Solo-Ausflüge sind wir von Mick Jagger gewohnt. Abstecher in andere Berufszweige auch, schließlich hat er sich bereits als Schauspieler seine Sporen verdient. Doch eine neue Band, also keine bloße Projektnummer mit ihm als alleinigem Dreh- und Angelpunkt, das ist in den vergangenen fünf Jahrzehnten noch nicht dagewesen. Christian Stolberg blickt daher zurück auf die bisherige Karriere von Mick Jagger und ergründet, wie es dazu kommen konnte, dass der Sänger sich jetzt dazu entschlossen hat, seiner großen Liebe Rolling Stones erstmals eine Nebenbuhlerin an die Seite zu stellen.
Mick Jagger ist nicht nur eine der schillerndsten Figuren der Rockszene, der Mann hat durchaus auch einige Geheimnisse. Und sucht jetzt mit SuperHeavy seine vielleicht letzte Chance für ein zweites musikalisches Leben neben den Rolling Stones.
Der Privatmensch Jagger bleibt in dieser cleveren Inszenierung seit Jahrzehnten außen vor. Bei all seiner internationalen Medienpräsenz, trotz diverser Dokus und mindestens vier ernstzunehmenden Buchbiografien: Jagger bleibt, vor allem wenn man genauer hinschaut, eine der widersprüchlichsten und enigmatischsten Figuren im Popgeschäft – oder, wie es seine britischen Landsleute wohl ausdrücken würden: „Will the real Mick please stand up?“
Micks wahre Identität
Dass bei Michael Jagger nicht alles ist, wie es zunächst scheint, fängt schon bei seiner Herkunft an: Vor allem in ihren frühen Jahren gaben sich die Rolling Stones gern und stolz als echte „working class lads“ – nicht zuletzt weil eine proletarische Herkunft damals in britischen Jung-Blueser-Kreisen (wohl wegen der vermeintlichen Solidarität mit den ausgebeuteten Baumwollpflückern in den USA) fast schon Verpflichtung war. Jagger aber entstammt in Wahrheit der unteren Mittelklasse, dem bildungsbeflissenen englischen Kleinbürgertum, genauer gesagt: einem Lehrerhaushalt. Großvater David Earnest Jagger hat schon sein Brot im Schulwesen verdient, und auch Vater Basil Fanshawe („Joe“) Jagger ist (Sport-)Lehrer gewesen. Mutter Eva steuert als Avon-Beraterin zusätzliches Geld zur Haushaltskasse bei und ist aktives Mitglied bei den Tories, Englands konservativer Partei – ausgerechnet. Die Zukunftspläne des älteren ihrer beiden Söhne fallen daher zunächst entsprechend bieder aus: „Ich sang im Kirchenchor und wollte später einmal Journalist oder Politiker werden“, gibt Mick Mitte der sechziger Jahre in einem Interview zu.
Daraus ist bekanntlich nichts geworden. Mitschuld daran trägt Keith Richards. Die beiden lernen sich bereits als ABC-Schützen in der Wentworth Primary School kennen. Dank seiner guten Noten setzt „Mike“, wie ihn seine Freunde damals noch rufen, seine Schullaufbahn ab 1954 in der Dartford Grammar School fort. Das Duo verliert sich aus den Augen. Bis zu jenem legendären Aufeinandertreffen an einem Bahnsteig im Juli 1960, als beide (damals in England sehr seltene) Bluesplatten unter dem Arm haben, über diese Scheiben wieder ins Gespräch kommen und ein paar Wochen später eine Band gründen.
