Die Einflüsse von Jones und Lennon auf IN ANOTHER WORLD bezeugen die lebenslange Anglophilie von Cheap Trick. Sie mögen aus dem Norden von Illinois kommen, eine Niete im sogenannten Rostgürtel von Amerika, doch ihr Geist wurde von der Musik geformt, die in den 60ern und frühen 70ern aus dem Vereinigten Königreich kam. Zander sieht ihren Sound als eine natürliche Reaktion auf die Musik der Beatles, Stones, Kinks, Animals und von The Who. „Es war diese zweite Blueswelle, die mich anmachte“, erinnert er sich. „Das war dynamischer, lauter und aufregender als die Art von Blues, die wir hier hatten. Ich war stark beeinflusst von der British Invasion und liebte das Gitarrenspiel von den Yardbirds oder den frühen Fleetwood Mac. Da gab es wirklich außergewöhnliche Sachen. Sie gaben mir dieses Gefühl: ‚Das ist es, was ich tun will‘.“
Neils Besessenheit war genauso groß, vielleicht sogar größer. Er wollte unbedingt auf dem Laufenden darüber bleiben über das, was auf der anderen Seite des Großen Teichs in Großbritannien angesagt war, also schloss er ein Auslandsabo für das wöchentliche Musikmagazin Melody Maker ab, das er in Rockford, Illinois, erhielt. „Ich glaube, es kostete ungefähr 125 Dollar pro Jahr, das per Luftpost zu bekommen“, erinnert er sich. „In den 60ern war das sehr teuer, aber so bekam ich mein Exemplar sechs Wochen früher. Ich wollte die Neuigkeiten so aktuell wie möglich wissen.“
Begeistert von dem, was er da las, besuchte Nielsen 1968 erstmals London, gemeinsam mit dem späteren Cheap-Trick-Bassisten Tom Petersson. Der Gitarrist denkt immer noch mit großer Freude an seine Zeit dort zurück: „Wir stiegen aus dem Flugzeug und wohnten im Stadtteil Bayswater, im Inverness Court Hotel, wo man für Strom Münzen in einen Automaten stecken musste. Als wir hereinkamen, lief gerade ›Sabre Dance‹ von Love Sculpture. Ich weiß noch, wie ich mir ein gebrauchtes Mellotron von Cliff Cooper bei Orange Music kaufte, und den allerersten Orange-Verstärker, den ich bis heute habe. Später in jener Woche ging ich ins Marquee und sah Love Sculpture mit Dave Edmunds, dann kaufte ich vier Sound-City-[Verstärker / Lautsprecher]-Türme, denn das war es, was er benutzte. Es war alles so aufregend“.
Er und Petersson spielten damals zusammen bei Fuse, nachdem sie zuvor Mitglieder der Grim Reapers gewesen waren. Letztere gingen – angesichts ihres Namens in einem Akt tragischer Symmetrie – in die Annalen ein, weil sie an jenem Abend als Vorgruppe für Otis Redding und die Bar-Kays gebucht waren, als Redding und vier Mitglieder jener Band bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen. „Ich musste auf die Bühne gehen und dem Publikum mitteilen, dass sie im Lake Monona abgestürzt waren und nicht auftreten würden“, so Nielsen über den tödlichen Unfall in der Nähe von Madison, Wisconsin, im Dezember 1967. „Ich sagte, die Show würde nicht for tgesetzt werden, obwohl die Band, in der ich war, dennoch spielen musste. Das war so, weil unser Manager wie der ehemalige Manager von Ozzy Osbourne war, Don Arden. Wir taten das, was uns befohlen wurde.“
Zanders Weg zu Trick führte ebenfalls über eine Reise nach Großbritannien: „Ich war etwa ein Jahr lang in einer Band mit dem ersten Sänger von Cheap Trick, Randy Hogan. Dann zog ich nach Wisconsin und trat etwa ein Jahr lang dort auf. Mit 18 zog ich dann für ein Jahr nach Schottland, weil ich dachte, dass ich dort einen Plattenvertrag an Land ziehen könnte. Also fuhr ich mit dem Zug nach London, besuchte Pye Records und spielte ihnen ein paar Songs vor. Sie sagten mir im Wesentlichen, nach Hause zu fahren und zu üben. Und das tat ich dann auch. Als ich zurückkam, stieg ich bei Cheap Trick ein“.
