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The Rolling Stones – Der Exilant

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The Rolling Stones – Der Exilant

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The Rolling Stones 21971 ist das vielleicht aufregendste Jahr in der an Aufregungen nicht eben armen Bandhistorie der Rolling Stones: Die Musiker ziehen aufgrund von Steuerschulden von Großbritannien nach Südfrankreich um und nehmen dort EXILE ON MAIN STREET auf.

Besagtes Album ist vor wenigen Tagen in remasterter Form und in diversen Formaten neu aufgelegt worden. Zudem gibt es seit 11. Juni die DVD STONES IN EXILE zu kaufen: Regisseur ­Stephen Kijak zeichnet in seiner Doku die Entstehungs­geschichte des Werks nach. Für CLASSIC ROCK erinnert sich Stones-Gitarrist Keith Richards (dunkel) an die damalige Zeit zurück.

Text: Ian Fortnam

eith Richards ist kurz davor, die Fassung zu verlieren. Er sitzt total voll­gedröhnt im Auto, auf dem Weg nach „Bowden House“ außerhalb Londons, wo Anita Pallenberg gerade eine Entziehungskur macht. Richards muss das Lenkrad rumreißen, um in letzter Sekunde einem Laster zu entgehen. Als er mitten über das Rondell des Kreisverkehrs schießt und gegen die Gartenmauer eines Häuschens in Wembley kracht, gehen ihm die potenziellen Konsequenzen seiner Amokfahrt durch den Kopf. Sterben wird er zwar nicht, denn sowas passiert nur den anderen. Allerdings trägt er so viel chemikalische Substanzen bei sich, dass das Herz jedes strebsamen Polizisten vor Freude einen Sprung machen würde. Also greift er, kaum dass sein dicker Bentley die Mauer platt gemacht hat, in alle möglichen Taschen und sucht nach dem prekären Stoff. Und ist wie vom Donner gerührt, als er plötzlich eine bekannte Stimme hört: „Hey Keith, was machst du denn hier?“ Es ist Nicky Hopkins, der Keyboarder der Stones: Ihm gehört der beschauliche Garten.

„Mein qualmender Bentley steht also mitten in seinem Rosenbeet“, erinnert sich Keith 39 Jahre später, „und ich schmeiße hektisch alle Pillen weg, weil ich schon in der Ferne die Polizeisirene höre, und Nicky sagt: ›Komm doch rein und trink einen Tee, bis die Polizei da ist!‹ Spätestens da wusste ich, dass Gott auf meiner Seite ist.“

Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Gottes Beistand hochwillkommen war im Leben von Mr. Richards. Keith fuhr so oft Autos zu Schrott, dass er sich auf keine Zahl festlegen kann. „Wenn man viel rumkommt, knallt man schon mal wo rein“, sagt er schulterzuckend. „Jedenfalls kam ich aus der Nummer sauber raus, zumal meine Zeit in England ohnehin abgelaufen war. Eine Woche später zogen wir nach Nellcôte.“

Auf ins Exil…

Die Aussage, dass Keith Richards ein berüchtigter Ruf vorauseilt, ist wahr. Und mehr noch: Sie ist eine grobe Untertreibung. So brachte Anfang der Siebziger die noch junge Rock-Journalismus-Gilde eine wilde Wortneuschöpfung nach der anderen hervor, nur um den Mann adäquat zu beschreiben, der CLASSIC ROCK gleich ein Interview geben wird. Keith Richards war (und ist) das Maß aller Dinge. Entweder die zerrupfte Krähe, die sich auf deinem Rasen niederlässt und die Nachbarn dazu veranlasst, sich schleunigst nach einer neuen Bleibe umzusehen. Oder der Zigeuner, der Pirat, der durchgeknallte Lebemann, der Mann auf der Flucht oder auch das mit Jack Daniel’s vollgepumpte Insekt. Und manchmal einfach nur „der personifizierte Mr. Rock’n’Roll“.

