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Sir Ge­­orge Martin: Die Kiste der Pandora

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Sir Ge­­orge Martin: Die Kiste der Pandora

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Beatles Produzent George MartinAls Produzent der Beatles hat Sir George Martin gleich seitenweise Musikgeschichte geschrieben. Seine eigenen Kompositionen blieben dagegen weitestgehend unveröffentlicht – bis jetzt.

Er gilt als der fünfte Beatle, als Mann hinter John, Paul, George und Ringo und einer der innovativsten Produzenten der Popgeschichte. Doch Sir Ge­­orge Martin, der im Januar 2016 im Alter von 90 Jahren verstarb, war auch ein talentierter Musiker und Komponist. Das un­­terstreicht THE FILM SCORES AND ORIGINAL ORCHESTRAL MUSIC OF GEORGE MARTIN, ein Album mit bislang un­­­­bekannten Stücken des Briten, aufgenommen von seinem Kollegen Craig Leon. In London traf CLASSIC ROCK den einstigen Produzenten der Ramones, von Blondie und Suicide, der mittlerweile in der Klassik zu Hause ist.

Herr Leon, wie gut kannten Sie Sir George?
In den 80ern habe ich oft in den Londoner Air Studios gearbeitet, die ihm gehörten – und mich mit ihm unterhalten. Wobei ich versucht habe, mir bestimmte Techniken abzuschauen – was er garantiert amüsant fand, weil das jeder probiert haben dürfte. Zwischendurch haben wir uns in den Abbey Road Studios getroffen, und vor ein paar Jahren wurde ich gefragt, ob ich mich an einem Buch beteiligen wolle – mit lithographierten Versionen seiner Original-Manuskripte. Darunter die Streicher-Parts für ›Yesterday‹ und ›Eleanor Rigby‹. Ich sollte sie analysieren, und das hat mir tiefe Einblicke in seine Arbeit gewährt. Ich habe zum Beispiel erkannt, wie viel von ›Yesterday‹ von ihm stammt und dass er so etwas wie ein musikalischer Übersetzer oder Katalysator war. Wenn Paul McCartney meinte: „Ich möchte Trompeten, kann sie aber nicht selbst spielen“, dann hat er das übernommen. Weil da aber noch viel mehr war, schlug ich seinem Sohn Giles Martin vor, die Sachen, die zum Beispiel im „Yellow Submarine“-Film unter den Dialogen versteckt sind, noch einmal aufzunehmen. Seine Reaktion war, mir eine Kiste in die Hand zu drücken, die er in Georges Arbeitszimmer gefunden hatte.

Eine musikalische Kiste der Pandora?
Genau! Ich habe sie geöffnet und da waren all seine Original-Manuskripte. Die meisten handschriftlich – und jede Menge, von denen ich noch nie gehört hatte. Mir war schon beim ersten Lesen klar, dass sie auf ein Al­­bum gehörten, das den Musiker statt den Produzenten in den Vordergrund rückt.

Warum ist diese Seite weitestgehend unbekannt?
Weil er vor dem Erfolg der Beatles einfach ein Angestellter von Parlophone war. Da bestand seine Arbeit vor allem darin, klassische Mu­­sik für das damals neue LP-Format zu arrangieren. Er war ein Plattenfirmen-Mann – mehr als alles andere.

Das unterstreicht der Vertrag, den er mit den Beatles abgeschlossen hat – und der ihnen einen Penny pro verkauftem Tonträger zusprach. Ein Schnäppchen!

Für das Label bestimmt. Aber ich bin mir sicher, dass George keine Gewinnbeteiligung hatte, sondern für ein festes Gehalt gearbeitet hat. Gleichzeitig – und unbemerkt – hat er eigene Musik geschrieben. Einiges davon ist sehr avantgardistisch, anderes sind elegante Filmmusiken. Ich habe zum Beispiel ein Skript von 1969 gefunden, von dem keiner weiß, wofür es gedacht war: Ein wunderbares Stück namens ›Belle Etoile‹, das sehr 60s- mäßig ist. Da kann man seine Einflüsse hören, die ich als „genreübergreifend“ be­­schreiben würde. Er hat mit „Musique concrète“ gearbeitet, aber auch mit englischem Folk, mit Jazz und Filmmusiken.