Eine Karriere verspricht sich Jagger damals davon nicht, wie er vor zehn Jahren dem „Spiegel“ in einem Interview verrät: „Ich habe anfangs in einer Blues-Band gespielt, wir sind in kleinen Clubs aufgetreten, und mit dieser Musik konnte man damals, Anfang der Sechziger, überhaupt nichts werden. Egal, ob ich berühmt werden wollte oder nicht: Ich sah gar keine Chance, Rockstar zu werden. Erst als sich plötzlich, und natürlich ohne unser Zutun, der Musikgeschmack insgesamt änderte, kam unsere Zeit.“
Und so büffelt der junge Mick noch bis Herbst 1963 als Student an der auch außerhalb des Königreichs renommierten London School Of Economics And Political Sciences, bis er sich schließlich voll und ganz auf das Abenteuer Rock’n’Roll einlässt. Es ist im Grunde schon immer fraglich gewesen, wie viel von dem vermeintlichen Anti-Establishment-Image der Stones (das nicht unwesentlich von ihrem ersten Manager Andrew Loog Oldham lanciert wird) bei Jagger wirklich auf tiefen persönlichen Überzeugungen basiert – denn mit denen hat es Mick, der Schillernde, eh nicht so, vor allem, wenn es um das Showbusiness geht: „Die Wahrheit ist ja bekanntlich sowieso ein relativer Begriff. Einen Autounfall werden drei Zeugen aus vollkommen unterschiedlichen Perspektiven beschreiben. Und genau so ist es auch mit der Geschichte der Rolling Stones.“
Kein Weltverbesserer
Am ehesten sind es noch die rigide Sexualmoral der Nachkriegszeit und die drückende Langeweile im grauen Post-War-England, die in Michael Jagger echte innere Widerstände und den Wunsch zum Ausbrechen wachrufen. In politischen Fragen dagegen gibt er sich bewusst vage bis zweideutig – schließlich singt er selbst im berühmten, oft als Rebellionshymne fehlgedeuteten ›Street Fighting Man‹ in Wahrheit: „But what can a poor boy do/except to sing for a rock’n’roll band?“
Für Weltverbesserer und Sozialromantiker lässt der Millionär Jagger jedenfalls nie große Sympathien erkennen. Stattdessen zeigt er inzwischen eine deutliche Affinität zu konventionellen Ehrungen: 1995 wird Mick zum Ehrenpräsidenten der University Of London ernannt, im selben Jahr darf er sich Ehrenmitglied der London School of Economics nennen. Und am 12. Dezember 2003 schließlich schlägt Prinz Charles Mick Jagger – in Vertretung für Königin Elisabeth II. – für seine „Verdienste um die populäre Musik“ zum Ritter – seitdem trägt er den Titel „Sir“.
Unter Stones-Fans löst das durchaus gemischte Reaktionen aus. Nicht wenige sind enttäuscht, dass der einstige Rockrebell diese Auszeichnung angenommen hat – und auch der sarkastische Kommentar von Charlie Watts spricht Bände: „So ziemlich jeder andere wäre bei diesen Widersprüchen gelyncht worden! 18 Frauen und 20 Kinder – und trotzdem wird er zum Ritter geschlagen, fantastisch!“
Erwartungsgemäß ist auch Keith Richards wütend, dass Mick diese „schäbige Ehrung” tatsächlich akzeptiert hat: „Ich habe keinen Bock, mit jemandem auf der Bühne zu stehen, der ein Krönchen und einen alten Hermelin trägt. Das sind wirklich nicht die Dinge, für die The Rolling Stones stehen, oder?“ Jaggers Replik kommt flink wie immer, aber nicht sonderlich überzeugend: „Keith wäre doch am liebsten selbst zum Ritter geschlagen worden. Das ist wie mit Kindern und Eiscreme – alle wollen ein Eis, aber nicht jeder kriegt eins.“
Business-Strategien
Jagger lebt seine „bürgerliche Seite“ in den vergangenen Jahrzehnten vor allem als das Businessgehirn der Stones aus. Sein Coming-Out als geborener Geschäftsmann hat der einstige Wirtschaftsstudent in einer Stunde der Krise: Nachdem sich die Band 1971 mit ihrem zweiten Manager, dem berüchtigten Allen Klein, überwirft, übernimmt Jagger die Kontrolle über die geschäftlichen Angelegenheiten der Stones – bis 2007 gemeinsam mit Rupert Prinz zu Löwenstein-Wertheim-Freudenberg. Der Brite mit dem deutschen Adelstitel (Mick nennt ihn gerne „Roupie The Groupie“) ist Jagger von Pink Floyd empfohlen worden. Löwenstein und Jagger entwickeln eine professionelle Business-Organisation für die Band: Fast alle Geschäftsbereiche werden fortan von eigenen Tochterfirmen erledigt. Und die meisten dieser Gesellschaften haben ihren Sitz in den Niederlanden, wo der Fiskus ausländischen Künstlern gegenüber traditionell große Zurückhaltung übt.
Dass Jagger schon als junger Mann ein gewiefter Verhandlungsführer sein kann, kann man im Film „Gimme Shelter“ bereits in einigen kurzen Szenen erahnen. Heute wird seine geschäftliche Akribie in der Branche geradezu gefürchtet. Allerdings spielt er selbst diese Rolle gerne herunter. Zahlenmenschen, die danach fragen, ob sich eine Show nicht doch vielleicht etwas billiger produzieren lasse, sind ihm suspekt. „Die geschäftliche Seite macht mir keinerlei Spaß“, behauptet Jagger. Doch die Tatsache, dass das Unternehmen „Rolling Stones“ wirtschaftlich gesehen das erfolgreichste der Popgeschichte ist, hat viel mit Jaggers Talent zu tun. Mehr als zwei Milliarden Dollar dürften die Herren Jagger, 68, Keith Richards, 67, Ron Wood, 64 und Charlie Watts, 70, nach Branchenschätzungen seit 1989 eingenommen haben. Jaggers Privatvermögen ist vor fünf Jahren auf 300 Millionen Euro taxiert worden. Er investiert es z.B. in Immobilien und Kunstsammlungen.
