Mit Traffic machte Jim Capaldi wunderschöne Musik und
schrieb einige Klassiker der 60er und 70er. Auch seine
Solowerke zeigten seine Klasse als Songwriter und Musiker.
Am bekanntesten ist er wohl als Schlagzeuger von Traffic, jener Band, die er 1967 mitbegründete, und folglich für seine tragende Rolle bei einem der wichtigsten Acts des experimentellen Rock. Doch die Muse trug Jim Capaldi in so viele Richtungen und Inkarnationen, dass eine kürzlich erschienene Reissue eines seiner Solo-Meisterwerke die perfekte Gelegenheit für einen Identitätscheck bietet. Island Records veröffentlichte online eines der Highlights unter den mehr als ein Dutzend Alben, die er unter seinem eigenen Namen machte: SHORT CUT DRAW BLOOD von 1975. Für Fans ist diese Platte wie ein Freund, den man nach langer Zeit wiedersieht. Für alle, die nicht mit seinem Werk vertraut sind, ist es aber ein Fenster in eine Karriere, die man viel zu leicht unterschätzen könnte. Dass sechs neue Reissues in schwerem Vinyl aus dem Box-set TRAFFIC – THE STUDIO ALBUMS 1967–74 nun einzeln erhältlich sind, hilft ebenso. Von einem loyalen Teamplayer zum Solo-Hitmacher und Philanthropen, von einem geschätzten Freund der Winwoods, Claptons und Harrisons zum preisgekrönten Songwriter war Jim Capaldi ein Mann mit vielen Gesichtern. Viele dieser Gesichter mögen nur Fassade gewesen sein, doch das spielt keine Rolle.
Die Musik selbst hielt ihn am Leben, bis zu seinem viel zu frühen Tod 2005 im Alter von 60 Jahren. Das Line-up des Tribute-Konzerts zu seinen Ehren 2007 im Londoner Roundhouse unter dem Titel „Dear Mr. Fantasy“ zeigte eindrucksvoll, wieviel Liebe und Respekt seine Zeitgenossen für ihn empfanden. Pete Townshend, Paul Weller, Jon Lord, Cat Stevens, Gary Moore und natürlich Steve Winwood waren unter den zahlreichen Anwesenenden, die ihm ihre Ehre erwiesen. SHORT CUT DRAW BLOOD ist eine wunder bare musikalische Zeitkapsel und ein bewun dernswerter Einstieg für alle, die ihre Wertschätzung für diesen stolzen West Midlander entwickeln wollen, der um die ganze Welt reiste. Aufgenommen nach dem ursprünglichen Ende von Traffic, waren darauf andere ehemalige Mitglieder jener verehrten Band zu hören, etwa Rebop Kwaku Baah und natürlich Steve Winwood, während Paul Kossoff, Chris Spedding, Jess Roden und John „Rabbitt“ Bundrick Gastauftritte ablieferten. Das Album changiert wie so vieles in Capaldis Katalog mühelos zwischen Pop, Rock, Jazz und Reggae und warf ganz nebenbei noch ein paar Hitsingles ab: eine kleinere mit dem sanften ›It’s All Up To You‹ und eine von einem durchschlagenden Erfolg gekrönte in Form einer Coverversion des unsterblichen ›Love Hurts‹, das zur selben Zeit wie ›Bohemian Rhapsody‹ in den britischen Top 5 war.
Ein unerwartetes Vergnügen für einen Mann, der mit den glorreichen 45ern des amerikanischen Prä-Beatles-Pop von z. B. Roy Orbison aufgewachsen war, dessen Version er liebte. Als ich mir dieses Album wieder anhörte, dachte ich darüber nach, wie oft Capaldi Teil nicht nur meiner musikalischen Erziehung, sondern auch meines Arbeitslebens gewesen war. Ich begegnete ihm zweimal zu Interviews, einmal zur Veröffentlichung seiner Platte SOME COME RUNNING von 1988 und dann gemeinsam mit Winwood, als sie sich 1994 unter dem Namen Traffic nochmal für FAR FROM HOME und die folgende Tournee zusammentaten. Zudem gab ich ihm die schreckliche Aufgabe, zu einem Artikel, den ich für eine Tageszeitung schrieb, eine Trauerrede für seinen Freund George Harrison beizutragen, als der 2001 verstarb. Und in trauriger Symmetrie war es dann keine vier Jahre später an mir, einen Nachruf auf Capaldi selbst für das Billboard Magazine zu verfassen. In beiden Fällen fühlte es sich schmerzhaft und viel zu früh an.
