Zeitlose Introspektion
So desaströs die Pandemie für das Live-Geschäft auch sein mag, beschert sie uns doch immerhin zunehmend Hörmaterial, das ohne die Zwangspause vielleicht nicht entstanden wäre. Justin Sullivan beschloss wie so viele andere auch, die freie Zeit mit neuer Kreativität zu füllen, und spielte sein erstes Solowerk seit 18 Jahren ein. Oberflächlich angehört, könnte man es leicht als Vertonung der nachdenklich stimmenden Erstarrung missverstehen, denn vom energischrechtschaffenen Drang seiner Stammband New Model Army ist hier nichts zu spüren. Auf satten 16 Songs erzählt er stattdessen in äußerst gemächlichem Tempo Geschichten, die nicht vom erdrückenden Heute inspiriert sind, sondern uns in andere Zeiten, andere Realitäten oder einfach seinen Kopf entführen. Das verlangt nach ein bisschen Geduld und dem Willen, wirklich einzutauchen in diese mal stillen, intimen, mal kraftvollen, elegischen Klanggemälde, und stellenweise mag man denken, etwas weniger wäre mehr gewesen. Die Highlights jedoch (›Akistan‹, ›Unforgiven‹, ›1975‹) gehen so unter die Haut, dass solche Betrachtungen schnell vergessen sind. Ein Werk von dunkler, aber intensiv strahlender Klasse und Reife.
8 von 10 Punkten
Justin Sullivan, SURROUNDED, EARMUSIC/EDEL