Diese Zahlen lassen es etwas eigenartig erscheinen, dass sich Keith Richards in Interviews regelmäßig über den Geschäftssinn seines Mitmusikers (und besonders dessen angeblich häufige Kontrollanrufe bei den Plattenfirmen der Stones) aufregt. Schließlich hat auch Riffmeister Keith über die Jahrzehnte von der Tatsache profitiert, dass sein Songwriting-Partner das von Allen Klein einst angerichtete Management-Chaos bei den Stones beendet hat und seitdem die Zügel in der Hand behält. Dennoch mault Richards gern: „Mick ist bloß die alte Frau, die die Buchführung macht, das musikalische Produkt kommt ganz von mir.“
Genau diese Provokationen aber stacheln immer wieder Jaggers Ehrgeiz an. Er will zeigen, dass er auch ohne Keith Richards, ja sogar ohne die Rolling Stones ein Top-Künstler ist. Mit diesem „Beweis“ hat er ohnehin verblüffend lang gezögert. Erst 1984, ermutigt vom damaligen CBS-Boss Walter Yetnikoff, der gerade erst einen 28-Millionen Dollar schweren Vertriebsdeal mit der Band unterzeichnet hat, nimmt Mick sein erstes Soloalbum in Angriff. Er fliegt mit seiner Familie in die Karibik, und während Jerry Hall dort mit den lieben Kleinen eine Art verlängerte Ferien verlebt, spielt Mick mit Größen wie Jazz-Pianist Herbie Hancock, Pete Townshend, Sly Dunbar und Nile Rodgers (Chic) in den „Compass Point“-Studios in Nassau mit dem Dub- und Funk-Spezialisten Bill Laswell als Produzent sein erstes Soloalbum SHE’S THE BOSS ein – und lässt Reportern gegenüber gerne mal durchblicken, dass die Stones in seiner Karriereplanung fortan erst an zweiter Stelle rangieren. Keith Richards schäumt.
SHE’S THE BOSS, das 1985 erscheint, ist mit Single-Hits wie ›Just Another Night‹ und ›Lucky In Love‹ immerhin so erfolgreich, dass Jagger weitere Soloaktivitäten plant. So tritt er am 13. Juli 1985 mit Tina Turner beim (weltwelt live im TV übertragenen) Live-Aid-Konzert in Philadelphia auf. Zusammen mit David Bowie veröffentlichte er zu diesem Anlass auch noch die Benefiz-Single ›Dancing In The Street‹. Die Single erreicht internationale Top-Positionen, das Video zum Lied findet viel Beachtung, aber Jagger zögert zunächst, seine Solo-Ambitionen auch mit Tourneen zu unterstützen. Stattdessen quält er sich mit den Stones das durchwachsene 1986er-Album DIRTY WORK ab.
Erster Solo-Fehler
Erst als sein zweites Soloalbum, das von Kritikern durchaus freundlich behandelte PRIMITIVE COOL (1987), trotz der erfolgreichen Single ›Let’s Work‹ nicht die erwarteten Verkaufszahlen erreicht, ringt sich Jagger dazu durch, auch solo live aufzutreten – und macht dabei jenen Fehler, der vielleicht entscheidend für die weitere Entwicklung seiner Einzel-Karriere ist: Im Rahmen seiner japanischen Solo-Konzerte im März ’88 sowie der Australien-Gigs im September und Oktober gleichen Jahres sind auch viele Stones-Klassiker zu hören – das bringt Keith Richards (der mit TALK IS CHEAP im gleichen Jahr ebenfalls ein Soloalbum einspielt, bei Konzerten aber Stones-Material tunlichst meidet) so sehr in Rage, dass eine gemeinsame Zukunft der „Glimmer Twins“ mit den Rolling Stones ernsthaft in Frage steht. Es beginnt eine unappetitliche Schlammschlacht, die monatelang über die Medien ausgetragen und von der britischen Boulevardpresse genüsslich als „World War III“ bespöttelt wird.
Viel spricht dafür, dass wir hier den Schlüssel dazu finden, warum Jagger seine Solo-Ambitionen seither nur mehr halbherzig verfolgt. Die sichere Bank (durchaus im wörtlichen Sinne!) namens Rolling Stones zu riskieren, erscheint ihm unklug. Zumal um diese Zeit eine andere entscheidende Entwicklung einsetzt: Seit 1989 klingelt für die Rolling Stones die Kasse in zuvor ungekannten Dimensionen. Damals macht der kanadische Impresario Michael Cohl der Band nämlich ein ungewöhnliches Angebot: Cohl garantiert 40 Millionen US-Dollar für 40 Auftritte. Prompt begraben die Streithähne Jagger und Richards ihr Kriegsbeil. Wegen des finanziellen Risikos wird die Tour bei Lloyds versichert – und alle Stones müssen vorab zu einem Gesundheitscheck. Sogar Keith Richards besteht – angeblich zu seiner eigenen Überraschung. 116 Konzerte später hat „Steel Wheels“ rund 260 Millionen Dollar eingespielt, mehr als jede Rock-Tournee zuvor.
