Wenn es um ungewöhnliche Projekte geht, wird Lou Reed sofort hellhörig. Schon in der Vergangenheit hat sich seine „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“-Einstellung bewährt, und daher überlegte der ehemalige Velvet Underground-Kopf nicht lange, als sich die Gelegenheit ergab, ein gemeinsames Projekt mit Metallica zu starten. Das Resultat nennt sich LULU und kommt in wenigen Tagen auf den Markt.
Im Jahr 1966 hat Lou Reed The Velvet Underground aus der Taufe gehoben – und ist seither unverdrossen ganz vorne mit dabei, wenn’s darum geht, Unkonventionelles im Rock’n’Roll zu fördern. Doch er ist nicht nur ein Außenseiter geblieben, der sich – von der Avantgarde gelobt, von der Masse verschmäht – im Underground suhlt, sondern hat es geschafft, auch die Mainstream-Hörer zu begeistern. So sind Reed eine Reihe von Hits gelungen, so zum Beispiel ›Walk On The Wild Side‹ oder ›Perfect Day‹. Letzterer, nicht zuletzt dank des Kultfilms „Trainspotting“ weltweit bekannt geworden, zeigt auch, dass Reed nicht nur in musikalischer, sondern auch lyrischer Hinsicht außergewöhnlich ist. Der 69-Jährige hat sich noch nie um Tabus geschert – und so thematisiert er in seinen Liedern nicht nur Drogenkonsum, sondern auch Suizid, Sadomasochismus oder Transvestismus. Nichts ist zu krass für ihn.
Passend dazu ist auch der Sound, den Reed auf einigen seiner Werke bis zum letzten Extrem ausgereizt hat: so z.B. auf Velvet Undergrounds WHITE LIGHT/WHITE HEAT-Album aus dem Jahr 1968, das in seiner Rohheit etliche spätere Punk-Acts beeinflusst hat, oder auch auf dem wütenden 1975er-Noise-Monster METAL MACHINE MUSIC. Kakophonie? Für Lou Reed kein Schimpfwort, sondern eine kreative Herausforderung.
Im CLASSIC ROCK-Gespräch erinnert er sich aber nicht nur überaus ausführlich an vergangene Zeiten, sondern blickt auch in die Zukunft – schließlich erscheint in wenigen Tagen sein neues Projekt LULU, eine gemeinsame Platte mit den Heavy-Ikonen Metallica.
Lou, weißt du noch, was du bei deiner ersten Begegnung mit Andy Warhol für einen Eindruck von ihm hattest?
Ich liebte ihn von der ersten Sekunde an. Und das, obwohl ich keinen blasser Schimmer hatte, wer der Typ war – allein das ist schon ziemlich erstaunlich, find ich. Wenn mich Leute heute fragen, ob ich so etwas wie einen Seelenverwandten habe, dann nenne ich immer ihn, denn Andy kommt dem definitiv am nächsten. Für jemanden, der das Passive propagierte, war er ein erstaunlich aktiver Mensch, nahm immer und überall das Heft in die Hand. Ganz so, als ob er besessen davon wäre, seine Visionen Realität werden zu lassen. Ich war das perfekte Gegenstück zu ihm, wie ein Schlüssel, der geschmeidig ins Schloss gleitet. Bingo. Wir hatten dieselben Interessen und dieselben Träume, kamen jedoch aus unterschiedlichen Welten. Doch Andy hat mich beziehungsweise die gesamte Band einfach gepackt und in sein Universum integriert. Es war einfach unglaublich.
Velvet Underground schienen damals die Antithese zur gerade angesagten Flower Power-Bewegung zu sein. Wie siehst du das mit etwas Abstand?
Immer noch ganz genauso. Es stimmt, wir waren eine Antithese, und das liegt nicht nur an der Musik. Denn wir waren, um das mal ganz uncharmant zu formulieren, pfiffiger als die meisten anderen Bands. Rückblickend ist es einfach, eine Entwicklung nachzuvollziehen. Aber wenn man mittendrin steckt, muss man schon ein bisschen was in der Birne haben, um den richtigen Weg einzuschlagen.
Aber im Booklet zu deiner 2003er-Compilation NYC MAN schreibst du in Bezug auf Velvet Undergrounds ›Heroin‹: „Selbst jemand mit dem IQ einer Schildkröte könnte einen Lou Reed-Song spielen.“
Ach, ich habe nur einen Scherz gemacht. Und klar, vielleicht könnte eine Schildkröte ›Heroin‹ covern, aber das wäre dann schon eine sehr, sehr dumme Version des Songs. Denn es kommt doch nicht allein auf die Töne an, sondern auf die Performance – das ist die wahre Kunst.
Aus welchen Gründen kam es eigentlich nach der Veröffentlichung von WHITE LIGHT/WHITE HEAT zum Bruch mit John Cale?
Das würde ich niemals verraten. Es ist und bleibt ein Geheimnis.
Es war einen Versuch wert…
Stimmt. Jeder kann und darf mich danach fragen, ich antworte eben nur nicht. Aber John vielleicht…
Nun, reichlich unwahrscheinlich, oder?
Ja, das ist wohl richtig, aber ganz sicher bin ich nicht.
Deinen Durchbruch als Solist hattest du 1972 mit dem Album TRANSFORMER, das von David Bowie produziert worden ist. Wie war die Arbeit mit ihm – und bist du im Nachhinein noch zufrieden mit dem Ergebnis, das er und Mick Ronson abgeliefert haben?
