So viel zur einen Seite des großen Musikgeschäfts. Für die andere war die Beat-Explosion selbstverständlich genauso revolutionär: Plattenfirmen, Manager, Produzenten und Konzertveranstalter, sie alle musste umdenken, und zwar bitteschön schnell, denn niemand wollte „die nächsten Beatles“ und die daraus resultierende Vermarktungskette verpassen. Dick Rowe von Decca, der die Beatles mit dem Argument abgelehnt hatte, Gitarrengruppen hätten keine Zukunft, konnte eben noch die Kurve kratzen.
Decca nahm die Rolling Stones unter Vertrag, später dann The Moody Blues, Them und die Small Faces. Gerade noch gut gegangen. Doch in den Chefetagen der Plattenfirmen, besetzt mit ehrwürdigen Herren reiferen Alters, die Klassik und – Gipfel der Modernität – vielleicht noch Jazz goutieren konnten, Schlager eigentlich verachteten, aber als Goldesel tolerierten und mit dem Lärm dieser jungen Wilden so gar nichts anfangen konnten, herrschte eine gewisse Verunsicherung. War dieses „Yeah Yeah“ nicht doch nur wieder so eine schnelllebige Mode, die im nächsten Jahr vorbei sein würde? So wie der Twist, der Madison und all die anderen Schrullen der tanzenden Jugend? Musste man das überhaupt ernst nehmen?
Und: Schadete es nicht dem Ansehen der Firma, diesen ungewaschenen Halbaffen ein Forum zu bieten? Letztlich überzeugten dann, ganz marktwirtschaftlich, die Bilanzen. Beat war offensichtlich ein Geschäft. Sogar ein Riesengeschäft.
Weshalb die Plattenfirmen Konsequenzen zogen, zunächst vor allem in Großbritannien, woanders war man wesentlich verschlafener. Talentscouts, möglichst szeneaffin, stromerten durch die Clubs, junge Produzenten und Tontechniker, die nicht mehr im weißen Kittel durchs Studio schwebten, sondern wie Musiker aussahen und auch so sprachen, erhielten ihre erste Chance. Bands wollten die „nächsten Beatles“ werden, Manager „der nächste Brian Epstein“. Es schlug also die Stunde der leicht exzentrischen Jungdynamiker, die wie Andrew Loog Oldham die Rolling Stones ins rechte Licht rückten, wie Kit Lambert und Chris Stamp die Zerstörungsorgien der Who finanzierten oder wie Mickie Most ein kleines Pop-Imperium aufbauten. Die Merchandising-Industrie arbeitete ebenfalls auf Hochtouren, ob „Original Beatle Wig“, Buttons, T-Shirts oder Absonderliches wie die Beatles-Thermoskanne – erdacht in den USA, Made in Hong Kong und ein Wahnsinnsgeschäft.
Auch die Konzertbranche sah sich vor neue Herausforderungen gestellt: Club-Shows gab es auch weiterhin, ebenso die üblichen Gigs in Stadthallen und Universitäten, doch mit dem Erfolg der Beatles in den USA kam ein weiteres potenzielles Venue hinzu: das Stadion. Die Beatles hatten 1965 im New Yorker „Shea Stadium“ knapp 60.000 Zuhörer auf einmal beschallt, das weltweit erste Großereignis dieser Art. Logistisch anspruchsvoll und für die Hersteller von Musikelektronik der Weckruf, endlich mal ausreichend dimensionierte P.A.-Anlagen mit- samt Monitoren zu entwickeln, denn recht schnell war klar: Das hier ist die Zukunft, es führt kein Weg zurück.
Die USA, der lukrativste Musikmarkt der Welt, wurde von der „britischen Invasion“ geradezu überrannt. Bislang traditionell eine unangefochtene Exportnation in Sachen Unterhaltungsmusik, hatte sich das Blatt plötzlich komplett gewendet. Die US-Industrie reagierte erst erstaunt, dann verschnupft und schließlich pragmatisch, machte sich mit den Monkees die eigenen Beatles einfach selbst. So der Plan. Funktionierte nur so mittelgut, aber immerhin begann mit der Beatlemania auch die große Zeit von Beach Boys und Byrds, also hochseriösen Eigengewächsen.
Und Großbritannien? Etablierte sich auf der Landkarte der großen Pop-Nationen. Ein Platz, den es noch heute innehat. Dank der Beatles und niemandem sonst, denn vor den Fab Four erreichte Unterhaltungsmusik aus Großbritannien in erster Linie ein heimisches Publikum, im Rest der Welt – kulturell besonders verbundene Nationen wie Australien und Neuseeland einmal ausgenommen – stießen Music-Hall-Schlager, Elvis-Kopien wie Cliff Richard und traditioneller Folk auf überschaubares Interesse. Bis Anfang 1963 war es nur zwei britischen Acts gelungen, jemals die US-Charts anzuführen: Mr. Acker Bilk mit ›Stranger On The Shore‹ und The Tornados mit ›Telstar‹, zwei Instrumentalstücke von 1962. Im Frühjahr 1964 belegten The Beatles die ersten fünf Plätze der US-Charts, bis heute ein Rekord.
Mitte der 90er, als Britpop von Blur, Pulp und Oasis hoch im Kurs standen, wurde ja (von wem auch immer) das „cool Britannia“ ausgerufen. Nette Idee, nur so cool wie zu Zeiten der Beatles war das Vereinigte Königreich damals leider nicht mehr und wird es vermutlich auch nie wieder werden. Oder ist es erneut denkbar, dass sich amerikanische Bands Namen wie „The Beau Brummels“ „The Buckinghams“ und „The E-Types“ zulegen, um hippe Britishness vorzugaukeln? Eher unwahrscheinlich.
