Nach 23 Jahren Pause erscheint in diesen Tagen endlich ein neues Soloalbum von Stones-Gitarrist Keith Richards. Es heißt „CROSSEYED HEART“ und ist von großer Spielfreude und Vitalität geprägt. Wir trafen den 71-Jährigen exklusiv in New York und sprachen mit ihm über seine Arbeitsweise, die Familie und die nächsten Pläne der Rolling Stones.
Keith, wie geht es dir aktuell?
Im Großen und Ganzen wunderbar. Wie immer ist gerade eine Menge los: Vor einigen Wochen, wir waren noch mit den Stones auf der Straße, fiel mir plötzlich wieder ein, dass eine Plattenveröffentlichung ansteht. Also geht es gleich weiter, diese kurze Phase jetzt ist das einzige Zeitfenster, in dem ich mich diesen Dingen widmen kann.
Gab es trotzdem einige freie Tage nach der langen Stones-Tour?
Nicht besonders viele, um ehrlich zu sein. Aber das bin ich seit Ewigkeiten so gewohnt. (lacht)
Wie gut vorbereitet bist du heutzutage, bevor es ins Studio geht?
So unvorbereitet wie irgend möglich. Im Allgemeinen habe ich nicht einen einzigen kompletten Song fertig, wenn es losgeht. Steve (Jordan, Keith-Richards-Produzent-, -Co-Songwriter und -Schlagzeuger, Red.) und ich arbeiten seit über 30 Jahren zusammen, wir verstehen uns blind. Also sage ich zu ihm: „Steve, ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich machen soll, gib mir einen Beat“, woraufhin er sagt, ich solle erst mal ein Riff vorlegen. (lacht) Und so geht es dann irgendwie los. Ich liebe diese Art der Kooperation! Wir bauen die Sachen wirklich aus dem Nichts gemeinsam auf. Es kommt natürlich immer darauf an, was man will: Mozart, Beethoven oder Bach waren fantastische Typen, kein schlechtes Wort über sie. Aber deren Musik könnte man wohl kaum auf die Weise produzieren, wie Steve und ich arbeiten. Die Freiheit des Rock’n’Roll liegt darin, dass man ein paar Leute in einen Raum packt und guckt, was passiert.
Auch wenn dabei bisweilen nur halbe Songs herauskommen? Das Titelstück des Albums, ein leiernder Blues, schließt du nach zwei Strophen ab mit den Worten: „That’s all I’ve got.“
Nun, wir wollten die Nummer eben zwanglos angehen. Man muss grundsätzlich aufpassen, dass man die Dinge nicht unnötig verkompliziert. Darin liegt die Essenz des Rock’n’Roll – oder eigentlich jeder guten Musik: ohne Humor, Hingabe und Leidenschaft kann man es gleich bleiben lassen. Die Dynamik zwischen den beteiligten Musikern muss spürbar sein. Sonst kommt diese leblose Musik dabei heraus, wie sie heute immer häufiger produziert wird: „Okay, ihr habt alle schön eure Noten korrekt gespielt und keinen Fehler gemacht, brave Jungs! Unfortunately it sounds like Scheiße.“ (lacht)
Unter Umständen ist die ungebrochene Spielfreude ja die Antwort auf die immer wieder gestellte Frage, wie es möglich ist, dass du nach deiner Geschichte überhaupt noch lebst.
Die Musik ist mein Lebenselixier, ganz klar, it’s my food. Davon abgesehen kann ich die Verwunderung einiger Leute über die Tatsache, dass ich noch am Leben bin, durchaus verstehen. Ich höre das seit über 40 Jahren: „Keith begeht Selbstmord auf Raten, er wird noch tot umfallen.“ Was diese Leute nicht wissen können, ist die Tatsache, dass ich mir meiner Grenzen durchaus bewusst bin. Ich respektiere sie und habe sie nur selten überschritten. Es mag natürlich sein, dass meine Grenzen etwas weiter gesteckt sind als bei vielen anderen. Aber vertraut mir ruhig. Ich weiß genau, was ich tue.
Die Aufnahmen für CROSSEYED HEART liegen bereits eine Weile zurück, wann genau hast du das Album fertig gestellt?
Das meiste haben wir 2012 gemacht. Ich hatte damals gerade die Arbeit an meinem Buch [der Biografie „Life“] abgeschlossen, als mir klar wurde, wie lange ich nicht mehr im Studio gewesen war. Ich vermisste die Arbeit an neuen Songs, die Stones arbeiteten damals nicht, also rief ich Steve an.
