Nachdem er nach New York gezogen war, um seinem gewalttätigen Vater zu entkommen, schrieb Doug Colvin, der zukünftige Dee Dee Ramone, einen Song über das Fluchtziel an der Küste, das er so liebte und oft besuchte. Daraus wurde ein Klassiker der Ramones.
„Wer, ich? Neeeeeeee!“ Dee Dee Ramone lacht ein cartoonhaftes Lachen bei der Vorstellung, dass die Ramones auf Surfbrettern durch die Wellen gleiten, doch er gesteht, dass er schon immer gerne nach Rockaway Beach fuhr, jenem Ort, den die Ramones in ihrem gleichnamigen Song unsterblich machten.
Auf ihrer UK-Tour im Dezember 1977 sitzt Joey neben ihm auf der Couch im Backstage-Bereich und kichert ebenfalls bei dem Gedanken, während Johnny bestätigt, Dee Dee sei „der einzige Strandtyp“ in der Band, und eingestand, dass sich auf der jüngsten Single ›Sheena Is Punk Rocker‹ („der erste Surf/Punkrock-Teenager-Rebellion-Song“, in Joeys Worten) durchaus Surf-Elemente eingeschlichen hatten. „Das ist ein surfartiger Song, also wollten wir auch einen entsprechenden Klang dafür“, erklärt Johnny typisch lapidar.
›Rockaway Beach‹ ließ eine frische Meeresbrise durch den Downtown-Sound der Band blasen und fand auf dem damals neuen Album ROCKET TO RUSSIA seinen Platz neben einer durchgeknallten Version des Trashmen-Stücks ›Surfin’ Bird‹ und einer stürmischen Interpretation von Bobby Freemans ›Do You Wanna Dance‹, wie es die von Joey so geliebten Beach Boys 1965 gecovert hatten. Rockaway Beach wurde zum Lieblingsort von Doug Colvin (später Dee Dee Ramone), nachdem er im Alter von 15 Jahren mit seiner Mutter vor einem alkoholkranken Vater in Deutschland geflüchtet und nach New York City gezogen war. Für ihn war es mit seinem riesigen Vergnügungspark sein ganz privater Fluchtpunkt.
›Rockaway Beach‹ war eines von 14 Stücken, mit denen die Ramones im August 1977 ins Mediasound Studio in New York gingen, um ihr drittes Album aufzunehmen, das dann schließlich den Titel ROCKET TO RUSSIA erhielt. Als Produzenten fungierten zwar nominell Tony Bongiovi und Schlagzeuger Tommy Ramone (der bald die Band verließ, um mehr im Studio zu arbeiten), doch es war Tontechniker Ed Stasium, der mit der Aufgabe betraut wurde, die Klangattacke der Live-Shows auf Tape zu bannen. Stasium war schon mit Bongiovis Produktion auf dem Vorgänger LEAVE HOME (an dem er ebenfalls als Techniker gearbeitet hatte) unzufrieden gewesen und erinnerte sich an die „Raumklang“-Techniken, die er gelernt hatte, als er Roy Thomas Baker zusah. Er fand, sie würden fantastisch bei Mediasound funktionieren, einer umgebauten Kirche in der West 57th Street.
