Sie waren Pioniere des Grunge – die Band, die den Hard Rock der Siebziger für die Indie-Kids der Achtziger und Neunziger überhaupt erst goutierbar machte. Jetzt sind Soundgarden zurück. Für die Werkschau TELEPHANTASM haben Sänger Chris Cornell, Gitarrist Kim Thayil, Basser Ben Shepherd und Schlagzeuger Matt Cameron tief in den Archiven gewühlt – und festgestellt, dass sie einander wieder lieb haben.
Sag niemals nie. Das ist zwar eine Binsenweisheit, aber eine, die viele sich beim Lesen von Chris Cornells Twitter am 31.12. 2009 nicht verkneifen konnten. Soundgarden werden sich 2010 wieder vereinigen, hieß es da lapidar. Bam! Was für eine Schlagzeile. Was für ein Auftakt ins Jahrzehnt! Rockfans überall lagen einander in den Armen: Die Welt war gerettet, die Heilige Dreifaltigkeit Pearl Jam, Alice in Chains und Soundgarden wieder intakt. Wer sich indes an Interviews von 2007 erinnerte, zu Cornells zweitem Soloalbum CARRY ON, der rieb sich verwundert die Augen: Da beschied Chris die Reunion mit einem recht deutlichen Nein. „Wenn Leute wieder zusammenfinden, steckt meist Geld dahinter“, winkte er ab. „Ich hoffe, dass wir nie in die Lage geraten, eine solche Entscheidung zu treffen. Soundgarden haben nachhaltige, wichtige Platten geschaffen – Klassiker vom ersten bis zum letzten Album. Warum soll-ten wir die aus dem Schrank holen und daran herummachen? Ich kann mir keinen Grund vorstellen – es sei denn, man tut es für die Fans, aber selbst das ist ein zweischneidiges Schwert.“ Autsch.
Hört man Cornell jetzt, überkam sie der Sinneswandel wohl mählich. Dem Rocksender WAAF in Boston erzählte er, zunächst habe man nur den Katalog der Band diskutiert: „Wir hatten keine aktive Website, kein Merchandise, zwei unserer Alben waren vergriffen. Aber mit Soundgarden geht eine Verantwortung einher – wir mussten dafür sorgen, dass neue Generationen von Rockfans an dieses Material kommen. Nach einer Menge Meetings fragten wir uns, ob wir nicht zur Feier der Wiederveröffentlichung wenigstens eine Show spielen sollten.“ Mittlerweile waren es drei (heimlich in Seattle als „Nudedragons“ sowie in Chicago beim Lollapalooza-Festival), und gestandene Männer (und Frauen) hatten Pipi in den Augen. „Triumphal!“, jubelten die Reviewer – so zeitlos und kraftvoll, als seien Soundgarden nie weg gewesen.
Und was ist mit den Spannungen zwischen Thayil und Cornell, die 1997 zur Trennung führten? „Es gab keine“, kontert Cornell. „Null. Aber die Medien wollen Stories, und wenn du ihnen nichts gibst – wie ,X hat mit meiner Frau geschlafen‘ oder ,Y hat ein Drogenproblem‘ –, dann schreiben sie halt von ,kreativen Differenzen‘. Die Wahrheit hat keinen interessiert. Nämlich, dass wir uns trennten, weil das Musikgeschäft zum Kotzen war und wir die Nase voll hatten. Die gute Nachricht ist, dass dieses Business tot ist und wir unsere Veröffentlichungen heute selbst in die Hand nehmen können, und das in einer Vielfalt von Formaten, die es früher nicht gab.“
Für die TELEPHANTASM-Retrospektive haben sie in die Vollen gegriffen: Die normale 12-Track-CD mit ›Black Rain‹ (der ersten Soundgarden-Single seit 13 Jahren) wird von einer Schwindel erregenden Anzahl Editionen flankiert: Eine Doppel-CD à 24 Songs, fünf davon unveröffentlicht, eine Triple-Vinylausgabe, die allererste Soundgarden-DVD mit 20 Videos, 13 davon nie gesehen, sowie eine nummerierte „Super Deluxe Sammler-Edition“ mit allem Gemüse, Poster und Lithographien. Fehlt eigentlich nur noch die mundgemalte Sammeltasse. In Amerika wurde TELEPHANTASM außerdem huckepack mit „Warriors Of Rock“ ausgeliefert, der neuen Folge des Playstation-Hits „Guitar Hero“.