Es gab also tatsächlich überhaupt keine konkrete Idee, sondern lediglich den Wunsch, überhaupt an neuer Musik zu arbeiten?
Natürlich machten wir uns Gedanken über die grundsätzliche Richtung. Bevor wir loslegten, wollte Steve von mir wissen, wie ich seinerzeit ›Street Fighting Man‹ und ›Jumpin’ Jack Flash‹ aufgenommen hatte. Die Antwort war leicht: Charlie Watts saß am Schlagzeug. Hinzu kam in diesen beiden Fällen ein kleiner Kassettenrecorder, mit dem ich die Gitarren aufnahm, und den ich bewusst übersteuerte. So gelang es, das akustische Signal gewissermaßen zu elektrifizieren, was wiederum nötig war, weil man die Texturen, die diesen Songs zugrunde lagen, mit der E-Gitarre nicht hätte abdecken können. Wie auch immer: Im Wesentlichen lag die Basis dieser Songs im Zusammenspiel aus Schlagzeug und Gitarre, und genau das war auch meine Antwort an Steve. Woraufhin er meinte: „Nun ja, ich bin Schlagzeuger, du spielst Gitarre, also lass es uns genau so machen.“ (lacht) One, two, three, four, keine große Sache!
Der Gitarrist Waddy Wachtel und die anderen Beteiligten kamen erst später hinzu?
Das hat sich Stück für Stück entwickelt, übrigens überwiegend durch Zufälle. Wir hatten gerade fünf oder sechs Songs zusammen, als Steve eines Tages die Fifth Avenue hinunterlief und zufällig Aaron Neville traf. Nun ja: Am nächsten Tag stand Aaron auch schon mit einem Mikro in der Hand bei uns im Studio. Auf diese Weise sind mit der Zeit immer mehr Freunde aufgetaucht, die von der Sache Wind bekommen hatten.
Was eben so passiert, wenn man jeden kennt und mitten in Manhattan aufnimmt.
So ist es. Wir waren in den Germano Studios, die in technischer Hinsicht die Weiterführung der alten Hit Factory sind. Troy (Germano, Red.), der Typ, dem das Studio gehört, hat die Hit Factory zuletzt geleitet, weswegen wir ihn bis heute Mr. Hit Factory nennen. Er hat da ein paar wirklich tolle Maschinen rumstehen, ideale Bedingungen für Leute wie uns. Keine Probleme, schöne Räumlichkeiten. Jedenfalls tauchten all diese Leute auf, wer immer gerade in der Stadt war, kam gleich zu uns. Da war zum Beispiel dieser Gospelchor, der einen Raum weiter aufnahm. Wir arbeiteten gerade an dem Song ›Something For Nothing‹, für den wir zusätzliche Stimmen brauchten. Und plötzlich hörten wir aus dem Nichts diese cats from harlem. Steve grinste mich nur an und sagte: „You’ve got the right colour, man, you go in!“ Der Bastard. (lacht) Also ging ich rüber, und ehe wir uns versahen, stand der komplette Chor (Der renommierte Harlem Gospel Choir, Anm.d.Red.) bei uns im Studio und sang. So lief das die ganze Zeit, man wusste nie, was als nächstes passiert. Waddy Wachtel tauchte auf, Bernard Fowler, Pino Palladino, Norah Jones, Blondie Chaplin – alle möglichen Leute. Die Basis des Albums besteht aber aus Steve Jordan am Schlagzeug und mir an Gitarre, Bass und Klavier. Erst zum Schluss, als es um gewisse Nuancen ging, holten wir etwa den Pedal-Steel-Experten Larry Campbell dazu.
Sehr guter Mann!
Allerdings, ich liebe den Kerl. Jedenfalls entwickelte sich die Platte auf diese Weise zunehmend zu einer Gemeinschaftsarbeit.
Nicht zuletzt dokumentiert das Album deine letzte gemeinsame Arbeit mit dem langjährigen Stones-Saxofonisten Bobby Keys, der im vorigen Jahr verstorben ist…
Das ist leider wahr, auch wenn ich es damals natürlich nicht ahnen konnte. Er war in der Stadt und ich rief ihn an, alles wie immer. Und nun ist es unsere letzte große gemeinsame kreative Explosion. (hebt das Glas und guckt gen Himmel) Gott schütze ihn, es ist ein Jammer!