Aus Marseilles stammten die „Five Gentlemen“, aus Leipzig „Die Butlers“, Kopenhagen steuerte „The Beefeaters“ bei und Westberlin „The Lords“, die gerne mal mit Bowler-Hüten und Regenschirmen posierten, gerade so, wie man sich im Land der Edgar-Wallace-Filme den Engländer an sich eben vorstellte. Bei den Friseurinnungen brach gelinde Panik aus, weil junge Männer den einen oder anderen Termin sausen ließen, um der so genannten Pilzkopf-Frisur ein Stückchen näher zu kommen. Die Autoritäten, Eltern und Lehrer, tobten. Angefeuert von der Boulevardpresse, die genüsslich von „Zwangshaarschnitten“ berichtete und das Ende des Abendlandes kommen sah.
Die Rock’n’Roll-Mode samt Entenschwanzfrisur war Ende der 50er nur eine vorübergehende Erscheinung gewesen, ohnehin beschränkt auf eine relative Minderheit. Doch was jetzt aus England herüberwehte, war ein absolutes Massenphänomen – das nicht den Eindruck erweckte, morgen wieder vorbei zu sein. Überall auf der Welt eröffneten Boutiquen, die sich „Carnaby“, „Sir Edward“ oder „St. John’s“ nannten, und in denen der/die ›Dedicated Follower Of Fashion‹ (The Kinks) Miniröcke, bunte Hemden, enge Hosen und lustige Hüte kaufen konnte – ein Stückchen Londoner Pop-Kultur, jetzt auch in München, Ravenna und Aarhus. Soviel zu den Begleiterscheinungen, die vom Eroberungsfeldzug der Beatles ausgelöst wurden.
Nur besteht der Daseinszweck einer Band ja vor allem darin, Musik zu machen. Bereits PLEASE PLEASE ME, das Debütalbum der Beatles von 1963, betrat Neuland, zumindest phasenweise. Gut, da gab’s noch konventionelle Cover-Versionen amerikanischer R&B- Hits der Sorte ›Anna (Go To Him)‹, ›Chains‹ und ›Twist And Shout‹, doch der Titelsong war schon ein anderes Kaliber. Rock’n’Roll? Ja, aber eben nicht auf dem Blues-Schema basierend, wie sonst üblich. Pop? Ganz gewiss, allerdings vorgetragen mit dem Drive und dem Tempo einer Rockband, Stand 1963. Was noch stärker auf ›I Want To Hold Your Hand‹ und ›She Loves You‹ zutrifft, jene Songs, mit denen vor 50 Jahren der ganze Wahnsinn begann.
Zuerst nannte man das Merseybeat, dann nur noch Beat und schließlich Pop. Doch als sich letztgenannte Bezeichnung durchzusetzen begann, waren die Beatles schon wieder ein ganzes Stück weiter. Ihr rasendes Entwicklungstempo ist aus heutiger Perspektive nahezu unglaublich, immerhin liegen zwischen besagtem ›Please Please Me‹ und dem psychedelischen Experimental- Monster ›Tomorrow Never Knows‹ mit all seinen Tape-Loops und dem bedeutungsschwangeren Text nur schlappe drei Jahre. Chronologisch betrachtet. Musikalisch scheinen es ganze Epochen zu sein.
Ehre, wem Ehre gebührt: Auch andere Bands jener Zeit, seien es die Rolling Stones, The Byrds, die Beach Boys oder The Who, um nur einige zu nennen, waren dem Experiment nicht abgeneigt, veröffentlichten innovative Produktionen und entwickelten sich munter weiter. Nur waren es eben in der Regel die Beatles, die dabei die Vorreiterrolle spielten und damit – ganz wesentlich – auch noch ein immens großes Publikum erreichten. Ob sie nun eine zwölfsaitige E-Gitarre einsetzten, Tonbänder rückwärts laufen ließen, indische Instrumente oder barocke Streicher und Bachtrompeten inkorporierten: Die Beatles legten vor, die Kollegen folgten. Was skurrile Züge annehmen konnte. Man vergleiche die Cover-Artworks von SGT. PEPPER’S LONELY HEARTS CLUB BAND (erschienen am 1. Juni 1967) und dem Stones- Album THEIR SATANIC MAJESTIES REQUEST (8. Dezember 1967).
Im Juli 1967 proklamierten die Beatles ›All You Need Is Love‹, einen Monat später versicherten die Rolling Stones ›We Love You‹. Nein, liebe Stones-Fans, natürlich waren Mick’n’Keith keine tumben Plagiatoren, nur eben zu jener Zeit gerade ein wenig orientierungslos. Und als Navigationspunkt war niemand so gut geeignet wie die Beatles.
Toller Artikel, glänzend formuliert!! Kleine Korrektur: Die Orchestrierung von “Eleonor Rigby” erfolgte durch ein StreichOKTETT. Liebe Grüße!
Etwas hat sicher auch die immer noch sehr große Bewunderung für die Beatles oder auch Led Zeppelin bewirkt: Sie haben rechtzeitig aufgehört. Dadurch wird der Blick auf ihre Genialität nicht durch mittelmäßige und belanglose Spät- und Alterswerke getrübt wie etwa bei den Rolling Stones oder leider auch Bob Dylan.
“Dennoch entstand dieses Album in Vierspur-Technik, was in Anbetracht des Klangbildes nahezu unglaublich erscheint.” Ringo hat aber dennoch gemeint, das wären zwei Spuren zu viel.