In Detroit fing alles an. In jener Stadt wurde Vincent Damon Furnier geboren, in jener Stadt sollte er 1971 endlich mit seiner Band durchstarten. 50 Jahre später lässt Alice Cooper mit DETROIT STORIES den Geist dieser Hardrock-Metropole wiederaufleben.
Als Alice Cooper 1970 nach zwei wenig erfolgreichen Alben, die sie über Frank Zappas Label Straight Records veröffentlicht hatten, nach Detroit kamen, lenkte das Schicksal die Band mit geschickten Zügen in die Arme eines aufstrebenden Musikproduzenten namens Bob Ezrin, um schließlich kurz darauf mit LOVE IT TO DEATH erstmals kommerziellen Erfolg einzufahren. 50 Jahre später bereichert Alice Cooper die Menschheit nach wie vor mit seiner ins kollektive Gedächtnis der Rockwelt eingebrannten Vaudeville-Show, bei der das Kunstblut spritzt und Fans an Abenden ohne Enthauptung empört das Geld für ihre Tickets zurückverlangen würden. Doch nicht nur theatralisch gesehen hat Cooper keinen Funken an Irrsinn und Kreativität eingebüßt, auch musikalisch betrachtet, liefern er und Bob Ezrin nach wie vor relevante Werke ab.
Zuletzt bewiesen sie 2017 mit dem wohlig schaurigen PARANORMAL, dass aus ihren Hirnen noch ambitionierte Ideen fließen, die mehr wollen als einen verstaubten Platz im Plattenregal vollständigkeitsverliebter Die-Hard-Sammler. Und vier Jahre später bringen sie nun das meisterlich zu Ende, was sie 2019 mit der THE BREADCRUMBS EP angefangen haben: Auf 15 Songs widmen sie sich der Stadt Detroit, Cooper zufolge früher das Zentrum für Hardrock schlechthin. Das Album, das mit grandiosen Musikern aus der Szene wie Wayne Kramer von MC5 eingespielt wurde und neben eigenen Songs ein paar Cover enthält, klingt erstaunlich frisch, fast schon jugendlich. Es strotzt vor Energie, strahlt so etwas wie eine gewisse Dringlichkeit aus und lässt einen einmal mehr verwundert den Kopf schütteln ob des scheinbar nie versiegenden Quells an Kokolores im Kopf des Alice Cooper. Um über die Geschichte der Platte zu erzählen, lud der Meister des Schockrocks höchstpersönlich – noch zur Geisterstunde, um 00:30 Uhr – zum Telefonat.
Warum hast du dich dazu entschlossen, der Stadt Detroit nach all diesen Jahren mit einem Longplayer Tribut zu zollen?
Zu allererst wurde ich natürlich dort geboren. Und außerdem ist es das Zuhause des Hardrock. Los Angeles hatte die Doors, San Francisco Grateful Dead und New York war sehr sophisticated. Detroit hingegen liegt in der Mitte des Landes, eine industriell geprägte Gegend. All die Künstler damals – Alice, Iggy, MC5, Ted Nugent, Bob Seger – waren purer, sehr gitarrenlastiger Hardrock. Und ich dachte mir, wenn wir schon ein echt hartes Album aufnehmen würden, dann sollten wir das in Detroit tun. Wir schrieben die Songs dort, wir nahmen die Songs dort auf. Und all die Musiker stammen aus Detroit.
1970 hast du erstmals mit Bob Ezrin in Detroit zusammengearbeitet. Seitdem sind 50 Jahre vergangen. Warum entstehen die DETROIT STORIES erst jetzt?
Das war, ehrlich gesagt, eher eine spontane Eingebung. Bob und ich arbeiten immer gerne mit Konzepten. Wir hatten vor, zwölf Hardrock-Songs zu schreiben, als wir uns plötzlich dachten: Warte mal eine Sekunde, wo kommt der Hardrock denn her? Aus Detroit! Warum also nicht alles in dieser und über diese Stadt machen? Über Charaktere und Typen schreiben, die mir dort begegnet sind, mit Musikern von dort kollaborieren, die ich seit den 70ern gut kenne? Johnny Bee von Mytch Rider & The Detroit Wheels und natürlich Wayne Kramer, der heute besser spielt als je zuvor! Mark Farner von Grand Funk Railroad ist mit an Bord. Alles ausgezeichnete Leute!