Während Keith Richards Soloplatten musikalisch immer so nah an den Rolling Stones bleiben (und er selbst viel zu sehr als der „typische Stone“ angesehen wird), dass sie nie mehr sein können als ein ergänzendes Beiwerk zum Œuvre der Band, ist die Frage, warum Jaggers Solokarriere letztendlich nie richtig abgehoben ist, schwieriger zu beantworten. Auf seinen Alben (auch auf WANDERING SPIRIT, 1993, und GODDESS IN THE DOORWAY, 2001) hat Mick musikalisch manches ausgelebt, was er bei den Rolling Stones immer nur andeutungsweise durchsetzen konnte (die Liebe zum Reggae allerdings teilen Mick und Keith). Aber es ist ihm nicht gelungen, als Musiker eine andere (vielleicht auch etwas altersgemäßere) „Persona“ für sich zu etablieren als die des hyperagilen Stones-Frontmanns. In den Videoclips zu seinen Solo-Singles wirkt Mick immer ein bisschen, als habe er seine Band verloren.
Beinahe ebenso durchwachsen ist die Bilanz seiner Bemühungen als Schauspieler: Sein Debüt in Nicolas Roegs Kultthriller „Performance“ ist durchaus überzeugend, doch die Rolle des dekadenten Rockstars Turner dürften viele Kinogänger fast als eine Art Selbstporträt aufgefasst haben. Immerhin spielt er in dem Film so überzeugend, dass Roeg auch bei weiteren Filmen gerne auf Popsänger als Hauptdarsteller zurückgreift (beispielsweise auf David Bowie als Außerirdischer in „The Man Who Fell On Earth“, 1976, und Art Garfunkel als Alex Linden in „Blackout Bad Timing“, 1980). Eher mittelmäßig gerät der 1970-er-Film, in dem Mick den australischen Outlaw Ned Kelly verkörpert. Seine vermutlich beste Darbietung als Schauspieler bekommt das Kinopublikum hingegen nie zu sehen: In der ersten, unvollendeten Fassung von Werner Herzogs Film „Fitzcarraldo“ spielt Jagger die Nebenrolle des Wilbur. Bei den Dreharbeiten im peruanischen Urwald erkrankt jedoch der ursprüngliche Hauptdarsteller Jason Robards so schwer, dass Herzog notgedrungen umbesetzen und den Film mit Klaus Kinski in der Hauptrolle wieder neu beginnen muss. Nach der Unterbrechung hat Jagger allerdings Tournee-Verpflichtungen mit den Stones und verzichtet daher auf eine Fortführung seiner Arbeit. Da Herzog den Musiker nicht durch einen anderen Schauspieler ersetzen will, streicht er die Rolle kurzerhand aus dem späteren Film.
Gute Kritiken erhält 1992 der Science-Fiction-Film „Freejack“, in dem Mick Jagger den Kopfgeldjäger Victor Vandacek mimt – allerdings ist dem finsteren Streifen kein Glück beim Publikum beschieden, er spielt nur etwa knapp die Hälfte seiner 30 Millionen US-Dollar Produktionskosten wieder ein – mit der für das Filmbusiness typischen Folge, dass die Hauptdarsteller danach erst einmal nicht mehr sonderlich gefragt sind.