Doch das war damals. Heute sind wir in New York, um mit ihm über die schillernden Tage zu sprechen, in denen die Stones ihr Meisterwerk EXILE ON MAIN STREET aufnahmen. Aber auch, um uns ein Bild davon zu machen, ob Keith Richards anno 2010 überhaupt noch mit seinem me­dialen Alter Ego zusammenpasst. Wie schlägt sich „Mr. Rock’n’Roll“ heute, wo die fiese 70 bereits lange Schatten wirft? Keith ist längst eine lebende Karikatur geworden, sein unnachahmlich eiernder Gang, die braunen Augen, die innerhalb einer Sekunde vom sympathischen Strahlen in eisiges Durch­bohren umschalten können. Dann dann wäre da noch die berühmteste ­Schmuck-Kollektion der Musikwelt, angefangen vom Handschellen-Armreif (als Erinnerung, dass ­physische Freiheit nicht immer selbstverständlich ist) bis zum Totenkopf-Ring (das Symbol des „großen Gleichmachers“, wie Keith es nennt).
Er hat einen durchsichtigen Plastikbecher in der Hand, in dem die Eisstücke klackern, wenn er seine Aussagen mit einer ausladenden Handbewegung unterstreicht. Mit Hilfe eines dekorativen Strohhalms soll wohl der Eindruck erweckt werden, er schlürfe einen Softdrink. Aber davon lassen wir uns nicht täuschen. Nein, es passt einfach nicht. Offensichtlich möchte Keith seinen Alkoholkonsum nicht mehr unnötig an die große Glocke hängen. Was jedoch seine lebenslange Liebe zum Nikotin angeht, so bemüht er sich gar nicht erst um ein Feigenblättchen.
Allerdings ist ihm die Funktion des Aschenbechers über all die Jahren verborgen geblieben: Wenn er mit seinen Armen wild durch die Gegend fuchtelt, ist der Kippenbehälter nämlich der letzte Ort, in dem die Asche landet.

Als wir uns hinsetzen, um per Zeitmaschine ins Jahr 1971 zu reisen, zündet er sich mit dem Rolling Stones-Zippo schnell noch eine weitere Fluppe an und ist – vom frischen Nikotin in den Lungen offensichtlich animiert – sofort bei der Sache. „Wir nannten das Album EXILE ON MAIN STREET, weil man uns aus England rausgeworfen hatte. Wir mussten das Land verlassen – oder hätten als Straßenfeger weitermachen können.“

Das mag überdramatisch klingen, aber tatsächlich hatten die Stones 1971 ernsthafte finanzielle Probleme. Allen Klein, ihr damaliger Manager, gab ihnen nämlich jahrelang das Gefühl, mehr auf dem Konto zu haben, als es tatsächlich der Fall war. Daher standen sie beim englischen Fiskus, der damals einen Spitzensteuersatz von 93 Prozent kassierte, knietief in der Kreide. Die laufenden Einnahmen reichten bei Weitem nicht aus, um die Schulden zu begleichen. Keith, der schon mehrfach unschöne Begegnungen mit der Staatsgewalt hatte, nahm die Forderungen des Finanzamts persönlich. „Sie konnten mich nicht wegen Drogen einlochen, also versuchten sie es auf diese Tour – der klassische Zangengriff. Das ärgerte uns, also wollten wir ihnen zeigen, was eine Harke ist. Wir schauten uns alle an und beschlossen: ›Okay, dann machen wir uns eben einfach aus dem Staub!‹“

Halb wild entschlossen, halb verunsichert, packte die Band samt Anhang die Koffer, um ihre Zelte in Südfrankreich aufzuschlagen. „Und wenn man schon dorthin zieht, dann sollte es schon die Riviera sein.“ William Somerset Maugham bezeichnete diese einmal als „sonnigen Platz für zwielichte Gestalten“ – was im Fall der Stones also durchaus passte. Keith zog in die Villa Nellcôte in Villefranchesurmer, die während der deutschen Besatzungszeit als Gestapo-Hauptquartier diente. Da es keine annehmbaren Studios in der Umgebung gab, entschlossen sich die Musiker, Keiths Keller umzubauen, ergänzt von ihrem so genannten „Mobile Recording Studio“, das in einem umgebauten Transporter untergebracht war, der einfach hinter der Villa Nellcôte abgestellt wurde. „Das Gefährt kam uns sehr gelegen, weil es einen kompletten Kontrollraum hatte. Was aber trotz zahlreicher Versuche nie richtig hinhaute, war die Verbindung zwischen Truck und ­Keller. Apropos Keller: Ich kann ihn heute noch riechen. Jedes Mal, wenn ich aufs Cover schaue, kriecht mir dieser staubige, muffige Gestank in die Nase.“

