Einmalige Gemeinschaft
Auch Guns N’ Roses formieren sich nach Adlers Abgang neu. Sie arbeiten endlich mit voller Kraft an den neuen Stücken. An Ideen für die zweite Platte mangelt es ohnehin nicht. Obwohl keiner in der Band oft nüchtern ist, sind alle überaus kreativ. Zudem gibt es etliche Stücke, die bereits in ihrer Rohform existieren und lediglich weiter ausgearbeitet werden müssen. ›November Rain‹, Herzstück von USE YOUR ILLUSION, ist einer davon. Axl, der den Song bereits vor seinem Einstieg bei Guns N’ Roses, komponiert und grob arrangiert hat, setzt sich voll für das Lied ein – gegen den anfänglichen Widerstand von Slash und Duff McKagan, denen sinfonische Balladen suspekt sind. ›Don’t Cry‹ hingegen ist laut Axl Rose „das erste Stück, das die Band gemeinsam komponiert hat“. Es handelt von Izzy Stradlins damaliger Freundin, auf die der Sänger ebenfalls ein Auge geworfen hat. „Ich fand sie wirklich heiß. Izzy und sie trennten sich schließlich, sodass ich dachte, meine Chance wäre gekommen. Doch daraus wurde nichts, was auch gut ist. Jedenfalls setzten Izzy und ich uns dann zusammen und schrieben das Lied. Wir brauchten gerade mal fünf Minuten dafür.“
Zudem ist laut Alan Niven von Material von APPETITE FOR DESTRUCTION übrig, aus dem sich schließlich ›You Could Be Mine‹, ›Back Off Bitch‹, ›Bad Obsession‹ und ›The Garden‹ entwickeln. Obwohl die Band, anders als viele Acts, über mehrere Songwriter verfügt, die zudem alle produktiv sind, gibt es nur selten gemeinschaftliche Jam- und Songwriting-Sessions. Slash erinnert sich nur an eine einzige: „Nach dem ganzen Auf und Ab und Hin und Her mit Steven trafen wir uns in meinem Haus im Walnut Drive. Wir schafften es, an einem einzigen Abend über 30 Songs aus unserem Ideen-Pool auszuwählen und zu arrangieren. Es war unglaublich.
In dieser Nacht agierten Izzy, Duff, Axl und ich als Einheit, als Guns N’ Roses. Danach ist uns das nie wieder in dieser Form gelungen, es gab keine weiteren Songwriting-Sessions, bei denen wirklich alle anwesend waren. Stattdessen begannen wir mit der Drummer-Suche. Wir kamen schließlich auf Matt, weil ich mich daran erinnerte, ihn mal mit The Cult live gesehen zu haben. Also rief ich ihn an und bat ihn, mal zu einem Jam vorbeizukommen. Und schwupps, schon kurz darauf waren wir gemeinsam im Studio. Die Basis der Tracks einzustudieren, dauerte gar nicht mal so lange. Wir konnten relativ schnell mit der Aufnahmearbeit beginnen. Doch wir hatten so viel Material, dass sich die Recordings ewig hinzogen. Mir kam es jedenfalls vor wie eine Ewigkeit…“
Zudem sind etliche Stücke überlang, Slashs ›Coma‹ beispielsweise, das sich über 18 Minuten erstreckt und in „völligem Delirium“ entstanden ist. Duff steuert ›So Fine‹ bei, während Izzy mit coolen Rockern wie ›Pretty Tied Up‹, ›Double Talkin’ Jive‹, ›You Ain’t The First‹, ›14 Years‹ und ›Dust N’ Bones‹ punkten kann. Axl hat ebenfalls einige Stücke im Repertoire, einige davon stammen aus einer Zeit, in der er mit West Arkeen (der 1997 an einer Überdosis stirbt, Anm.d.Red.) kollaboriert hat. ›The Garden‹, ›Bad Obsession‹ und ›Yesterdays‹ sowie das APPETITE-Stück ›It’s So Easy‹ stammen aus dieser Phase. Auch der Rose-Kumpel Del James erhält Credits, und zwar für seine Songwriting-Beteiligung an den Stücken ›Yesterdays‹ und ›The Garden‹.
Harte Verhandlungen
Während die Band an den Feinheiten feilt und sich parallel die Drogen reinschaufelt, bekommt Manager Alan Niven ordentlich Druck. Da vom Debüt APPETITE FOR DESTRUCTION inzwischen mehrere Millionen Exemplare verkauft worden sind, ist die Nachfrage nach mehr Guns N’ Roses-Stoff entsprechend riesig. Jeder will neue Stücke hören – doch die lassen weiter auf sich warten. Da sich das Musikgeschäft nicht von anderen Branchen unterscheidet – Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis –, gehen fast täglich Anrufe von den Mitarbeitern der Plattenfirma Geffen bei Niven ein. Selbst der Label-Boss David Geffen höchstpersönlich ist des Öfteren in der Leitung. „Wann bekomme ich endlich das verdammte Album?“, diese Frage hört der Band-Vertreter mehrfach. „Der Grund für seine Penetranz lag jedoch auf der Hand. Er wollte die Company verkaufen, doch zuvor sollte noch die Scheibe veröffentlicht werden, um den Preis nach oben zu treiben“, so Niven.
