Floyd hatten den Backing-Track dazu schon in den Abbey Road Studios aufgenommen, doch das weitere Ausformen gestaltete sich schwierig. „Wir fügten Elemente hinzu, entfernten und multiplizierten sie“, so Mason. „Aber etwas Wesentliches fehlte.“ Sie beschlossen, dass dies ein Chor und ein Orchester sein sollten. Doch niemand in der Band wusste, wie man eine Partitur schreibt. Zum Glück hatte sich Waters aber mit dem schottischen Musiker und Dichter Ron Geesin angefreundet, eine wahre Ein-Mann-Band, bewandert in Jazz, Klassik und Avantgarde, aber, wie er sagte, nicht unbedingt in „Pink Floyds Astralwanderungen“.
Geesin erklärte sich bereit, die Partitur zum neuen Floyd-Werk zu schreiben, doch behauptete, dass die Band nur eine vage Idee davon hatte, was sie überhaupt wollte: „Dave [Gilmour] sprach mit mir über das Thema und Rick ging mit mir ein paar Phrasierungen für den Gesangspart durch.“ Als Floyd aus Amerika zurückkehrten, überreichte Geesin ihnen den fertigen Score. Tage später war er bei Abbey Road und versuchte, ihn dem EMI Pops Orchestra zu erklären. „Ich war eigentlich ein Anfänger“, gestand er später. „Ich war kein Dirigent.“
Es gab auch schon Probleme. Aufgrund EMIs Verbot, teuere Ein-Zoll-Tonbänder zu zerschneiden, waren
Mason und Waters gezwungen, den Backing-Track in einem wackligen Take aufzunehmen. „Da fehlte die metronomische Präzision“, gab der Schlagzeuger zu. Außerdem enthielt das Stück auch technisch anspruchsvolle Passagen und schwierige Phrasierungen. Die meisten Mitglieder des EMI Pops Orchestra waren hartgesottene Klassik-Veteranen, die wenig mit Rock-Emporkömmlingen zu tun haben wollten.
Ron Geesin war fast fünf Jahre älter als Pink Floyd, doch das Orchester tat ihn als weiteren Hippie-Nichtsnutz ab. „Ron schwang hoffnungsfroh seinen Taktstock herum und es stellte sich so quer, wie es nur konnte“, erinnerte sich Mason. Als Geesin einem der Bläser mit Fäusten drohte, wurde ihm nahegelegt, sich den Rest des Tages freizunehmen. An seine Stelle trat John Alldis, ein erfahrener Dirigent, der das Orchester auf Linie hielt und seinen eigenen Chor für die wortlosen Vocals einsetzte. Das Endergebnis war eine Suite von 23:41 Minuten Länge, die geisterhafte Stimmen und donnernde Bläser mit Gilmours typisch saitenverbiegenden Gitarrensoli verband. Eine Hälfte der LP war nun fertig und die Band machte sich daran, so Geesin, „aus Bruchstücken, die sie noch übrig hatte“ vier Tracks für die zweite Seite zu erschaffen. Erneut arbeiteten sie getrennt voneinander.
›Alan’s Psychedelic Breakfast‹, größtenteils von Nick Mason komponiert, war ein Flashback zu ›The Man‹
und ›The Journey‹. Hier hörte man den Roadie Alan Styles Eier und Speck braten, Wasser kochen und über „toast, marmalade, cereal …“ schwadronieren. Das Album wurde im Juli fertig, hatte aber immer noch keinen Titel. Waters war vor einem Konzert im Londoner Paris Theatre backstage und besprach das Problem, als Ron Geesin ihm eine Ausgabe der Tageszeitung Evening Standard zur Inspiration gab. Waters blätterte sich gelangweilt durch die Seiten, bis er einen Artikel über Constance Ladell
erspähte, eine 56-Jährige, die als erster Mensch einen radioaktiven Plutonium-Herzschrittmacher eingesetzt bekommen hatte. Die Überschrift lautete: „Atom Heart Mother Named.“ „Atom Heart Mother“ hatte keinerlei Bezug zur Musik, doch verlieh der problematischen Suite und dem ganzen
Album den Titel.
Ihre Freunde Storm Thorgerson und Aubrey „Po“ Powell vom Designkollektiv Hipgnosis waren schon mit dem Entwurf eines Covers beauftragt worden. Thorgerson und Waters waren alte Schulfreunde, die ähnlich fokussiert waren und nicht mit ihrer Meinung hinterm Berg hielten. Eine Eigenwilligkeit, die Hipgnosis dazu veranlasste, eine böse dreinblickende Holstein-Kuh in einem Feld abzulichten und dann darauf zu bestehen, dass weder der Bandname noch der Albumtitel auf dem Bild zu sehen sein sollten. Floyd liebten die Querköpfigkeit und Absurdität des Konzepts, umso mehr, nachdem ein hohes Tier bei EMI die Kuh gesehen und gebrüllt hatte: „Seid ihr verrückt? Wollt ihr dieses Unternehmen
vernichten?“
Pink Floyd mögen mit ihren Zahlmeistern im Clinch gelegen sein, doch ihre Fans hörten sich nur zu gerne an, wie Alan in grandiosem Stereoklang sein Frühstück briet, und machten sich Gedanken über die mystische Bedeutung der Kuh, ebenso wie schon beim albernen Titel UMMAGUMMA. ATOM HEART MOTHER erschien im Oktober 1970. Das Album, von dem manche befürchtet hatten, es würde EMI zerstören, erreichte in Großbritannien Platz 1.
