Ausgegrabenes Archivmaterial, zu Tage gefördert aus den Tälern des Neptun.
Praktisch kein Jahr vergeht, in dem nicht in Archiven schlummernde Aufnahmen des 1970 verstorbenen Über-Gitarristen auf den Markt kommen. Skepsis ist stets angebracht bei Ausgrabungen, die bisweilen nur dazu dienen, das Bankkonto der Hendrix-Erben zu füllen. Jüngst zutage gefördert wurde ein Dutzend zwischen Februar und Mai 1969 in den Londoner Olympic Studios und im New Yorker Record Plant eingespielte Songs: Angeblich sind es die „Missing Links“ zwischen dem Meilenstein ELECTRIC LADYLAND der Jimi Hendrix Experience, den ohne Studioproduktionen gebliebenen Zwischen-stationen Gypsy Sun & Rainbows und Band Of Gypsies sowie der abermals Experience benannten Nachfolgeformation mit dem unvollendet gebliebenen FIRST RAYS OF THE NEW RISING SUN.
Neu abgemischt von Hendrix’ lang-jährigem Toningenieur Eddie Kramer und mit kenntnisreichen Liner Notes von John McDermott versehen, entpuppen sich die zwölf „neuen“ Songs der Jimi Hendrix Experience – mal mit Noel Redding, mal mit Billy Cox am Bass –nicht unbedingt als die versprochenen Sensationsfunde, sind aber zumindest in hervorragendem Artwork verpackt. In diversen Versionen hinlänglich bekannt sind ›Stone Free‹, ›Red House‹, ›Fire‹, ›Hear My Train A-Comin’‹ und das Cream-Cover ›Sunshine Of Your Love‹. Elmore James’ ›Bleeding Heart‹ tauchte in anderem Arrangement bereits auf WOODSTOCK 2 und BLUES auf. ›Lover Man‹ ist eine Adaption von ›Rock Me Baby‹, ›Mr. Bad Luck‹ der Prototyp von ›Look Over Yonder‹ und ›Ships Passing Through The Night‹ basiert auf einem Robert-Ward-Riff. Von ›All Along The Watchtower‹, ›51st Anniversary‹ und ›Drifting‹ gleichermaßen inspiriert scheint der Titelsong. Mehr Jam-Session als fertiges Konzept sind ›Crying Blue Rain‹ und das Instrumental ›Lullaby For The Summer‹, das später von Hendrix zu ›Ezy Ryder‹ umgearbeitet wurde.
Es bleibt also mehr als zweifelhaft, ob Jimi Hendrix tatsächlich ein Album namens VALLEYS OF NEPTUNE in genau dieser Konstellation befürwortet und freigegeben hätte. Aber immerhin sorgt der Wechsel der Erbengemeinschaft von Universal zu Sony Music auch noch für exquisite Neuauflagen der legendären Originalalben ARE YOU EXPERIENCED?, AXIS: BOLD AS LOVE, ELECTRIC LADYLAND sowie des posthum veröffentlichten, ebenfalls nicht ganz unumstrittenen FIRST RAYS OF THE NEW RISING SUN.
Michael Köhler