Der Manager, dem klar ist, dass es hier um mehrere hundert Millionen US-Dollar Umsatz geht, versucht derweil, ein Stück vom Kuchen abzustauben. Er will den Vertrag zwischen Band und Label neu verhandeln. Obwohl Whitesnake und auch Aerosmith zuvor Ähnliches versucht haben und abgeblitzt sind, bleibt Niven hartnäckig. Er hat schließlich einen Trumpf in der Hand: USE YOUR ILLUSION ist noch nicht fertig – und wird es auch nicht werden, wenn er nicht sein Okay gibt. Bei einem Abendessen mit Geffen-Geschäftsführer und Mit-Begründer Eddie Rosenblatt spielt er die Karte aus. „Ich wartete ab, bis er einige Gläser Wein intus hatte und sagte dann zu ihm: Eddie, ich will ja wirklich nicht den Abend ruinieren. Aber bitte richte David doch aus, dass es kein Album geben wird, so lange der Kontrakt nicht neu verhandelt worden ist…‘“
Niven bekommt seinen Willen. Und er zeigt sich erkenntlich: Da Guns N’ Roses mehr Stücke komponiert haben, als auf ein Album passen, beschließt er, zwei Scheiben zu veröffentlichen. Und zwar, wie sonst in diesen Fällen üblich, als finanziell wenig lukrative Doppel-CD, sondern als zwei getrennte Releases, die jedoch am selben Tag auf den Markt kommen sollten. Ein Scoop, denn auf der einen Seite kann sich die Band vor den Fans von ihrer generösen Seite zeigen – immerhin bietet sie ihn tonnenweise frisches Material –, auf der anderen Seite haben alle beteiligten Vertragsparteien etwas davon, denn die Einnahmen verdoppeln sich. Doch trotz des Selbstbewusstseins, das Niven nach außen hin an den Tag legt, ist er überaus nervös. Die APPETITE FOR DESTRUCTION-Verkäufe haben sich zu diesem Zeitpunkt auf zwölf Millionen Exemplare hochgeschraubt, eine unglaubliche Zahl für ein Debüt.
Der Manager soll nun bei einem Meeting mit den Label-Verantwortlichen einschätzen, wie sich USE YOUR ILLUSION schlagen könnte. Und zwar schriftlich. „Eddie Rosenblatt schob mir einen Stift und ein Stück Papier zu. Ich sollte aufschreiben, wie viele Exemplare wir meine Ansicht nach absetzen würde. Ich zögerte ein wenig und notierte schließlich: ‚Vier Millionen von jeder der beiden Scheiben‘. Die Entscheidung traf ich aus dem Bauch heraus. Es fühlte sich irgendwie richtig an, denn ich dachte, dass acht Millionen verkaufte Platten im Vergleich zu zwölf von APPETITE FOR DESTRUCTION zwar nicht megagut wären, aber doch immer noch ordentlich Holz.“
Doch Niven und die Band schaffen es durch die getrennte Veröffentlichung der beiden Werke nicht nur, mehr Geld zu verdienen – sie kreiern auch einen Hype. Guns N’ Roses, ohnehin eine überaus originelle, eigenständige Gruppe, schwingt sich nun noch höher hinauf in die Riege der Innovatoren. Die Veröffentlichung ist nicht nur ein bloßes In-die-Läden-Stellen, sondern ein Event. Hinzu kommt, dass sich auch die Optik der Band ändert. Die Totenköpfe, Knochen, Pistolen und Kruzifixe, die in den Achtzigern noch en vogue gewesen sein mögen, wirken in den Neunzigern deplatziert.
Und so setzen Guns N’ Roses auf etwas anderes: moderne Kunst. Axl Rose begeistert sich für die Arbeiten von Mark Kostabi, einem New Yorker, der Andy Warhols Konzeot der „Kunst-Fabrik“ auf eine neue Ebene gehoben hat. Gerade ist sein „Kostabi World“-Studio eröffnet worden, für das ein Team von mehreren „Assistenten“ Tausende von Bildern gemalt hat. „Axl liebte Kostabis Ansatz und auch die Gemälde“, berichtet Alan Niven. „Dabei tat der Typ nichts anderes, als die Ideen und die Arbeitskraft anderer Leute zu stehlen bzw. auszubeuten. Seine Mitarbeiter mussten die Hintergründe der Werke herstellen, und der Meister selbst erstellte dann die zentralen Motive. Doch selbst dabei agierte er nicht wie ein echter Künstler. Er nahm einfach Elemente klassischer Gemälde und passte sie seinen Zwecken an. Nun ja… Axl war jedenfalls nicht davon abzubringen, zwei dieser Bilder zu kaufen, um sie als Albumcover für USE YOU ILLUSION zu verwenden. Er hat ein Vermögen für die Dinger ausgegeben.“
Die Werke basieren auf Motiven aus Raffaels „Die Schule von Athen“, einem Renaissance-Meisterwerk, das im Jahr 1511 fertig gestellt worden ist und heute in den Vatikanischen Museen hängt. Als Niven davon erfährt, ist er begeistert – und zwar nicht etwa aufgrund seiner Kunstbegeisterung. „Ich dachte mir: ‚Alan, das ist hervorragend! Die Bilder sind uralt, das bedeutet, dass es kein Copyright gibt!‘“ Der Manager kann also Merchandise mit den Motiven herstellen lassen, ohne auch nur einen Cent an Kostabi oder einen irgendeinen Nachlassverwalter abdrücken zu müssen. „Axl hätte exakt dasselbe tun können. Anstatt Kostabi die Kohle in den Rachen zu werfen, wäre es viel sinnvoller gewesen, einfach jemanden wie Del James zu fragen, ob er das Ganze nicht einfach kopieren könnte – für einen Gratis-Sixpack Bier.“