Will man gerecht sein, muss man anmerken, dass es durchaus nicht so eindeutig an Jaggers darstellerischen Fähigkeiten liegt, dass ihm als Schauspieler bislang der Durchbruch nicht recht gelingen wollte. Gerade der künstlerisch überaus anspruchsvolle Werner Herzog lobt Jaggers Leistung in der später abgetriebenen „Fitzcarraldo“-Erstfassung noch heute als „sensationell“. Vor diesem Hintergrund mutet es wie ein ironischer Witz an, dass Mick gekniffen haben soll, als Keith Richards ihn angeblich dazu überreden wollte, im vierten Teil von „Pirates Of The Caribbean“ mitzuwirken…
Das Hauptproblem für den Mimen Jagger ist schlicht und ergreifend die überwältigende Bedeutung des Rockstars Jagger. Mick gilt als globale Ikone – kaum ein Kinobesucher kann das verdrängen. Wenn jemand das markante Gesicht mit den aufgeworfenen (und durch das Stones-Logo nochmal zusätzlich ikonisierten) Lippen auf der Leinwand sieht, denkt er unwillkürlich an Rock-Musik bzw. die Rolling Stones. Durchaus erfolgreich – und mittlerweile wahrscheinlich auch glücklicher – ist der Filmfreak Jagger deshalb mit seinen Kino- und TV-Aktivitäten auf der anderen Seite der Kamera. Seit 1995 betreibt er zusammen mit der Produzentin Victoria Pearman die Firma „Jagged Films“, die nicht nur in Stones-Aktivitäten wie Martin Scorseses Konzertfilm „Shine A Light“ oder der Dokumentation „Stones in Exile“ involviert gewesen ist, sondern mit dem Kinofilm „Enigma“ 2001 weltweit Erfolge bei der Kritik und beim Publikum feiern kann. Er basiert auf dem gleichnamigen Roman des britischen Autors Robert Harris aus dem Jahre 1995. Hintergrund der Geschichte ist die von den Briten während des Zweiten Weltkriegs durchgeführte Entzifferung deutscher U-Boot-Funksprüche, die mit Hilfe der Schlüsselmaschine „Enigma“ chiffriert worden sind.
Filmjournalisten, die Mick als Produzenten Jagger im Kontext der Dreharbeiten zu „Enigma“ erlebt haben, zeigen sich beeindruckt von der Kompetenz und Seriosität, mit der sich der Geschichts-Freak angesichts der komplexen zeithistorischen Hintergründe des Films in das Projekt gestürzt hat. Es kann gut sein, dass sie mehr von dem Privatmenschen Michael Jagger kennengelernt haben als die meisten, die ihn je in seiner Rolle als Rolling Stone getroffen haben.
Und jetzt also SuperHeavy. Es ist Jaggers alter Freund, der umtriebige und jedem musikalischen Experiment notorisch offene Ex-Eurythmic Dave Stewart, der den Anstoß zu dieser ungewöhnlichen Variante einer Supergroup gibt. Eben jener Dave Stewart, der seinerzeit schon das zweite Soloalbum von Mick, PRIMITIVE COOL, produziert hat. „Yeah, das ganze Projekt hat einen interessanten Entstehungsprozess hinter sich“, sagt Stewart. „Es ist zwar alles in verschiedenen Ländern passiert, aber seinen Ursprung hat es in Jamaika, wo ich ein Haus oberhalb der Ortschaft St. Ann besitze. Ich war auf halber Höhe eines Hügels dort – und hatte so ein typisches Erlebnis, wie es auf der Insel öfter passiert, wenn abends bei Sonnenuntergang mit einem Mal die ganzen Soundsystems angehen. Ich hörte also aus der einen Richtung einen dubbigen Bass-Sound kommen, und aus der anderen Richtung, von einem anderen Dorf her, etwas, das sich anhörte wie die Stimme von jemandem, der gerade zu toasten anfängt – allerdings ziemlich aufgeregt und hoch. Und dann kamen aus verschiedenen Richtungen noch drei oder vier andere Stimmen dazu. In diesem Augenblick hatte ich die Eingebung zu dem, was wir jetzt machen. Nicht, dass ich ein besonderes Kraut geraucht hätte“, grinst Stewart, „aber mit einem Male passte in meinem Kopf alles perfekt zusammen, und ich dachte mir: ‚Wow, das könnte interessant werden‘ – und rief dann umgehend Mick an. Und er sagte auch direkt: ‚Mensch, das könnte wirklich spannend sein!‘“
Der Reiz des neuen
Und so kommt es, dass eine junge Schönheit wie Joss Stone im Studio mit dem notorischen Womanizer Jagger zusammentrifft – etwas, das früher sicherlich nicht ohne Folgen geblieben wäre. Aber wir dürfen diesmal davon ausgehen, dass es bei gemeinsamen Gesangsübungen geblieben ist – und zwar weniger wegen Micks Alter („Der Typ hat immer noch mehr Power als fast alle jungen Kerle, die ich kenne“, staunt die 24-jährige Joss), sondern eher deshalb, weil Jagger die nun immerhin schon seit zehn Jahren anhaltende Beziehung zu der Stylistin L’Wren Scott tatsächlich ernst zu nehmen scheint.
