Petty ist vierundvierzig, als WILDFLOWERS rauskommt, und worauf er damals zusteuert ist dem, was seinem Protagonisten in ›To Find A Friend‹ passiert, ziemlich ähnlich – auch wenn seine eigene Ehe noch zwei Jahre halten wird. Aber die Art, wie er das in den Zeilen gerade eben beschreibt, so direkt und intuitiv und geradeaus dahergesagt, ist es tatsächlich auch ziemlich witzig. „I know your weakness, you’ve seen my dark side“, singt er in ›Only A Broken Heart‹ und wünscht sich, nochmal neu anfangen zu können. Dazu spielen die schönsten George-Harrison-artigen Harmonien, die man sich nur vorstellen kann. Der spröde Folk von ›Don’t Fade On Me‹ ist Depression und Müdigkeit abgerungen, in ›Hard On Me‹ will jemand einen Arm um sich gelegt bekommen, und in ›Higher Place‹ zermartert sich einer die ganze Nacht durch das Hirn und wird die quälenden Zweifel doch nicht los.
Den Sinn für Humor nicht zu verlieren, wenn einem das Wasser bis zum Hals steht: Dieses Ziel wird in den Lyrics ausgegeben, und es ist der Machart der Songs auf WILDFLOWERS eingeschrieben. Das schwer taumelnde ›House In The Woods‹ ist Liebesschwur und Treueschwur und Zeugnis der Einsamkeit, alles zusammen. Zwei ganz unterschiedliche, auf ihre jeweils eigene Art und Weise zu den stärksten Petty-Liedern überhaupt zählende Stücke kommen am Schluss. Zuerst ›Crawling Back To You‹. Verzweifelt versucht der Ich-Erzähler da, an den anderen beziehungsweise die andere zu glauben, das ist alles, was er will. Wenn das herausgeschrien ist und es dann ruhig wird und dann mit „it was me and my sidekick…“ wieder losgeht, dann ist das einfach zu schön.
Nach der letzten Strophe setzt das Schlagzeug wieder ein, und ein Refrain, den man nach dem ersten Hören nicht mehr aus dem Kopf kriegt. Der Song hat eine soulige, transzendierende Energie. Dazu der komische Ranger mit den „burning eyes“ und die „chambermaid“, die überrascht aufwacht. ›Wake Up Time‹ klingt mit seinem Klavier und irgendwie auch von der Stimme her zunächst, als könnte es von Jackson Browne sein. Die leicht hämisch gesungenen Zeilen „you were so cool back in high school, what happened“ andererseits erinnern ein wenig an Bob Dylans ›Like A Rolling Stone‹, und wenn die Streicher einsetzen, biegt das Ganze in eine filmische Richtung ab.
Das Gefühl kennt man. Wenn man Glück hat, findet sich jemand, mit dem man den ganzen Schmerz schultert, der im Leben auf einen wartet, singt Petty. Und auch wenn er sich gerade noch (lustigerweise fast wie Comic-Held Lucky Luke) fühlt wie ein „poor boy, a long way from home“, ist doch klar:
It’s wake up time
time to open your eyes
and rise and shine
Dann ist WILDFLOWERS vorbei, nach mehr als einer Stunde Laufzeit. Und tatsächlich haben sie damals noch viel mehr Lieder eingespielt, als die fünfzehn, die letztendlich auf der Platte gelandet sind. Die Aufnahmen zogen sich ja auch von Juli 1992 bis April 1994. Klar ist man nicht durchgehend im Studio, aber immer wenn neues Material da ist, arbeitet man für ein paar Stunden, Tage, Wochen. 26 bis 28 Songs werden es am Ende sein, zumindest erinnert sich Rick Rubin so. Und zunächst bringen sie im Frühjahr 1994 auch ziemlich alle davon zu Warner. Bitte sehr: einmal Doppelalbum! Die Anzugträger von der Plattenfirma sind wenig begeistert: zu viele Lieder, zu wenig Hits, vom finanziellen Standpunkt her, und überhaupt… – so etwas in die Art halt.
Das ist nicht weiter überraschend. Dass Petty nicht auf seiner ursprünglichen Idee besteht, dagegen schon. Wenn man daran denkt, dass er vor DAMN THE TORPEDOES, rund fünfzehn Jahre zuvor, wegen eines Streits mit seiner Plattenfirma damit gedroht hat, das fertige Album nicht rauszubringen. Bei Verhandlungen mit den Label-Oberen zieht er damals mitten im Konferenzraum sein Klappmesser aus der Hosentasche und fängt an, sich damit die Fingernägel zu putzen. Er habe sich nichts Böses dabei gedacht, sagt er später. Den Nachfolger, HARD PROMISES von 1981, will die Plattenfirma ursprünglich inklusive Star-Zuschlag zum Preis von 9,98 Dollar verkaufen, anstatt der damals üblichen 8,98 Dollar. Auch hier setzt sich der Musiker durch. „Sie wollten das Beste für Tom“, sagt Rubin heute über die Situation bei WILDFLOWERS. Und offenbar sah Tom das in diesem Fall genauso. Auf alle Fälle läßt er sich die Doppel-LP ausreden.