›Whisper Who Dares‹ aus dem Soundtrack LIVE AND LET DIE weist sogar Elemente des Blaxploitation-Funk auf.
Richtig! Und in ›Baron Samedi‹ verwendet er Voodoo-Trommeln. Insofern kann man sagen: Er hat starke Klangbilder gemalt.

Warum sind viele seiner Kompositionen unveröffentlicht geblieben?
Ich schätze, es wusste niemand davon. Er war ein bescheidener, schüchterner Mensch. Deshalb denke ich auch nicht, dass er je vorhatte, ein eigenes Album aufzunehmen. Er hat die Jobs erledigt, für die er engagiert wurde. Das war sein Ding. Und wenn man ›I Am The Walrus‹ oder ›A Day In The Life‹ hört, ist das, was daran so anders klingt, der revolutionären Technik geschuldet, die er entwickelt hat. Die hat er auf Pop-Platten eingesetzt, die vor allem Teenager kauften – und ihnen somit auch klassische Musik untergejubelt. Ich glaube nicht, dass man vor ›Yesterday‹ ein Streichquartett auf einer Nummer-1-Pop-Single gehört hatte.

Wenn noch so viel spannende Sachen in Sir Georgs Kiste sind, wird es weitere Veröffentlichungen geben?
Wenn sich noch Sachen finden, die veröffentlichungswürdig sind, ja. Es gibt zum Beispiel noch mehr „Yellow Submarine“-Stücke, die wir nicht verwenden konnten, weil wir für diese CD eine repräsentative Auswahl treffen mussten. Außerdem Sachen, die nicht orchestral waren. Er schrieb zum Beispiel die erste Titelmusik für BBC1 – die Van der Graaf Generator dann coverten. Ein heftiger, fast Gothic-mäßiger Song. Zudem hat George elektronische Sachen ge­­macht, die geradezu typisch für die frühen 60er waren. Also für die Zeit vor den Beatles. Er nahm etwa ein paar Singles mit dem BBC Radio-Workshop auf, den er mit elektronischen Klangerzeugern begleitete. Unter dem wunderbaren Pseudonym Ray Cathode – nach der Kathodenstrahlröhre in Elektrogeräten. (lacht) Eine weitere Seite von ihm, die zeigt, dass er nicht nur der Typ hinter den Beatles war. Er hat auch unglaubliche Jazz-Arrangements für Jeff Beck angefertigt.

Stimmt es, dass Sie vorhaben, mit dem Album zu touren?
Daran arbeite ich gerade. Es soll eine große Produktion mit Orchester, Multimedia-Elementen und visuellen Komponenten werden – um ein vollständiges Bild von Georges Leben und Schaffen zu vermitteln.

Aber ein Hologramm fahren Sie hoffentlich nicht auf, oder?
(lacht) Auf keinen Fall!

Dabei ist das der neueste Trend – von Elvis über Ronnie James Dio und demnächst auch bei Abba.
Ich halte das für eine schreckliche Entwicklung. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie so eine Tour mit Hologrammen aussehen könnte. Was ich interessanter finde, ist das, was jemand in Deutschland macht: Er baut riesige Roboter, die Heavy Metal spielen. Sie sehen aus wie die Kreaturen auf dem Plattencover von Cans MONSTER MOVIE. Eben vier Stück davon, die sieben Arme haben und sieben Gitarren bearbeiten. (kichert) Das ist um Klassen besser. Ich meine, ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen als zu meiner Frau zu sagen: „Schatz, lass uns zur Hologramm-Show von Elvis gehen, bei der er zu einem Orchester singt.“ Das klingt nicht richtig. Ganz abgesehen davon: Die guten Sachen von Elvis sind ohnehin die ohne Orchester. (lacht)

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