Auch wenn die Kommunikation mit dem Produzenten Jimmy Miller und Toningenieur Andy Johns, die Kontrollraum saßen, nicht optimal funktionierte, trugen die Sessions im Sommer 1971 endlich Früchte. „Viele Songs entstanden aus einer spontanen Idee heraus. Mick spielte zum Beispiel Mundharmonika, und jemand anders stieg ein. Schon hatten wir ein Song-Gerüst, auf das wir aufbauten konnten. Doch damit war ein Track natürlich noch lange nicht fertig. Wir wollten nichts überstürzen. Denn wie mein Vater immer sagte: ›Keith, es ist ein Unterschied, ob man sich am Arsch kratzt oder sich den Arsch aufreißt!‹“

Mick war oft weg, weil er sich um seine schwangere Frau Bianca kümmerte, die er kurz vorher geheiratet hatte. Der Rest der Band sorgte sich vor allem um den Drogen-Nachschub, der zunächst Probleme bereitete. Das sollte sich aber rasch ändern. Tommy Weber, Playboy, Rennfahrer und Dealer, reiste mit dem „Hochzeitsgeschenk für Mick und Bianca“ an: Er brachte ein Kilo Koks mit, das er unter den T-Shirts seiner beiden Kinder über die französische Grenze geschmuggelt hatte. Das Geschenk kam bei dem glücklichen Paar aller­dings nie an. Das wiederum war nicht verwunderlich, denn Keiths Freundin Anita hatte den Plan ausgeheckt – und zwar noch während ihrer Entziehungskur in London.

Die Sache lief noch mehr aus dem Ruder, als Keith und Tommy Weber zu einer Go-Kart-Bahn fuhren. Dort passierte prompt ein Malheur: „Ich blieb mit einem Vorderrad meiner Karre an seinem Hinterrad hängen. Mein Wagen kippte, und ich riss mir die linke Seite meines Rückens auf. Das war eine ganz neue Erfahrung für mich…“ Gerüchten zufolge sollen Richards Schmerzen nach dem Unfall der Anlass dafür gewesen seien, dass in Nellcôte schon bald Heroin auf den Tisch kam. Doch davon will Keith nichts wissen. „Alles Blödsinn“, knurrt er. „Die Leute saugen sich aus den Fingern, welche Drogen ich angeblich genommen habe oder welche nicht. Sie haben keinen blassen Schimmer.“

Und plötzlich ist da ein Ausdruck in seinem Gesicht, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Ian McLagan – einst bei den Faces, danach aushilfsweise Keyboarder bei den Stones – erzählte einmal, dass Keith immer eine 38er bei sich trug. Und dass er seinem früheren Kumpel Tony Sanchez (alias „Spanish Tony“), als dieser ungefragt das Buch „Up And Down With The Rolling Stones“ schrieb, nur wortlos die Knarre gezeigt habe anstatt ihn anzuschreien.

Bis zu diesem Moment unseres Gesprächs ist Keith die Leutseligkeit in Person – ein netter, etwas durchgeknallter Onkel mit einem braunen Filzhut. Nachdem er inzwischen auch seine Piratenlocken gekappt hat und nicht mehr versucht, die grauen Haare nicht zu verbergen, wirkt er wie ein altersweiser Mann, der nicht mehr den Don Corleone des Rock’n’Roll mimen will. Aber dieser Blick, den er einem plötzlich mit seinen verkniffenen, mit Kajal umrandeten Augenschlitzen zuwirft, ist das psychische Pendant zur stummen Demons­tration eines Revolvers. Willkommen bei „His Satanic Majesty“.

„Ich bin mal runter und mal wieder drauf“, knarzt er. „Doch das spielt keine Rolle. Entzugserscheinungen? Kenne ich nicht. Sicher macht eine Entgiftung keinen Spaß, aber ganz ehrlich: Ich war damals nicht krasser drauf als die anderen. Charlie hing an der Cognac-Flasche, Mick soff Wein, aber mit welchem Sprit man fuhr, war völlig egal – Hauptsache, man hatte am Ende ein annehmbares Resultat in den Händen.“ Mit einem energischen Eiswürfel-Klackern lehnt sich Keith zurück. Das Thema ist abgeschlossen.