Zockt der Luftgitarrist darauf ›Black Rain‹, befindet er sich übrigens in einer digitalen Kopie des mittlerweile geschlossenen New Yorker Clubs CBGB’s: Als Soundgarden dort 1989 auftraten, dürften die meisten Käufer noch in den Windeln gelegen haben. ›Black Rain‹, ein Überbleibsel aus der Zeit von BADMOTORFINGER (1991), wurde laut Cornell kaum verändert: „Ein paar Gitarren-Overdubs, ein leicht geänderter Refrain und andere Lyrics“, zählt er auf. „Damals waren wir ratlos, weil das Arrangement zu lang war. Das aufzuräumen, war jetzt kein Problem mehr.“
Überhaupt brachte für Cornell erst der Rückspiegel Klarheit: „Mit Abstand würde ich sagen, dass wir unter den Grunge-Bands die Mutigste und Experimentellste waren, diejenige, die das Genre vorangebracht hat.“ Lange das Zugpferd des „Home of Grunge“-Labels SubPop, setzten sie auch als Erste ihre Unterschrift unter einen Major-Vertrag. Heute sind es in erster Linie Nirvana, die mit Grunge identifiziert werden. Ärgert das Cornell? „Wir werden oft nach Nirvana gefragt“, weicht er aus. „Schon putzig, sich an die Jungs von damals zu erinnern. Als sie zu unseren Gigs kamen, waren sie noch in der High School. Aber jetzt wird Kurts Tod ihr Bild für immer prägen. Er, Jeff Buckley und Andy Wood (Sänger der Pearl Jam-Vorgänger Mother Love Bone, Anm.d.A.) hätten noch so viel Brillantes leisten können, das weiß ich. Gleichzeitig bleibt ihnen auf die Art erspart, Fehler zu begehen – die eine Platte, die man ewig bereut, der schlechte Song, die peinlichen Auftritte… Peinlichkeiten sind in einer Karriere unvermeidlich.“
Er muss es wissen: Sein erratisches Schlingern zwischen Singer/Songwriter, James Bond-Playboy, Audioslave-Muskelmann und R’n’B-Schmoozer schadete seinem Ansehen in der Szene erheblich. Darin sieht seine Ex-Frau und frühere Soundgarden-Managerin Susan Silver auch den eigentlichen Grund der Reunion: Chris’ Karriere sei derart aus dem Ruder gelaufen, sagte sie dem US-Magazin Spin, dass er keine andere Wahl hatte, als sich wieder um Soundgarden zu bemühen.
Die anderen nehmen das ihrem verlorenen Sohn nicht übel: Ganz gleich, wie das Verhältnis kurz vor oder nach dem Split war, herrscht derzeit eitel Sonnenschein. Gründungsmitglied Kim Thayil schwärmt bereits von der Kameraderie: „Vielleicht gehört für mich sogar zum Wichtigsten, dass ich wieder mit den Jungs rumhängen kann“, sagt der 50-Jährige, der bei den Reunion-Gigs stolzes Grau im Bart trug. Bassist Ben Shepherd mag das Wiedersehen auch an alte Dämonen erinnert haben: Der Mann-der-mit-durchgestrecktem-Arm-spielt fiel nach dem Soundgarden-Split in das sprichwörtliche Loch, war abhängig von Schmerzmitteln und bekam musikalisch lange kein Bein mehr auf die Erde. Drummer Matt Cameron erging es da sehr viel besser: Seit er 1998 bei Pearl Jam anheuerte, gilt er als eine der Säulen dieser Band – eine Position, die er vermutlich um nichts in der Welt wieder hergeben wird.
So weit, dass Cameron sich entscheiden müsste, wird es aber wohl nicht kommen. Denn so sehr die Fans auch hoffen: Soundgarden planen nach aktuellem Wissen vorerst kein neues Album, und, so Chris Cornell: „Wir stellen keine Welttournee zusammen, wie es bei einer klassischen Reunion der Fall wäre – genau solche Denke hat ja zu unserer Trennung beigetragen. Wir möchten den Spaß miteinander nicht gefährden. Wir lassen uns Zeit.“