Ist Rock’n’Roll überhaupt möglich ohne Sexualität oder eine gewisse Körperlichkeit?
J: Ich denke nicht, dass man versuchen sollte, das voneinander zu trennen. Sexualität ist dem Leben inhärent, das gehört dazu, um deinen eigenen Körper und den von jemand anders zu würdigen. Es ist ein wichtiger Teil unseres Mensch-Seins, der Fortpflanzung.
Du erwähntest vorher schon den zunehmenden Nationalismus: Wie würdet ihr eure Position als Rockmusiker heutzutage einschätzen? Fühlt ihr euch in einer Art Botschafter-Rolle?
J: Ich denke, du nimmst eine Mentalität an, die zu dir passt. Aber ich werde jetzt nicht recht hochgeistig sagen, dass wir Botschafter sind. Sobald du den Leuten befiehlst, dir zuzuhören, ist es blöd.
S: Niemand kann sich selbst zum Botschafter machen. Ich meine, du könntest das über uns schreiben, aber wir können doch nicht ankommen mit: Wir sind die fucking Botschafter! Weil du dann sagst: Nein, du bist ein Trottel. Die Königsklasse des Rock kann sowas vielleicht von sich behaupten, weil sie dazu von der Welt auserkoren wurde und diese Rolle nun annehmen kann. Aber uns gibt es jetzt zehn Jahre, wir müssen uns unsere Sporen noch verdienen. Wir bewegen uns immer nach vorne, bauen unser Erbe gerade erst noch aus und schwelgen nicht darin.
J: Wir machen uns immer noch einen Namen, und zwar einen, der auch künstlerisch zu uns passt.
Gibt es irgendeine Schlüssellektion, die ihr in zehn Jahren Rival Sons gelernt habt?
J: Eine davon ist auf jeden Fall die Kunst Kompromisse zu schließen. Das zwischen uns ist eine sehr enge Beziehung, wir müssen uns aufeinander verlassen können, um das Beste im anderen zu Tage zu fördern. Und es braucht wirklich einen Haufen Übung, um Kompromisse machen zu können, denn du musst immer an das Wohl des Kollektivs denken, nicht nur an dich: Da müssen die Egos und all das zur Seite und dann merkt man, dass man am besten arbeiten kann. Was denkst du, Scott?
S: Ich stimme dir komplett zu. Das ist abgedroschen, aber Respekt ist extrem wichtig. Wenn du deine Gruppe nicht liebst und respektierst, kannst du auch nicht nachgeben.
Und wie zähmt man da sein eigenes Ego?
S: Ja, es ist erst mal seltsam, dass in diesem ganzen Rock-Zirkus, wo es nur um Ego und Co. geht, plötzlich sensible Begriffe wie Kompromiss, Respekt, Balance und Geduld so wichtig sind. Ich meine, in der Kunst ist Teamwork eigentlich unnatürlich. Wenn ein Maler ein Bild fertig hat, gehst du auch nicht hin und spritzt noch ein bisschen Blau drüber. Aber genau das tun wir: Jemand kommt mit einem Vorschlag und die anderen fügen etwas hinzu oder nehmen was weg. Damit muss man erst mal umzugehen lernen.
J: Ja, und Scott und ich, wir haben beide gern die Zügel in der Hand. Ich führe, weißt du. Aber unsere Band ist, als müssten wir einen Trip durch ganz Amerika gemeinsam meistern: Wenn ich fahre, muss er mir vertrauen können und auf dem Beifahrersitz schlafen können. Und andersrum. Man muss sich aufeinander verlassen, dass man sich am Leben hält und auf der Straße bleibt. Nur so funktioniert es.
Um auf FERAL ROOTS zurück kommen: Was habt ihr gefühlt, als ihr das Cover zum ersten Mal gesehen habt?
S: Oh, es war total kribbelig. (kichert)
J: Das gefällt mir. Kribbelig, vor allem zusammen mit deinem Kichern. (lacht)
S: Wir hatten viele und tiefe Gespräche mit dem Künstler Martin Whittfooth, und als wir es zu Sehen bekamen, war es einfach nur ein Wow-Erlebnis. Die Farbgebung, die Komposition, alles ist so wundervoll und trotzdem ein aufregendes Rock’n’Roll-Cover, genauso aufregend wie unsere Musik. Und dann schaut man genauer hin und legt seine Deutungsweise darauf. Aber ich denke, wir wollen da noch etwas Interpretationsspielraum lassen.