Doch Pink Floyd waren seit jeher ihre eigenen schärfsten Kritiker. Sowohl Gilmour als auch Waters haben sich bisweilen brutal abfällig über diese Zeit in ihrer gemeinsamen Geschichte geäußert. „Absoluter Müll“ lautete Waters’ lapidares Urteil zum Titelstück von ATOM HEART MOTHER. Mit den späteren ›Time‹ oder ›Shine On You Crazy Diamond‹ kann es in der Tat nicht mithalten, doch ebenso wie ›Set The Controls For The Heart Of The Sun‹ und diese tief vergrabenen Schätze auf MORE war es ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu THE DARK SIDE OF THE MOON und WISH YOU WERE HERE. Ohne sie hätte es eben kein ›Time‹ oder ›Shine On You Crazy Diamond‹ gegeben.
Manchmal können Menschen außerhalb einer Band denen in ihr helfen, ihre vergangenen Werke durch frische Augen zu betrachten. 2018 fragten der einstige Blockheads-Gitarr ist Lee Harris sowie Roger Waters’ Nachfolger am Bass Guy Pratt bei Nick Mason an, ob der in Betracht zöge, eine Band zu gründen, um das frühe Materia von Pink Floyd zu spielen. Keiner von beiden rechnete damit, dass er Ja sagen würde. Wenig später spielten Nick Mason’s Saucerful Of Secrets (komplettiert durch Ex-Orb-Keyboarder Dom Beken und Spandau-Ballet-Gitarrist/Sänger Gary Kemp) ›Atom Heart Mother‹, ›Set The Controls For The Heart Of The Sun‹ und andere Floyd-Relikte in diversen Hallen in ganz Großbritannien.
Bevor Covid zuschlug, war für den April 2020 eine ausverkaufte „Echoes“-Tour angesetzt, benannt nach der ausladenden Komposition auf MEDDLE von 1971, die den Klang der Band vor DARK SIDE mehr als irgendetwas sonst definierte. Als sie die Arbeit an MEDDLE begannen, war ihnen klar geworden, dass ihre größte Stärke in ihrem kollektiven Songwriting lag. Was Mason als „das Gerumpel, Gequietsche und die Klangtexturen“ beschrieben hatte, war ein unterbewusster Weg gewesen, zu verbergen, dass sie keine Popsongs wie Barrett komponieren konnten. Doch Pink Floyd hatten zu einem neuen Sound gefunden.
Barbet Schroeder glaubt, dass sie aus der Arbeit unter Druck an dem Soundtrackalbum MORE eine wertvolle Lektion gelernt hatten. „Ich denke, es überraschte Pink Floyd, dass sie in nur zwei Wochen eine so gute Platte machen konnten“, sagte er. „Vielleicht hätten sie sich bei all ihren anderen Werken im Studio nicht so viel Zeit lassen sollen.“ Die Songs auf MEDDLE waren weder übereilt noch erzwungen, und das Songwriting und die Darbietung straffer, ob im unheilvollen ›One Of These Days‹ oder dem verträumten Schlaflied ›A Pillow Of Winds‹. ›Echoes‹, das Kernstück auf MEDDLE, nahm die gesamte zweite Seite ein und belegte Floyds Erfahrung und Chemie.
Gilmour hatte seinen Platz in der Band etabliert und war sowohl ein genialer Interpret von Waters’ großen Ideen als auch eine unverrückbare Kraft, wenn diese Ideen die Musik bedrohten. Dieses kreative Tauziehen machte ›Echoes‹ so fesselnd. Die sich wandelnden Stimmungen und Akte griffen auf unheimliche Klangeffekte und Experimente zurück. Doch sein schlagendes Herz war eine simple Melodie, ebenso wie die gemeinsamen Lead-Vocals von Gilmour und Rick Wright. Genauso wichtig war der Text, der das erkundete, was Waters als „den Raum im Inneren“ bezeichnete – menschliche Emotionen und das wahre Leben statt „hochtrabender mystischer Schwachsinn“.
Die Inspiration war von Waters’ frühen Jahren in London gekommen und jener seltsamen, unsicheren Zeit unmittelbar nach Syd Barretts Weggang. Waters lebte in einer Wohnung in Shepherd’s Bush. Jeden Morgen sah er, wie ein Strom aus Pendlern wie Ameisen zur U-Bahn lief, und jeden Abend sah er sie wieder zurückkommen. Es war eine deprimierende Warnung, was für ein Leben er gehabt haben könnte, wenn Pink Floyd den Verlust von Barrett nicht überstanden hätten und er Architekt geworden wäre. „In den Texten geht es darum, Verbindungen zu Menschen herzustellen“, erklärte er. „Um das Potenzial, das Menschen haben, die Menschlichkeit von einander zu erkennen.“
Dazu gehörte auch, eine essenzielle Verbindung zum Rest von Pink Floyd zu etablieren. „MEDDLE war das erste Album seit A SAUCERFUL OF SECRETS drei Jahre zuvor, an dem wir gemeinsam als Band gearbeitet hatten“, so Mason. „Wir begriffen endlich, worin wir gut waren und was wir tun sollten.“ „Das wurde zur Blaupause für alles, was danach kam“, fügte David Gilmour hinzu. „ATOM HEART MOTHER fühlte sich wie das Ende von etwas an, und dies fühlte sich wie der Anfang von etwas anderem an.“ 1971 erreichte die zweite Phase der langen, seltsamen Reise von Pink Floyd ihr Ziel. Der nächste Halt war THE DARK SIDE OF THE MOON. Und es sollte kein Zurück mehr geben.