Ein wichtigerer Reiz für Mick am Unternehmen SuperHeavy ist dagegen die stilistische Offenheit des Projekts. Alle seine Soloalben haben Songs aus unterschiedlichen Stilrichtungen –stets sind karibische Einflüsse im einen oder anderen Song zu hören, aber der Stilmix von SuperHeavy geht noch entschieden weiter. Unter anderem finden sich in einem Stück auch Textzeilen der persoarabischen Sprache Urdu. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz in London fragt Jagger denn auch kokett in die Runde: „Wo werden die Leute das wohl bei iTunes einordnen – in welche Schublade passt das da? ‚Unbekanntes Genre‘, glaube ich, nennen sie alles, was sie nicht kategorisieren können!“
Zudem scheint der Showbiz-Veteran noch immer daran interessiert zu sein, als Musiker neue Erfahrungen zu machen: „Es war echt spannend, mal mit vier anderen Vokalisten gleichzeitig zu arbeiten. Sowas habe ich ja noch nie gemacht. Ich hatte richtig Spaß, als mir klar wurde, dass ich dieses Mal gar nicht alle Gesangsparts allein schultern muss.“
Es hört sich ganz so an, als käme Mick mit diesem recht spontanen und vor allem völlig ohne strategische Karriere-Überlegungen gestarteten Projekt wieder dahin zurück, womit für ihn auch im Rock’n’Roll einst alles angefangen hat: Spaß und Abenteuer. Nicht die schlechtesten Voraussetzungen für ein kleines, spätes Glück abseits der Rolling Stones.
Geburtstag: 26. Juli 1943
Geburtsort: Dartford, Kent, Großbritannien
Herkunft: Vater Basil Fanshawe („Joe“) und Mutter Eva Ensley Mary sowie Bruder Chris Jagger (*19. Dezember 1947)
Familie: Jagger war zwei Mal verheiratet und hat sieben Kinder von vier verschiedenen Frauen. International bekannt ist vor allem Georgia May Jagger.
Trivia: Als Kind hat Mick Jagger Eiscreme verkauft, um sich etwas Taschengeld zu verdienen. Während seiner Studienzeit an der London School Of Economics arbeitete er als Portier im Bexley Mental Hospital. Die Hell‘s Angels wollten Jagger 1975 ermorden, weil dieser sich beim Altamont Free Concert 1969 negativ ihnen gegenüber geäußert hat. Der Sänger liebt Cricket und meditiert eigener Aussage zufolge jeden Morgen. Sein Privatvermögen wird auf rund 300 Millionen US-Dollar geschätzt.
Geburtstag: 21. Juli 1978
Geburtsort: Kingston, Jamaica
Eltern: Vater Bob Marley (6. Februar 1945 – 11. Mai 1981) und Mutter Cindy Breakspeare
Spitzname: Jr. Gong
Karriere: erster Auftritt mit der Band Shephards im Alter von 13 Jahren. Sein Debütalbum MR. MARLEY erscheint 1996 – mit Bruder Stephen als Co-Writer und Produzent. Im September 2005 kommt sein drittes Werk WELCOME TO JAMROCK auf den Markt. Die gleichnamige Single, die auf einem Riddim von Ini Kamoze basiert, thematisiert das harte Leben in seiner Heimat – und trifft den Nerv des internationalen Publikums. Sie steigt sowohl in den USA als auch im UK in die Charts ein und sorgt dafür, dass Marley ein Jahr später zwei Grammy-Auszeichnungen erhält. 2010 hat Damien Marley DISTANT RELATIVES veröffentlicht, eine Kollaborationsplatte mit Nas.
Geburtstag: 9. September 1952
Geburtsort: Sunderland, Großbritannien
Karriere: Im Jahr 1971 startet Stewarts Karriere bei den Folkrockern Longdancer. 1976 lernt er Annie Lennox kennen und lieben, sie spielen ein Jahr später gemeinsam bei The Tourists. 1980 endet die Beziehung, nicht aber in geschäftlicher Hinsicht. Die beiden gründen die Gruppe Eurythmics, mit der sie Weltruhm erlangen, u.a. dank Hymnen wie ›Sweet Dreams‹. Ende der Achtziger veröffentlicht Stewart auch einige Soloplatten, in Zusammenarbeit mit Candy Dulfer gelingt ihm mit ›Lily Was Here‹ aus dem gleichnamigen Film ein europaweiter Top-Ten-Hit. 1990 lösen sich die Eurythmics (erstmals) auf, der Musiker macht mit Dave Stewart & The Spiritual Cowboys weiter und kollaboriert zudem mit renommierten Künstlern wie Tom Jones, arbeitet fürs Musical oder produziert Ringo Starrs LIVERPOOL 8.
Er war schon immer der sprichwörtliche Hansdampf in allen Gassen und ist auch heute noch überaus umtriebig: Ex-Eurythmics-Mitgründer David Allan Stewart (59) unterhält nicht nur eine vielfältig schimmernde Solokarriere als Musiker, Produzent, Buchautor und Soundtrack-Komponist, sondern ist zusammen mit Mick Jagger auch die treibende Kraft hinter dem Projekt SuperHeavy. Stilistisch bleibt der Mann flexibel: War sein im Frühjahr erschienenes Soloalbum The Blackbird Diaries noch eher an Blues und Country orientiert, so ist der aus dem britischen Sunderland stammende Teilzeit-Jamaikaner nun maßgeblich für den starken karibischen Einschlag in der Musik von SuperHeavy verantwortlich. Ganz sicher ist Stewart ein Experte in Sachen Mick Jagger: Mit Mick verbindet ihn eine mehr als 20-jährige Kreativfreundschaft.