J: Ja, wir wollen da auch nicht für Martin sprechen. Achja, an alle, die dieses Interview lesen: Seht euch seine Kunst an, dieser Mann ist brillant.
Wo liegen eigentlich eure wilden Wurzeln und was erwächst daraus?
J: Also schau. Großteils geht es darum, zur Urform zurückzufinden. Wir befinden uns in einem von der Technologie dominierten Informationszeitalter, alles, was du siehst, ist von Menschen erdacht und erschaffen und trotzdem ist da in jedem von uns noch ein undomestizierter Teil, dieser unbekannte Faktor, ein wildes Naturell, das uns rebellieren oder Dinge kaputt machen lässt, wenn wir wütend sind. Ein Faktor, wegen dem wir in die Wälder gehen und nach der Therapie von Mutter Natur suchen. Wir wissen, wie alles funktioniert, was wir uns ausgedacht haben, aber dann schaut man in die Wildnis und merkt, dass diese Wildnis uns erdacht hat. Vor allem der Song ›Feral Roots‹ dreht sich um diesen ungezähmten Part in dir selbst und dieses Narrativ harmoniert perfekt mit dem Cover, das Martin geschaffen hat.
S: Man bekommt fast ein Zeitreise-Gefühl, wie in dem Buch von H.G. Wells. Er reist hunderte von tausend Jahre in die Zukunft und da ist nichts. Also, nur Natur und neue Schöpfungen, eine natürliche Landschaft. Die Natur übernimmt das Ruder. Und dieses Gefühl habe ich auch, wenn ich das Cover ansehe: Der Hund, die Milch…
J: Der Hund ist offensichtlich domestiziert.
Ja, er trägt ein Halsband.
S: Exakt. Und man sieht diese üppige Flora, die Milch, die kleinen Tiere, die davon trinken…
J: Weißt du was? Du hast den Hund gerade als männlich bezeichnet. Jeder tut das, obwohl er offensichtlich weiblich ist, ich meine, es läuft Milch aus seinen Zitzen.
Oh. Na ja, ist das in Amerika auch so? In vielen europäischen Sprachen haben Hunde übergreifend einen maskulinen Artikel…
J: Also Hunde sind dann immer „Ers“ und Katzen immer „Sies“? Interessant, das hat mich die ganze Zeit schon gewundert…
Ist der Rock’n’Roll für euch dann das passende Werkzeug, um mit eurem wilden Inneren wieder in Kontakt zu treten?
J: Der Rock’n’Roll ist auf jeden Fall ein Teil davon. Dieser Musik liegt ein sehr ungebändigtes Naturell zugrunde, daraus wurde sie ja geboren, deswegen wird es auch immer Platz für die Rockmusik geben und deswegen sieht man auch, wie die Rockmusik andere Genres wie etwa Hip-Hop beeinflusst und erweitert und andersrum.
S: Ja, genau. Im Groben muss man wohl sagen, dass Musik im Generellen Dinge entfesselt.
J: Ja, und was ich sagen wollte: Hip-Hop ist ja irgendwie auch ein Produkt des Rock’n’Roll, die Genres haben den gleichen Stammbaum und man sieht ja, wie die Rockmusik die Basis von so vielen anderen Ebenen, Stilrichtungen und Bereichen ist: Ich meine, schau dir nur die ganzen Bücher und Filme an, die Mode, das alles…
S: Ich dachte gerade daran, dass vielleicht sogar vor allem alte Musik mit mehr Komplexität wie Jazz oder Klassik sehr entfesselnd wirken kann, wenn man von ganzem Herzen zuhört…
J: Oh ja, das ist transzendierender Scheiß, von dem man leider gar keine Ahnung hat!
S: Man fällt da irgendwie in sich selbst hinein, auf eine sehr pure Art und Weise. Man kann sich selbst vergessen und darin verlieren. Ein sehr urtümlicher, wilder Zustand, wenn man wieder mit sich selbst in Berührung kommt und wirklich bewegt wird. Und ganz gewiss ist Rock’n’Roll dessen fähig, genau wie Musik allgemein.
J: Zumindest, wenn sie richtig gemacht ist! (lacht)