Zusammen wählen er und Rubin die Stücke aus, die unbedingt auf die Platte sollen. Der Rest ergibt sich durch Rumprobieren und durch Schauen, was zusammenpasst. „Es hat mir vielleicht ein bisschen leid getan um ein paar Sachen, aber ich liebe das Album“, so Rubin. „Es kam mir nie in den Sinn, dass es nicht gut sein könnte.“ Und auch Petty bereut die Entscheidung von damals später nicht. Da ist sich zumindest sein Gitarrist Mike Campbell im Interview sicher.
WILDFLOWERS erscheint also im November 1994 als einfache LP. Es ist keine klassische Heartbreakers-Rockplatte, es ist eine Songwriter-Platte. Und das nicht nur, weil viel akustische Gitarre und Klavier darauf sind und wenige Rockbrecher wie ›Breakdown‹ oder ›Even The Losers‹.
Petty war nie jemand, der sich öffentlich über seine Gefühle ausließ, und auch in seiner Musik ist er dem Hörer gegenüber nie indiskret geworden. Aber auf WILDFLOWERS offenbart er vielleicht mehr von seiner privaten Situation, von dem, was ihn beschäftigt, als irgendwo sonst. Also zumindest lässt sich das im Nachhinein gut so reininterpretieren. Natürlich ist es keine Autobiograf ie, klar. Aber „es ist das Authentischste, Persönlichste, was er je gemacht hat“, findet jedenfalls seine Tochter Adria. „Es gibt keine Figuren, er spricht über sich selbst, über das, was damals in seinem Leben vorging“, sagt sie.
Das jetzt erscheinende Boxset WILDFLOWERS AND ALL THE REST mache das sogar noch deutlicher, so Adria. Je nach Deluxe-Stufe erscheint es mit zehn weiteren Liedern, die damals eigentlich auf dem Album hätten landen sollen, mit akustischen Home-Recordings der Stücke, mit Live-Aufnahmen von den 90ern bis zu den letzten Shows 2017 sowie mit alternativen Versionen. Und wenn ihr Vater im unveröffentlichten ›Confusion Wheel‹ ganz ohne Umschweife singt, „so much confusion has entered my life …, and I don’t know who to trust“, dann kriegt man eine Vorstellung davon, was Adria mit „authentisch“ und „persönlich“ meint.
Eine frühe Version von ›Don’t Fade On Me‹ klingt noch getriebener und verlassener als die endgültige, auch der Text ist anders. Und gerade die Home-Recordings, zwischen Folk und Americana und mit ganz viel Mundharmonika, zeigen Petty mehr als sonst als klassischen Singer/Songwriter. Den „All The Rest“-Teil, also die zehn weiteren Lieder, hat er vor seinem Tod noch selbst zusammengestellt, alles andere haben seine Töchter Adria und Annakim, seine Witwe Dana, die Heartbreakers Mike Campbell und Benmont Tench sowie Produzent Ryan Ulyate erledigt.
1996, zwei Jahre nach WILDFLOWERS, lässt sich Petty von seiner Frau Jane Benyo scheiden. Er zieht allein in ein Haus und hat genug Zeit, über seine Situation nachzudenken. Womöglich hat er sich damals auch ein neues Auto gekauft, eine neue Bar gefunden, so wie der Protagonist in seinem Trennungssong ›To Find A Friend‹. Auf jeden Fall legt er sich, in einem offensichtlich ernsten Fall von Midlife-Crisis, mit Mitte vierzig noch eine vorübergehende Heroinsucht zu. Was vermutlich weniger lustig ist, als es sich anhört. „Es war nicht die beste Phase in meinem Leben“, meint er später dazu. „Aber ich hab’s da durch geschafft und bin auf der guten Seite wieder rausgekommen.“
Er habe sich mit seiner Musik die Chance gegeben, zu heilen, ist seine Tochter Adria überzeugt. Er selbst sagt in seinem letzten Interview: „Ich habe an den Rock’n’Roll geglaubt – ich tue es immer noch“. Sein letztes Konzert gibt er am 25. September 2017 in der Hollywood Bowl in Los Angeles. Er spielt fünf Lieder von WILDFLOWERS. „Er sagte mir, dass ihm die Platte Angst mache, weil er nicht wirklich weiß, warum sie so gut ist, wie sie ist“, erzählt Rick Rubin einmal. „Da ist diese Getriebenheit. Es geht darum, wo er damals war, es ist wie eine Verlängerung dieses Augenblicks.“ So als wären diese Songs, dieses Album über Tom Petty hereingebrochen. Nicht kontrollierbar, nicht wiederholbar.