Interview: Christian Stolberg
Dave, das Line-up einer neuen Band ausgerechnet um fünf Sänger herumzubauen, ist ziemlich ungewöhnlich, zumindest wenn es sich nicht um eine DooWop- oder eine A-Cappella-Gruppe handelt. Wie kam es zu dieser Besetzung?
Zunächst mal bin ich grundsätzlich immer daran interessiert, etwas Neues auszuprobieren. Im Fall von SuperHeavy hat das ganz einfach damit zu tun, wie ich überhaupt auf die Idee zu dem Projekt kam. Ich war in Jamaika, wo ich wohne, eines Abends auf dem Heimweg und hörte aus verschiedenen Richtungen mehrere Soundsystems unterschiedliche Musikstile spielen: jamaikanischen Reggae und Dub, aber auch Blues und sogar asiatische Musik. Es war eigentlich eine verrückte Mischung, die aber irgendwie auch Sinn ergab und gut klang. Und davon habe ich dann Mick erzählt, der sofort Feuer und Flamme war, damit herumzuexperimentieren. Von diesem Moment an haben wir dann gemeinsam darüber nachgedacht, wer alles an dem Projekt beteiligt sein könnte – und so kamen wir dann auf Joss, auf Damian und auf A.R. Rahman.
Wie genau stand denn das Rezept für den Stilmix fest, den ihr aus diesen von dir genannten Einflüssen basteln wolltet, als es schließlich mit der ganzen illustren Truppe zusammen ins Studio ging?
Noch nicht sehr detailliert – es war eher eine Vision als eine genaue Sound- oder Stilvorstellung. Wir verzichteten sogar ganz bewusst darauf, schon einzelne Songs auszuarbeiten, bevor wir schließlich alle im Studio beisammen hatten. Da haben wir dann ganz explizit mit einem Free-Form-Ansatz angefangen zu jammen. Am Ende der ersten Woche waren immerhin schon sieben echt tragfähige Sachen aufgenommen – nur dass die alle so um die 30 Minuten auf der Uhr hatten…
Das Album ist ja insgesamt ziemlich karibisch geprägt. Wie viel von deiner Zeit verbringst du denn heutzutage in Jamaika?
Ich habe mir da vor einigen Jahren ein Haus gekauft, in einem kleinen Dorf oberhalb von St. Ann. Es steht auf einem Grundstück, das einem Freund von mir gehörte, einem jamaikanischen Bassisten, der allerdings nicht auf dem SuperHeavy-Album mitspielt. Das Haus ist mein Rückzugsort, wenn ich etwas Ruhe vom ganzen Trubel im Musikgeschäft brauche. So drei oder vier Mal im Jahr bin ich für ein paar Wochen hier. Und natürlich schnappe ich so allerhand von dem auf, was musikalisch auf der Insel so abgeht. Aber Reggae, Raggamuffin und Dub haben mich schon immer interessiert – und bei Mick ist das ganz ähnlich.
Wie sieht Mick Jaggers Rolle bei SuperHeavy denn genau aus?
Ich sehe Mick und mich als gleichberechtigte Gründer des Projekts und außerdem als Produzenten, die für alle eine grobe Richtung vorgeben und die Rahmenbedingungen schaffen. Natürlich konnte jeder der anderen eigene Ideen einbringen – und sie haben das auch reichlich getan. Micks und mein Job war es dann wieder, alles auf die nächste Stufe zu heben und dafür zu sorgen, dass aus dem ganzen Input an Ideen und Klängen auch kompakte Songs wurden. Und natürlich hat sich Mick auch als Songschreiber und Sänger stark eingebracht – es ist immer faszinierend, aus der Nähe mitzuerleben, wie er mit seiner Stimme je nach Song und Thema unterschiedliche Charaktere annimmt.
Du kennst Mick ja bereits sehr lange, hast schon vor 24 Jahren einige Songs auf seinem zweiten Soloalbum Primitive Cool produziert. Warum hat seine Solokarriere trotz teils durchaus erfolgreicher Alben und Singles eigentlich nie so recht abgehoben?
