2011 sei das produktivste Jahr seines Lebens gewesen, sagt Serj Tankian. Und ausgerechnet das aufsehenerregendste Produkt dieses Kreativschubs war dabei gar nicht geplant gewesen. Doch die Ereignisse verlangten nach einer gebührenden Umsetzung.
Eigentlich könnte Serj Tankian sich längst zur Ruhe setzen, schließlich hat er mit System Of A Down wohl nicht nur seine Schäfchen ins Trockene gebracht, sondern auch in künstlerischer Hinsicht wie in Sachen Gutmensch-Karma-Bilanz ein beachtliches Vermächtnis geschaffen, das viele Musiker in vielen Jahrzehnten nicht anzuhäufen vermögen. Doch ein wahrer Künstler hört nie auf, zu erschaffen, und auch wenn Millionen Fans seit Jahren nach neuem SOAD-Material dürsten, das sich nach wie vor nicht mal am Horizont abzeichnet, kann niemand behaupten, dass der Amerikaner mit armenischen Wurzeln sie nicht mit genug Futter versorgen würde.
Seinen beiden exzellenten Soloalben ELECT THE DEAD (2007) und IMPERFECT HARMONIES (2010) waren zwar nicht annähernd die Charterfolge seiner Stammband beschieden, dafür wurden sie ob ihres Ausbruchs aus gängigen Rock-Konventionen von der Kritik gelobt und gaben Serj ein Ventil, um das auszuleben, was bei SOAD keinen Platz findet. Und das ist offenbar eine ganze Menge, denn neben seiner ganz individuellen Interpretation von Rockmusik ließ er 2011 das Rockmusical „Prometheus Bound“ vom Stapel und schrieb drei Alben, die mit Rock überhaupt nichts zu tun haben: JAZZ-IZ-CHRIST erklärt sich wohl von selber, ORCA ist symphonische Orchestermusik, während zusätzlich noch eine Elektronikplatte mit dem Projekt Fuktronic ansteht.
Letzteres ist es, das zumindest in Sachen Produktionsweise den größten Einfluss auf HARAKIRI hatte, denn Serj hat es quasi „zusammengebaut“ aus Versatzstücken existierenden Materials. Recycling ist gut für die Umwelt, wieso also nicht? „Mit meinen elektronischen Sachen arbeite ich schon seit Jahren so“, erklärt Serj. „Aus all der Musik, die ich über die Jahre gemacht habe, entstand eine Art Beat-Sammlung, auf die ich jederzeit zurückgreifen kann. Wenn ich ein neues Stück schreibe und denke, da brauche ich nun diesen oder jenen Effekt, kann ich mich daraus bedienen. Das heißt natürlich nicht, dass ich immer nur dieselben Sachen verwurste, daraus entsteht immer wieder etwas Neues. Und das funktioniert so gut, dass ich diesen Prozess erstmals auch bei einer Rockplatte angewendet habe.“
Einer Platte, die wie gesagt eigentlich gar nicht hätte entstehen sollen, aber das Leben kümmert sich nicht um unsere Pläne, es inspiriert uns, ob gewollt oder nicht. „Es war Anfang 2011, als ich hörte, dass sich an verschiedenen Orten der Welt Millionen von Vögeln und Fischen offenbar gezielt umgebracht hatten. Das hat mich aufgerüttelt. Man fand zwar lokal plausible Erklärungen für die jeweiligen Ereignisse, doch ich fand es ziemlich unheimlich, dass das praktisch zeitgleich und tausende Meilen voneinander entfernt geschah. Das war der Tag, an dem ich begann, dieses Album zu schrei-ben. Erst war es nur ein Song, aber es wurde mehr daraus und nach vier Monaten wurde mir plötzlich klar, fuck, ich habe hier ein ganzes Rockalbum beisammen! Es war wie eine ungeplante Schwangerschaft.“