Auch wenn die Villa Nellcôte primär das Musik- und Party-Hauptquartier der Stones war, so verbrachten Keith und Anita auch ihre Freizeit hier – sie wohnten schließlich dort. Manchmal verschwand Richards daher für einige Stunden aus dem Aufnahmeraum und ging nach oben, selbst wenn er im Keller gerade dringend gebraucht wurde. Nicht etwa um exotische Drogen mit Anita zu testen, sondern um den damals gerade anderthalbjährigen Sohn Marlon zu Bett zu bringen. „Kinder können sich auf vieles einstellen“, kommentiert er die Aktion achselzuckend. „Und was wäre denn die Alternative gewesen? Hätte ich ihn in eine bescheuerte Uniform stecken und auf eine britische Vorschule schicken sollen? Es war nun mal das Leben, das sein Vater lebte. Er wurde mein Steuermann – mit fünf Jahren konnte er schon Straßenkarten lesen. Wenn wir uns einer Grenze näherten, gab er mir ­Bescheid, damit ich rechtzeitig die Drogen aus dem Auto werfen konnte…“

Keiths vollmundige Erzählungen werden regelmäßig fünf Worten gewürzt: „You know what I mean.“ Die nimmt man irgendwann gar nicht als Begriffe wahr, sondern als amorphe Wortmasse. Sie klingen so, als würde jemand bei einem alten Lastwagen einen Gang hochschalten. Und Richards schaltet oft. Zum Beispiel, wenn er Anekdoten über seinen französischen Koch ausgräbt:

„Der dicke Jacques, ja, der war auch ein Dealer. Jeden Donnerstag fuhr er nach Marseilles, um sich…“ (Er stoppt mitten im Satz und lacht ein röchelndes Lachen). „Er setzte sogar einmal die gesamte Küche in Brand. Einige dieser Geschichten wären wirklich guter Stoff für einen Comic. You know what I mean.“

Doch trotz aller Skandalstories: Richtig ernst wurde es für Richards & Co. in Frankreich nie. Er hatte nur ein einziges Mal mit der Polizei zu tun. Eine Begegnung, die ihm nachhaltig im Gedächtnis geblieben ist: „Ich war mit Spanish Tony in Beaulieu unterwegs, der nächsten Stadt in der Umgebung, und wir bekamen Ärger mit dem Hafenmeister und seinem Bootsmann, beides riesige Kerle. Sie brachten uns in ihr Büro, und Tony ahnte, dass was im Busch war und warnte mich: ›Pass auf! Sie wollen uns einbuchten!‹ ›Alles klar‹, antwortete ich. ›Ich halte dir den Rücken frei.‹ Tony schritt also zur Tat. Dazu sage ich nur: Bruce Lee! You know what I mean. Spanish griff sich einen Stuhl, sprang auf den Tisch, und zwei Sekunden später lagen die beiden Kerle auf dem Boden und heulten rum: ›Zut alors!‹ oder ›Mon dieu!‹ oder ›Sacre bleu!‹ oder was man sonst so auf Französisch jammert. Ich stand nur dumm da, während Tony ihnen den Rest gab. Und dann verpissten wir uns.“

Ende der Geschichte? Nicht ganz. „Eine Woche später klopfte es an der Tür. Vor uns stand ein freundlicher Gendarm mit seinem hübschen Käppi und ein paar Papieren. Natürlich hatten die Typen Anklage erhoben. Die französischen Gerichte sind wirklich komisch: Man ist dort so lange schuldig, bis man das Gegenteil beweisen kann. Wirklich eine seltsame Einstellung, you know what I mean. Am Ende war es aber auch egal, denn die Sache löste sich schnell wieder in Luft auf.“

Lösen sich solche Angelegenheiten wirklich einfach in Luft auf? Das muss doch jemand nachgeholfen haben – denn warum sonst ist in früheren Schilderungen des Vorfalls von einigen signierten Stones-Covern die Rede, welche die Wogen der Empörung geglättet haben. In Verbindung mit rund 10.000 Euro Strafe für Tony Sanchez übrigens, bezahlt aus der Portokasse von Mr. Richards.

