Roger Waters THE WALL Live
Es ist ein Einstand nach Maß: Obwohl bei einer Premiere selten alles glatt geht, schafft es Waters, sein Publikum im Air Canada Centre im kanadischen Toronto in den Bann seiner 135-minütigen THE WALL-Aufführung zu ziehen. Waters, der von Snowy White (Gitarre), Dave Kilminster (Gitarre), G.E. Smith (Gitarre/Bass), Jon Carin (Keys), Harry Waters (Hammond-Orgel), Graham Broad (Schlagzeug) sowie den Sängern Robbie Wyckoff, Jon Joyce, Pat Lennon, Mark Lennon und Kipp Lennon unterstützt wird, kann sogar an die Glanzzeiten der Band vor 30 Jahren anschließen. Das ist bei Weitem keine Selbstverständlichkeit. Schließlich steht Waters heute allein im Rampenlicht, David Gilmour, Nick Mason und natürlich Richard Wright sind nicht an seiner Seite. Doch das, was dadurch an musikalischer Intensität und Authentizität verloren geht, wird durch andere Faktoren ausgeglichen. Im Mittelpunkt des Abends stehen nicht allein die Songs von THE WALL, sondern das Gesamtkunstwerk, also Musik + Show-Elemente + Botschaft.
Das mag ein wenig merkwürdig anmuten in einer Arena, in der normalerweise Sportgroßveranstaltungen stattfinden, bei der sich die Menschen auf den Rängen mit Popcorn und Cola vollstopfen. Doch es funktioniert. Schon allein die Ausmaße der Bühnenaufbauten beeindrucken: Über 70 Meter ist die Mauer lang, und sie ragt elf Meter in die Höhe. Auch die Marionetten dürfen selbstverständlich nicht fehlen: Für das Design ist ein alter Bekannter verantwortlich – Gerald Scarfe, der auch schon die 1980er-THE WALL-Aufführung in künstlerischer Hinsicht betreute und für die Konzeption der Mauer sowie deren Einrahmung durch die gigantischen Puppen zuständig war, hat neue Gestaltungsideen in das Projekt eingebracht.
Die heutige Aufführung ist, obwohl weitaus opulenter als vor 30 Jahren, leichter zu realisieren als die THE WALL-Version von 1980 oder die 1990er-Berlin-Show. Grund dafür: die verbesserten technischen Möglichkeiten, die u.a. der Architekt und Stage Production-Manager Mark Fisher als „Segen“ anpreist. So geht schon zu Beginn der Show ein wahres Feuerwerk aus Lasern und vielfarbigen Strahlern auf die 14.000 Fans nieder, dazu werden im Sekundentakt bissige Schlagworte auf die Mauer projiziert. Hier wird deutlich: Roger Waters ist nicht mehr der „ängstliche junge Mann“, der er früher war, wie er im CLASSIC ROCK-Interview berichtet. Er hat sich gelöst von der damaligen Situation, in der er das Doppelalbum THE WALL komponiert hat. Die persönlichen Probleme, mit denen er sich 1979 herumschlagen musste, haben inzwischen universellen Charakter bekommen: Kriege, nationale oder religiöse Konflikte, die Übermacht der internationalen Großkonzerne – all dies erhält visuell Einzug in der 2010er-Version von THE WALL. Von der Kopftuchträgerin über den New Yorker Feuerwehrmann bis hin zum Wehrmachtssoldaten reicht das Spektrum.
Die Band bleibt ob dieser optischen Übermacht weitgehend im Hintergrund. Allein Waters steht im Rampenlicht, der Rest der Crew, verhüllt in dunkler Kluft, untermalt zwar fehlerfrei und auf technischem Topniveau, kann jedoch keine emotionalen Ausrufezeichen setzen. Insbesondere bei ›Comfortably Numb‹, bei dem Robbie Wyckoff auf der Mauer thront und David Kilminster das Solo übernimmt, macht sich Gilmours Fehlen bemerkbar. Denn obwohl der Sänger sich keinen Schnitzer erlaubt, fehlt die Emotionalität, die der Komponist des Songs stets in das Stück legen konnte. Doch an der Macht des Gesamtkunstwerks THE WALL lässt sich dennoch nicht rütteln. Viele Fans sind überwältigt von den Eindrücken, die auf sie niederprasseln, offene Münder gibt es besonders bei den jungen Konzertbesuchern, die das erste Mal in den Live-Genuss der Floyd-Songs kommen. Und dann sind da natürlich auch die Momente, in denen kollektive Gänsehaut hochkriecht. Als am Ende die Mauer niederbröckelt natürlich, aber auch im Song ›Another Brick In The Wall Pt. 2‹, in dem der Schulchor auftaucht und mit inbrünstiger Abscheu auf den überdimensionalen Aufblas-Lehrer zeigt.
Jedoch, und das ist auch sehr gut so, sind es nicht immer die großen Themen und die bekanntesten Songs, bei denen Waters es schafft, die Menschen zu berühren. Gerade in den stillen Momenten, so etwa in ›Hey You‹, das die zweite Sethälfte einleitet, kommt das Ursprüngliche von THE WALL wieder zum Vorschein: die Einsamkeit, Isolation, Furcht eines Individuums. Denn gerade die Gedanken und Gefühle des Einzelnen, also sein geistiges und körperliches Wohlergehen, sollten wieder mehr in Mittelpunkt rücken – in einer Zeit, in der Katastrophenmeldungen und brutale Bilder den Alltag bestimmen, ist dies die wohl wichtigste Botschaft der aktuellen THE WALL-Aufführung. Roger Waters hat diese Lehre für sich selbst bereits gezogen, nun versucht er, diese Erkenntnis an andere weiterzugeben. Und er ist schlau genug, sie nicht mit der brachialen Moralkeule zu vermitteln, sondern in Form einer Show, die musikalisch und optisch überaus beeindruckend ist.