Ich glaube, das liegt an der schieren Größe der Rolling Stones. Seit den sechziger Jahren waren sie so präsent, so prägend und wichtig für die ganze Rockszene, dass es den Leuten inzwischen einfach schwerfällt, sich Mick irgendwie als Musiker außerhalb der Gruppe vorzustellen. Sie sehen halt immer den Stone in ihm. Was nicht ganz gerecht ist, denn er hat solo einige tolle Songs gemacht – und seine musikalische Fantasie geht deutlich über die Stones hinaus!
Wie soll es denn jetzt mit SuperHeavy weitergehen – werdet ihr wie eine richtige Band touren, oder bleibt das Ganze mittelfristig doch eher eine Art musikalisches Urlaubsabenteuer auf hohem Niveau?
Ausgedehnte Tourneen sind aufgrund der vielfältigen sonstigen Aktivitäten der einzelnen Mitglieder wohl kaum drin, ansonsten kann ich mir zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber eine ganze Menge an Dingen vorstellen. Von einer einzelnen Show im kleinen Rahmen bis hin zu einem ganzen Festival, das man rund um SuperHeavy herum aufbauen könnte. Außerdem erlauben die technischen Möglichkeiten heute ja so viele Varianten. Wir haben zum Beispiel rund um die Albumsessions einen ca. einstündigen Film aufgenommen – und es ist noch gar nicht richtig klar, was wir mit dem anfangen. Im Übrigen haben wir insgesamt 30 Tracks aufgenommen, aber nur 16 davon aufs Album gepackt. Es ist also noch eine Menge Material da, mit dem wir noch interessante Dinge anstellen können. Das Abenteuer SuperHeavy ist jedenfalls definitiv noch nicht vorbei.
Und wie sieht es mit deiner eigenen Karriere in nächster Zeit aus? Du hast ja kürzlich in Nashville sowohl dein eigenes Album The Blackbird Diaries als auch Joss Stones aktuelle Platte LP No.1 produziert.
Im Moment bin ich noch hauptsächlich damit beschäftigt, für SuperHeavy die Trommel zu rühren. Dann muss ich mich um den Soundtrack für den Kinofilm „The Hole Of The Fence“ kümmern. Im November geht es dann mit den Songs der Blackbird Diaries und einer Band, die ich mir in Nashville zusammengestellt habe, auf Australien-Tournee. Es gibt außerdem schon wieder eine ganze Reihe Anfragen von Künstlern, deren Alben ich produzieren soll – aber die Namen darf ich im Moment noch nicht nennen. Ich habe also alle Hände voll zu tun – aber wenn es nach mir geht, dann dürfen SuperHeavy danach gerne wieder für eine ganze Weile meine Top Priority sein!
Geburtstag: 11. April 1987
Geburtsort: Dover, Kent, Großbritannien
Eltern: Richard und Wendy Stoker, das drittjüngste von insgesamt vier Kindern. Der Vater arbeitet als Früchte- und Nuss-Händler, die Mutter ist bis 2004 die Managerin ihrer Tochter.
Einflüsse: Dusty Springfield und Aretha Franklin
Karriere: 2001, Joss Stone ist gerade 13 Jahre alt, tritt sie bei der BBC-Talentshow „Star For A Night“ auf. Mit Coverversionen von Aretha Franklin, Whitney Houston und Donna Summer schafft sie es bis ins Finale und gewinnt schließlich den Wettbewerb. 2003 erscheint ihr Debüt THE SOUL SESSIONS, auf dem sie zahlreiche Kollaborationen mit Soul-Größen aus Miami integriert. Ihr 2004er-Werk MIND BODY & SOUL (das diesmal aus Eigenkompositionen besteht) schießt auf Platz eins der UK-Charts, in den USA reicht es für Rang elf. Seither hat Stone nicht nur mit diversen Musikern zusammengearbeitet und einen Grammy gewonnen, sondern sich auch als Schauspielerin einen Namen gemacht.
Geburtstag: 6. Januar 1966
Geburtsort: Madras (heute: Chennai), Indien
Eltern: Vater Rajagopala Kulasekara Shekhar (1933-1976) und Mutter Kareema, zwei Geschwister
Karriere: Da Rajagopala Kulasekara Shekhar als Filmmusik-Komponist arbeitet, kommt A.R. bereits mit dem Beruf in Berührung. Er assistiert seinem Vater und spielt auch Keyboard-Parts ein. Als A.R. neun ist, stirbt Shekhar, die Familie muss sich mit dem Verleih von Instrumenten durchschlagen. Rahman, wie sich der als A. S. Dileep Kumar seit seiner Konvertierung zum Islam im Jahr 1989 nennt, bekommt dennoch eine fundierte Ausbildung als Musiker und ist heute ein weltweit gefeierter Filmmusik-Komponist. Für den Soundtrack zum Film „Slumdog Millionaire“ gewann er 2009 den Golden Globe Award, den British Academy Film Award sowie je zwei Oscars und zwei Grammys.