„Das war ein riesiger Raum, fast wie eine Kathedrale“, erinnert sich Stasium, der auch die spektakuläre Wiederveröffentlichung von ROCKET TO RUSSIA betreute, inklusive Outtakes, Live-Aufnahmen und einem „40th Anniversary-Tracking-Mix, der die Ramones so einfängt, wie sie vor Ort klangen. „Als ich dort hinkam, dachte ich: Ich werde diesen Raumklang und die Geräuschkulisse benutzen, inspiriert von Roy. Im Studio ließ ich die Band sehr nah an den aufgestellten Mikros spielen, installierte aber auch Raum-Mikros, um ihren Live-Klang einzufangen. So kam alles aufs Band und das Tracking dauerte dann vielleicht zwei Tage. Als dann Bill Inglott, mein Co-Produzent auf diesen Boxsets, der die Mehrspurbänder in den Archiven von Warner Brothers gefunden hatte, diese digitalisierte, habe ich mir als erstes den Raumklang angehört. Heilige Scheiße, klang das umwerfend! Als wir damals das Album abmischten, verwendeten wir kaum etwas davon, es lag nur unter dem Sound. Aber es war eine Offenbarung, diese Tracks jetzt zu hören! Diese Mixe sind die Band im Studio, live. Ein direkter, nackter Tracking-Mix, einfach nur die Band, die im Studio loslegt, einfangen von diesen Raum-Mikros. Keine gedoppelten Vocals, Gitarren-Overdubs oder Backing-Vocals, sondern die Ramones, immer und die ganze Zeit mit Vollgas.“
Stasium erinnert sich daran, dass ›Rockaway Beach‹ der erste Song war, der bei den Sessions aufgenommen wurde, doch für ihn ist ›Cretin Hop‹ das beste Konzentrat des Albums, das die meisten Leute als das beste der Ramones erachten. „Das ist ein lustiger Song, so typisch für die Ramones mit seinem Text und dem Witz dahinter, und so treibend, wie sie eben waren. Es fängt mit dieser E-zu-A-Akkordfolge an und sie prügeln richtig darauf ein. Das ist sehr kraftvoll, die beste Form von Minimalismus. Wir fingen einfach mit den Aufnahmen an, und das waren die Songs, die wir auswählten. Ich hatte immer gedacht, dass die Version von ›I Don’t Care‹ auf dem Originalalbum neuer gewesen sein musste, aber als ich dann neulich die Mehrspurbänder hörte, wurde mir klar, dass die Fassung, die wir bei Mediasound eingespielt hatten, nie verwendet wurde und wir stattdessen die B-Seiten-Version von ›Sheena Is A Punk Rocker‹ auf die Platte genommen hatten. Auf der Jubiläums-Reissue wird die ursprüngliche Aufnahme nun zum ersten Mal veröffentlicht. Sie ist etwas langsamer und klingt anders. Die Mehrspurbänder [der Single-Versionen] von ›Sheena…‹ und ›I Don’t Care‹ sind leider verloren gegangen, aber zum Glück haben wir diese Fassung.“
Stasium ist bewusst, dass er, nachdem alle vier Ramones, die ROCKET TO RUSSIA aufnahmen, mittlerweile tot sind, allein für ihr grandioses Vermächtnis verantwortlich ist. Diese Reissue lässt hoffen auf ähnliche Würdigungen von ROAD TO RUIN, dem von Phil Spector produzierten END OF THE CENTURY und, hoffentlich, allen fünf Konzerten, die einst für IT’S ALIVE mitgeschnitten wurden.
„Wer hätte gedacht, dass ich 40 Jahre nach den Sessions 2017 immer noch mit ihnen arbeiten würde? Dass ich die alten Bänder durchhören, diese tollen Sachen finden und diese wunderschönen Boxsets veröffentlichen würde. Die Leute finden das vielleicht mies und werden sagen, ich sei nur hinter dem Geld her, aber so sehe ich das überhaupt nicht. Dies ist wirklich etwas Besonderes für Ramones-Fans, die dieses Material lieben werden, und ich bin so stolz, mit diesem Erbe in Verbindung gebracht zu werden. Für jedes dieser Alben sind dies die definitiven Remastered-Boxsets.“
Auch wenn die Ramones selber nie surfen gingen, wird ›Rockaway Beach‹ immer dieses Wellenkammfunkeln und diese ozeanische Resonanz haben. Als die Strandpromenade 2012 von Hurrikan Sandy zerstört wurde, lief im Radio dieser Song, um zu Spenden für den Wiederaufbau aufzurufen. Dee Dees unvergessliche und so essenzielle Worte strömten also wieder durch die Stadt: „Chewin’ out a rhythm on my bubblegum/The sun is out, and I want some…“