Ich kann mich gar nicht mehr an meine erste Begegnung mit David erinnern, ehrlich gesagt. Das ist alles so lange her – und wir sind ja seither befreundet, haben also viele Dinge gemeinsam erlebt. Ich weiß nur, dass wir uns in New York kennen gelernt haben – aber ich wusste damals schon, dass es wirklich Spaß machen würde, mit diesem Kerl zusammenzuarbeiten. Er ist wirklich ein ungemein talentierter Künstler. Und clever obendrein. Mick Ronson verfügt ebenfalls über enormes Talent. Seine Arrangements auf TRANSFORMER sind einfach der Hammer, selbst heute noch. Ich hatte nur ein Problem mit ihm: Er redete so merkwürdig, dass ich nie verstand, was er von mir wollte. Ich musste ihn mehrmals bitten, die Sätze zu wiederholen, denn was bei mir ankam, war nur Kauderwelsch der Marke „Ouzibuzziwoozy“. Keine Chance, irgendetwas davon zu kapieren. Doch wenn ich mir das grandiose Arrangement von ›Perfect Day‹ vor Augen halte, ist all das vergessen. Er ist ein Genie.
Hast du dich eigentlich darüber totgelacht, dass ›Walk On The Wild Side‹ an den Zensurbehörden vorbeigerutscht und direkt in die oberen Charts-Ränge geklettert ist?
Nein, denn die ganze Zensurnummer nervt mich. Die Situation ist einfach untragbar. Denn mal ehrlich: Bücher wie „Naked Lunch“ oder die Werke von Allen Ginsberg sind problemlos erhältlich. Und von Filmen wollen wir gar nicht erst reden. Warum zum Teufel sollte sich also jemand um den Text von ›Walk On The Wild Side‹ scheren?
Ist der Song für dich eine Art Klotz am Bein?
Nein. Denn wenn es ihn nicht gäbe, würde ich heute vielleicht irgendwo Gräben ausheben oder sonstwas machen. Also bin ich froh und glücklich darüber, dass ›Walk On The Wild Side‹ ein Hit geworden ist.
Der TRANSFORMER-Nachfolger, das 1973er-Album BERLIN, ist ein unglaublich aufrüttelndes Werk, das vor Ideenreichtum nur so strotzt. Zugleich jedoch besitzt es eine extrem düstere Seite. Woher rührt diese Finsternis?
Ich habe keine Ahnung. Es hat sich einfach in der Zusammenarbeit mit Produzent Bob Ezrin so ergeben. Wir hatten die Idee, dass bei den Leuten eine Art „Film“ im Kopf ablaufen sollte. Wir stellten uns vor, dass sie beim Hören an einen Ingmar Bergman- oder Akira Kurosawa-Film denken sollten. Die alte Geschichte eben: Junge trifft Mädchen, Junge erobert Mädchen, Junge verliert Mädchen, Ende. Gut, dass sich das Mädchen die Pulsadern aufschneidet, ist normalerweise nicht Teil der Story, zugegeben… Aber genau das macht die Sache ja so spannend.
In wenigen Tagen erscheint dein neues Album LULU – du hast dich ausgerechnet mit den Riff-Ikonen Metallica zusammengetan. Eine interessante und durchaus unerwartete Kollaboration. Wie kam dieses Projekt eigentlich zu Stande?
Ich bin immer noch hin und weg von der Arbeit mit den Vier. Die Stücke sind einfach perfekt, wirklich. Angefangen hat alles mit einer Idee, die ich schon länger verfolgt habe. Seit einiger Zeit war ich damit beschäftigt, mit dem Berliner Ensemble sowie dem Choreographen und Regisseur Robert Wilson zwei über 100 Jahre alte Texte von Frank Wedekind (deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Schauspieler, 1864-1918, Anm.d.Red.) neu zu interpretieren, nämlich „Erdgeist“ und die Fortsetzung „Die Büchse der Pandora“, aus dem später das Bühnenstück „Lulu“ entstanden ist. Im Zentrum der Geschichte steht Lulu, eine Femme fatale, wie sie im Buche steht. Sie war sehr freizügig, was die damalige Bourgeoisie als schockierend empfand – die Leute stempelten sie daher als unmoralisch ab. Eine Story, die ganz nach meinem Geschmack ist. Als ich die Vorlage in die Hände bekam, machte ich mich mit meiner Partnerin Laurie Anderson sofort daran, das Konzept an die heutige Zeit anzupassen.
Und wann und wo kamen dabei Metallica ins Spiel?
Wir sind ja 2009 gemeinsam aufgetreten, um zwar im Rahmen der Festivitäten zum 25. Jubiläum der „Rock’n’Roll Hall of Fame“ im Madison Square Garden. Seither kennen wir uns und sind in Kontakt geblieben. Es kam immer mal wieder die Idee auf, zusammen ein Album aufzunehmen. Als ich mich dann daransetzte, Musik für das Stück zu komponieren, ergab sich endlich die Gelegenheit, das Vorhaben in die Tat umzusetzen. Die Songs von LULU sind schlichtweg Ehrfurcht gebietend. Ich würde nicht einmal eine einzige Note auf der Platte ändern. Das Album ist nicht nur eine musikalische Untermalung – also das, als was sie ursprünglich gedacht war –, sondern viel, viel mehr. Das hätte ich mir wahrlich nicht träumen lassen. Metallica haben es geschafft, mich so zu inspirieren, dass ich über meine Grenzen hinausgehen konnte. Sie sind ein echtes Power-Team – eine unglaubliche Einheit.