Während seiner Zeit in Großbritannien konnte Zander nicht nur die Musik aufsaugen, die er liebte, er kam auch in Kontakt mit den Menschen, die sie machten: „Ich ging zu Alex Harveys Geburtstagsfeier in London, die zu einem Saufgelage ausartete. Aber ich liebte seine Art, zu singen, all diese sehr theatralischen Sachen. Ich denke, Bon Scott war auch sehr von Alex beeinflusst“. Auch diese prägende Erfahrung schlägt sich auf IN ANOTHER WORLD nieder. Einer der wehmütigsten Momente auf dem Album ist das melancholische ›So It Goes‹, bei dem Zander zu gezupfter akustischer Gitarre in einer sanften Atmosphäre singt. Der Song geht zurück auf seine Zeit als kämpfender Möchtegern. „›So It Goes‹ wurde vor langer Zeit geschrieben, wahrscheinlich, als ich in Schottland lebte“, sagt er. „Pye Records lehnte es ab. Es brauchte noch Feinschliff an Melodie und Text. Das war also einer dieser Songs, die ich wieder ausgrub und beschloss, für diese Platte fertigzustellen. Manchmal läuft das so. Ich gehe mein altes Material durch und denke: ‚Das ist eigentlich ziemlich cool‘.“
In vielerlei Hinsicht fahren Cheap Trick auf IN ANOTHER WORLD also auf jener Achterbahn, auf die Zander anfangs anspielte. Sie genossen Ende der 70er den steilen Aufstieg mit ihren Meilensteinen IN COLOR, HEAVEN TONIGHT, DREAM POLICE und ihrem Höhepunkt, dem Multiplatinseller AT BUDOKAN von 1979, standen die kommerzielle Durststrecke der folgenden Dekade durch und erlebten dann mit ihrem Comeback LAP OF LUXURY von 1988 ihren zweiten Frühling. Und trotz aller Widrigkeiten in den 90ern und frühen 00ern befindet sich die Band heute fraglos wieder auf dem aufsteigenden Ast.
Entscheidend ist dabei, dass sich Cheap Trick über all die Jahre immer treu geblieben sind. Man muss nur lange genug weitermachen, bis man irgendwann zu einem festen Bestandteil der Kultur wird. 2016 kamen sie in die Rock And Roll Hall Of Fame, letztes Jahr wurde AT BUDOKAN als „kulturell, historisch oder ästhetisch bedeutend“ in die Sammlung der US Library Of Congress aufgenommen.
„Wir haben nie versucht, etwas zu sein, das wir nicht sind“, sagt Nielsen. „Für die Leute, die immer noch nicht wirklich wissen, wer wir sind, ist das eine Ar t Auszeichnung: ‚Ihr seid in einer Rockband? Schön. Ihr seid 72 und spielt in einer Rockband? Oh Mann! Was stimmt nicht mit euch?‘ Die Leute sagten früher, wenn du es in New York schaffst, kannst du es überall schaffen. Ich sage, wenn du es in Rockford, Illinois, schaffst, kannst du es überall schaffen. Ich hatte nie irgendwas davon geplant“, fährt er fort. „Wir haben einfach hart gearbeitet und sind zu dumm, um aufzuhören. Die Musik war immer unser Hobby und unsere Liebe. Eins der Dinge, die ich immer mit Stolz sage, ist: ‚Wir sind Cheap Trick. Wir sind im Wesentlichen nie besser geworden und haben uns nie weiterentwickelt. Aber zum Glück haben wir schon ziemlich gut angefangen‘.“