Der digitale Release von SHORT CUT DRAW BLOOD hat uns allen kollektiv den Gefallen getan, einen wichtigen Musiker neu zu beleuchten, ganz zu schweigen von einem Philanthropen, dessen treffend beobachtete Texte über die Sorgen und Leiden des Planeten heute erschreckend prophetisch erscheinen. Es ist eine Platte, die die Vielseitigkeit eines Künstlers unterstreicht, der richtig hart rocken konnte, aber genauso gut sensibles Songwriting im Stil von Justin Hayward oder sogar Carole King beherrschte. Und jetzt kommen wir in den Genuss einer exklusiv für diesen Artikel verfassten neuen Lobrede auf Capaldi von Steve Winwood, der verrät, dass Traffic sich wiedervereint hätten, wenn Capaldi nicht gestorben wäre.
„Jim war einer meiner besten Freunde und noch bis weit in die 90er mein Songwriting-Partner, 20 und mehr Jahre nach der Auflösung von Traffic“, so Winwood. „Er besaß grenzenlosen Enthusiasmus und eine fast kindliche Lebensfreude, ebenso wie eine fast unheimliche Fähigkeit, alle, denen er begegnete, mit seinem Charme zu verzaubern. Unsere Schreibmethoden waren in vielerlei Hinsicht unorthodox. Und
wir dürfen nicht vergessen, dass Jim ein großartiger Schlagzeuger war, ebenfalls unorthodox, es war also
unvermeidlich, dass Rhythmus und Trommeln ein Teil des Schreibprozesses waren. Dass unsere Schöpfungen aus Jams entstanden, ist teilweise korrekt, doch man muss sich daran erinnern, dass jegliche Komposition zunächst aus der Improvisation geboren wird. Jim schrieb oft Texte, bevor wir anfingen, die Musik zu improvisieren, und wenn es sich dann richtig anfühlte, begann ich, Jims Worte zu singen. Traffic lösten sich Mitte der 70er auf und ich denke, das lag an einer gewissen Desillusionierung, die Musikszene als solche betreffend. Der Punkrock kam auf und wir hatten wahrscheinlich das Gefühl, dass wir nicht mehr in die Zeit passten. Später wurde uns dann natürlich klar, dass Traffic sehr wohl einen Platz in der britischen Musikgeschichte hatten, und das belegten wir dann mit der Reunion von Traffic 1993. Wir hatten geplant erneut als Traffic zu touren, und das hätten wir auch getan, wenn Jim nicht viel zu früh von uns gegangen wäre. Auf SHORT CUT DRAW BLOOD arbeitete ich nicht mit Jim am Songwriting zusammen. Meine Rolle war, als Musiker bei einigen der Sessions zu spielen, und ich war an der Produktion beteiligt. Ich weiß, dass Jim seine eigenen musikalischen Ideen hatte, und seine Solowerke waren wohl die Vehikel für seine Musik, denn bei den Platten von Traffic war er darauf beschränkt, die Texte zu verfassen sowie Schlagzeug und Percussion zu spielen. Jim und ich nahmen uns gemeinsam die Zeit, uns aus allen Bereichen des Lebens inspirieren zu lassen. Wir verbrachten viele glückliche Stunden damit, auf dem Land umherzustreifen – hauptsächlich in England, manchmal auch in Wales – und dabei oft historische Stätten zu besuchen. Manchmal machten wir zufällige Bekanntschaften. Ich vermisse ihn immer noch sehr. SHORT CUT DRAW BLOOD ist ein angemessenes Vermächtnis und die Würdigung eines großen Mannes.“ (text: Paul Sexton)