Hardrock und Detroit gehören also zusammen. Ist dieses Heavy-Element für dich der Kernaspekt der damaligen lokalen Szene?
Absolut. Als wir in den 70ern dorthin zurückzogen, spielten an einem normalen Wochenende Iggy & The Stooges, Alice Cooper und The Who im Grande Ballroom. (lacht) Das war ein ganz normales Line-up zu jener Zeit. Detroit war damals ein wirklich heißer, verschwitzter, wichtiger „place to be“ für den Rock’n’Roll. Das Gegenteil von kultiviert. Diese Zeit ist mir besonders im Gedächtnis geblieben, weil die Shows so viel Spaß gemacht haben. Wir fühlten uns zuhause.
Formt da eher die Musik die Stadt oder die Stadt die Musik?
Ich denke, es ist sehr ungewöhnlich, dass in Detroit zwei grundverschiedene Genres so groß waren. Es gab Motown, das Mutterschiff des Soul, sowie Rhythm’n’Blues auf der einen und uns mit unserem Heavy Rock auf der anderen Seite. Wenn wir live spielten und ich ins Publikum schaute, stand da ein Smokey Robinson oder Stevie Wonder, weil sie die Rockshows echt mochten. Und am nächsten Tag hingen wir bei ihren Konzerten ab. Da gab es kein Schwarz-Weiß-Denken, es ging nur um die Musik.
Du sagst von dir selbst, nicht in der Vergangenheit zu leben. Aber haben diese Rückschau und das Thema nicht ein bisschen Nostalgie ausgelöst?
Das ist zwiegespalten. Wir haben in Royal Oak aufgenommen, einem Vorort von Detroit, wo alle meine Tanten und Onkel wohnten und noch wohnen. (lacht) Also war da schon ein bisschen Nostalgie involviert. Andererseits muss man sagen, dass diese Gefühle bei meinen Mitmusikern wohl stärker aufkamen … Ansonsten behandelten wir diese Platte als brandneuen Gegenstand. Wir wollten nicht rückwärts gehen, sondern lediglich den Vibe dieser Stadt einfangen.
Auch textlich ist dieses Album stark. Besonders witzig finde ich Songs wie ›Independence Dave‹ oder ›I Hate You‹. Wie kommst du denn auf sowas?
Letzterer entstand zusammen mit der ursprünglichen Alice-Cooper-Band, genauso wie ›Social Debris‹. Viele Bands hassen sich wirklich, wenn sie sich auflösen. Da gibt es Schlammschlachten und Gerichtsverfahren und weiß der Geier was. Bei uns war das nie der Fall. Als wir uns auflösten, haben wir uns nicht scheiden lassen, sondern sind einfach getrennte Wege gegangen. Über all die Jahre hinweg haben wir stets Kontakt gehalten und immer mal wieder miteinander gearbeitet. Wir waren niemals Feinde. Aber als wir für dieses Album zusammen arbeiteten, haben wir uns irgendwann darauf geeinigt, einen Song namens ›I Hate You‹ aufzunehmen und jeder sollte einen Vers über den anderen schreiben. Wir nehmen uns alle gegenseitig auf die Schippe, doch am Ende geht es eigentlich darum, dass wir sauer sind, weil [unser Leadgitarrist] Glen [Buxton] uns verlassen musste und diese Leerstelle auf der Bühne hinterließ. Weißt du, er war unser Keith Richards. Als er starb, klang die Band einfach nie mehr so wie zuvor. Im Endeffekt hassen wir uns in dem Song so sehr, dass wir damit zeigen, wie sehr wir uns mögen.