Erstaunlich ist an HARAKIRI nicht nur, dass es praktisch aus dem Nichts entstand, sondern auch, dass es nach den ersten beiden Soloalben, die zunehmend Abstand von harten Gitarren und aggressiven Rhythmen nahmen, deutlich zurück Richtung Riffattacke schwenkt. Noch viel erstaunlicher ist aber, dass es ohne Umschweife das Beste ist, was je aus Herrn Tankians Feder geflossen ist. ›Cornucopia‹, ›Occupied Tears‹, ›Weave On‹, ›Reality TV‹, ›Butterfly‹, das Titelstück und vor allem das gewaltige ›Forget Me Knot‹ sind hymnenhafte Glanzleistungen, die erstmals die Frage erlauben, ob man System Of A Down eigentlich noch wirklich vermissen muss. Gerockt hat Tankian seit 2005 jedenfalls nicht mehr so. „Stimmt, so was Hartes habe ich lange nicht mehr geschrieben, aber das musste sein. Diese Ereignisse kann man nicht in eine nette Popnummer verkleiden, diese Dringlichkeit in Ton und Botschaft musste gebührend zum Ausdruck gebracht werden.“
Denn eine Botschaft findet sich in allem, was dieser Mann aus dem Hut zaubert, und das Endzeitszenario, das diesem Album auf den Weg half, hat natürlich auch inhaltlich seine Spuren hinterlassen. Besonders interessant hier die Idee von ›Uneducated Democracy‹. Ist Demokratie wirklich so toll, wenn die Wählenden keine Ahnung haben? „Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass Diktatur unter einem erleuchteten Herrscher wohl manchmal vorzuziehen wäre“, gibt Serj zu. „Beachtlich ist, dass die USA statistisch gesehen viel mehr für Bildung ausgeben als die meisten Länder. Und dennoch…die meisten Amerikaner glauben ihren Politikern, dass das Land für Freiheit steht. Dass Amerika den Schah in Iran oder Pinochet in Chile eingesetzt hat, weil es ihren Zielen diente, ist ihnen gar nicht bewusst. Wer sowas nicht weiß, kann aber keine richtigen Entscheidungen treffen. Letztlich ist repräsentative Demokratie Augenwischerei, denn es ist Demokratie über Mittelsmänner, und das bedeutet fast zwangsläufig Machtdenken, Korruption und hat nichts mit den Interessen des Volkes zu tun.“
Dass sich daran so bald etwas ändert, bezweifelt selbst der prinzipiell optimistische und ausnehmend freundlich-fröhliche Serj: „Wir haben uns so sehr von der Natur abgekapselt, dass wir die großen Umwälzungen, ob ökologisch oder politisch, gar nicht mehr mitbekommen. Es muss erst eine gewaltige Katastrophe eintreten, die wirklich große Massen von Menschen ihrer Heimat beraubt, bis wir aufwachen.“
Einen besonders schalen Geschmack hinterließ diesbezüglich sein Auftritt in Beirut 2011 bei ihm. „Ich bin dort geboren, aber mit sieben Jahren weggezogen. Nun bin ich zum ersten Mal wieder zurückgekehrt und habe meine Eltern mitgenommen, was wunderbar war. Wir haben alte Verwandte getroffen, ich habe mich auch an Orte aus meiner Kindheit erinnert. Das Konzert mit dem libanesischen Nationalorchester war ebenso eine tolle Erfahrung. Aber ich habe keinerlei Verbindung mehr zu diesem Land gespürt, null. Und am schlimmsten war, dass die Leute dort ganz beiläufig sagen, ‚es wird Krieg geben‘. So, als würden sie sagen, ‚es wird heute regnen‘. Es ist für sie einfach so normal, dass es sie gar nicht mehr groß berührt. Es war sowohl bemerkenswert als auch schockierend, zu sehen, an was sich Menschen gewöhnen können.“
Serj Tankian wird das nicht davon abhalten, unermüdlich für die Sache zu kämpfen – und Musik zu machen. Und wenn HARAKIRI ein Vorgeschmack auf das gibt, was in Zukunft noch so von ihm zu erwarten ist, gibt es wenigstens noch einen kleinen Funken Hoffnung für die Menschheit!