Zudem hatte Keith wohl noch ein weiteres Mal Kontakt mit der Staatsmacht, zumindest erinnert sich Bill Wyman daran, dass Richards sein Auto mit einigen italienischen Touristen kollidierte. Aber wer will hier schon kleinlich sein…

Doch zurück zu EXILE ON MAIN STREET: Ein wesentlicher Grund für die magische Wirkung des Albums ist die Beziehung zwischen Richards und Gitarrist Mick Taylor. Das Duo mochte sich von Anfang an und intensivierte den Kontakt im Laufe der Zeit weiter. Die beiden verstanden sich fast blind. „Mit Mick war es ganz anders als mit Brian (Jones – Anm.d.Red.). Früher gab es bei den Stones keine Trennung zwischen Lead- und Rhythmus-Gitarre. Aber Micks Stil war der geborene Lead-Gitarrist, darauf musste ich mich erst einstellen. Doch es gefiel mir, und ich liebte es, mit ihm zusammenzuspielen. Deshalb war ich wohl auch derjenige, der sich am meisten darüber gewundert hat, dass er uns 1974 wieder verlassen wollte. Ich fragte ihn: ›Bist du verrückt? Was in Gottes Namen willst du denn sonst machen, Alter?‹ Und wie ich befürchtet hatte: Er machte nichts mehr.“

Einer der wichtigsten Besucher im französischen EXILE ON MAIN STREET-Sommer war Gram Parsons, für Keith ein Bruder im Geiste. Parsons hoffte insgeheim darauf, dass die beiden gemeinsam ein Country-Album aufnehmen würden. „Ja, diesen Plan gab es“, bestätigt Keith, „aber es kam nicht Konkretes dabei raus. Aber es entwickelte sich eine dicke Freundschaft zwischen Gram und uns Stones-Mitgliedern. Vor allem ichbin viel mit ihm rumgehangen, während Mick ihm gegenüber ein wenig miss­trauisch gewesen ist. Herr Jagger mag es nämlich nicht, wenn ich mit anderen Musikern unterwegs bin. Immer, wenn ich sagte: ›Hey Mick, hier ist ein guter Kumpel von mir!‹, antwortete er (Richards imitiert einen snobbischen Mick Jagger): ›Wer bist du denn bitte?‹ Vielleicht wollte er ja nur mein Bestes, aber eventuell war auch ein Hauch von Eifersucht mit dabei, you know what I mean. Wahrscheinlich beides.“

Zudem hätte ein mögliches Projekt zum Eklat führen können, denn zu diesem Zeitpunkt galt in der Band das ungeschriebene Gesetz, dass Rolling Stone-Mitglieder keine Solo-Alben machen durften.„Das war nicht drin, denn es hätte bedeutet, dass jemand mit den Stones unzufrieden war. Erst später haben wir unsere Meinung geändert. Mick fing damit an“, so Richards. „Im Nachhinein betrachtet war das gut, denn er zwang mich quasi dazu, selbst eines zu machen. Und ich ziehe TALK IS CHEAP und MAIN OFFENDER seinem Album SHE’S THE BOSS vor“, gluckst Keith, während das Eis im Becher klackert. „Mick dachte nämlich, er könnte das ohne Probleme stemmen – und musste feststellen, dass dem nicht so war. Er hatte einfach nicht einkalkuliert, was die Stones wirklich bedeuten. Mick mit seinem überdimensionalen Frontmann-Ego war vorher der Ansicht: ›Ach, das sind ja nur Begleitmusiker‹. Und das führte schließlich zum Dritten Weltkrieg.“

Diese Fehleinschätzung scheint Programm zu sein bei Jagger – auch bei EXILE ON MAIN STREET ging er mit unrealistischen Vorstellungen an das Album heran. Deshalb scheint er bis zum heutigen Tag ein gespaltenes Verhältnis zu der Platte zu haben. So sieht das auch Richards: „Das ist nun mal Mick. Er wird diesbezüglich nie die Wahrheit sagen. Weil er nicht mal weiß, was die Wahrheit ist – oder ob es so was wie Wahrheit gibt. Da liegen eine Menge kontroverser Gefühle und Visionen im Clinch miteinander… Aber was will man auch von zwei Typen erwarten, die sich seit über 40 Jahren gegenseitig beharken? Sich ohne Grund in die Haare zu kriegen, ist natürlich bescheuert“, gibt Keith zu, setzt aber mit einem dicken Lächeln hinterher: „Doch wenn dadurch am Ende ein perfektes Resultat entsteht, ist es den Kampf wert.“

Ein Kampf, der sich auf jeden Fall gelohnt hat – schließlich be-zeichnen viele Fans EXILE ON MAIN STREET als bestes Album der an Höhepunkten wahrlich nicht armen Stones-­Karriere. Doch der Erfolg des Albums ist nicht allein auf die nerven­aufreibenden, wenngleich produktiven Zankereien zwischen Richards und Jagger zurückzuführen.

