scheibe viel dunkler und experimenteller ist und wir uns getraut haben, innerhalb eines Stückes zu jammen und die Arrangements der Songs komplexer und widerspenstiger zu gestalten. Ich persönlich finde das ganz wunderbar, meines Erachtens passt die neue Scheibe noch besser zum künstlerischen Anspruch von Transatlantic als THE WHIRLWIND.“
Offenbar scheint die gesamte Band dieser Meinung zu sein, denn – oh Wunder – nach dem gemeinsamen Studiotermin wurde schon im Frühjahr 2014 ein weiteres Zeitfenster für eine ausgedehnte Welttournee freigeschaufelt. Stolt freut sich schon jetzt darauf: „Ich finde, dass Transatlantic auch auf der Bühne eine ganz außergewöhnliche Band sind. Mit Pete und mir gibt es zwei – in Anführungsstrichen – ruhige Europäer und mit Mike und Neal zwei – auch wieder in Anführungsstrichen – wilde Amerikaner. Ich weiß nicht, ob es Zufall ist, dass ausgerechnet Pete und ich die ruhenden Pole der Band und Mike und Neal so extrovertiert sind, aber in Transatlantic-Konzerten ergänzt sich das perfekt. Ich schaue mir öfter andere Bands an und bin immer dann ein wenig enttäuscht, wenn tolle Musiker so gar nicht aus sich herausgehen. Da ich selbst ein eher introvertierter Typ bin freut es mich, wenn Mike und Neal auf der Bühne alle Blicke auf sich ziehen. Die Mischung macht’s, und die ist bei Transatlantic so ausgewogen wie bei kaum einer anderen Prog-Rock-Gruppe.“
Simone Bösch