„Was bei EXILE ON MAIN STREET durchschlug“, so Keith, „war die Tatsache, dass wir in vorangegangenen acht Jahren Amerika kennengelernt hatten. Wir saugten diese dortige Kultur auf. Das Prinzip ist einfach: Wenn du gut bist, alles gibst und richtig spielst, lieben sie dich dort.“

Richtig (und gut) spielt Keith nun seit vier Jahrzehnten: der englische Tunichtgut, der aus seiner Heimat vertrieben wurde und sich in Amerika niederließ, der archetypische Schalk mit dem Totenkopf­ring, den eigentlich alle lieben. Unter den oberflächlichen Dellen, die er sich durch die verschiedenen Drogen zuzog, steckt noch immer der charmante Quertreiber, der in Dartford die Schule schwänzte.

Alles, was aus seinem Munde kam, wurde begierig kolportiert: dass die ersten Worte seines Sohnes Marlon „room service“ gewesen seien, die Mär vom Blutaustausch in der Schweiz oder davon, dass er die Asche seines Vaters geschnupft hätte. „Erstaunlich, auf was die Leute anbeißen. Aus meiner Perspektive ist das alles unglaublich lustig. Und so lange sie überhaupt noch über uns reden, interessiert mich das einen feuchten Dreck, you know what I me-ahh-ahh-nnnnng-ah… (Sein Lacheln mutiert in ein perverses Jodeln, dazu klackert das Eis, die Asche fliegt, die Arme rudern – klassischer Keith.)

„Ich bin ein Familienmensch“, sagt er dann ganz nüchtern. „Und das war ich, seit ich 26 bin. Natürlich kenne ich die Leute, die es sich einfach machen und sagen: ›Klar, Keith ist ein Wüst­ling!‹ Das kann ich ja durchaus sein, wenn mir der Sinn danach steht – wobei ich schon etwas in die Jahre gekommen bin und entsprechend kürzer trete. Ich liebe meine Familien – und ja, ich habe mehrere, und sie lieben sich alle. Ich habe unglaublich Glück gehabt mit meinen Damen, die – dem Himmel sei Dank! – alle miteinander klar kommen.

Wenn ich zu Hause bin, kann ich der geborene Gentleman sein: ›Ja, Lieb­ling, nein, Liebling!‹, genau wie jeder andere Mann auch. Unnötigen Kon­flikten geht man eben lieber aus dem Weg. Doch gleichzeitig weiß ich, dass ich – wenn sich die Gelegenheit anbietet – immer noch demonstrieren kann, was dieser Keith Richards alles drauf hat. (Er rollt die Augen, springt aus dem Stuhl und torkelt wie ein Pirat durchs Zimmer.) Aber ich bin nicht Keith Moon, der sich mit seinen Exzessen jedesmal übertreffen musste – bis er den Bogen prompt überzog. Wenn ich Bock habe, gut drauf zu sein, dann mache ich es. Und ich nehme immer ein paar Leute mit, die mir dann hinterher erzählen können, was ich angestellt habe. Manchmal glaube ich es selbst nicht, was da alles passiert sein soll, aber wenn einem 59 Leute erzählen, dass es wirklich so war, dann kann man dagegen nicht anstinken. Aber ich halte mich nicht für unkaputtbar. Nun ja, vielleicht ein bisschen. Doch ich verspürte nie den Drang, mir das selbst zu beweisen. Ich kann ein echtes Schnurrkätzchen sein. Wenn es sein muss, lasse ich mein Image allerdings gerne mal aufblitzen – vor allem, wenn ich im Restaurant eine Reservierung tätigen will.“

Damit erhebt sich Mr. Rock’n’Roll, legt den Finger zum Gruß an die Hutkrempe, schüttelt noch einmal die Eiswürfel – und ist verschwunden…

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