Bock auf Abriss!
Eine mit Schweiß getränkte Menge geht in die Knie, nur um Sekunden später im Rhythmus der ekstatischen Steigerung von Gitarre und Schlagzeug nach oben zu springen. Kadavar spielen an einem Montag im Backstage in München und die Stimmung blüht so auf, wie sie es sonst auch an Samstagen nur selten tut. Doch fangen wir von vorne an. Graveyard und Kadavar sind gerade gemeinsam auf Tournee. Mit dabei im Vorprogramm: Kadavars Label-Zöglinge Polymoon, die im Februar ihr zweites, von Drummer Tiger Bartelt produziertes, Album CHRYSALIS veröffentlicht haben. Aufgrund einer längeren Wartezeit am Eingangsbereich wegen Gästelistenunstimmigkeiten verpasst man die schillernde Neo-Psychedelic-Band leider um Haaresbreite und kann den Finnen danach nur noch am Merchtisch zu ihren wundervollen Outfits gratulieren. Während der Umbaupause trifft man ein, zwei Menschen, die im Gespräch verraten, dass ihnen die Vorband nicht so ganz zugesagt hat – auf verstärktes Nachhaken hin konnte kein wirklicher Grund angegeben werden. Ein Schelm, wer Böses denkt und unterstellt, dass die sich eher fluide präsentierende Band nicht konform mit so manchem Männlichkeitsverständnis im Publikum ging. Vielleicht ja aber auch wirklich nur ein simpler Fall von „Geschmäcker sind verschieden“. Die Klärung dieser Frage wird ein Mysterium bleiben.
Danach wird immerhin schnell deutlich, dass Graveyard dem Publikum ziemlich zusagt. Das schwedische Quartett genießt in Stoner-Kreisen Kult-Status und wird zurecht sehr gefeiert von den Münchnern. Die stampfenden Rhythmen und teils hypnotischen Retro-Klangwelten schwappen sofort auf die Menge über, im Takt zuckende Körper und verzückte Gesichter lassen sich von dieser Welle umspülen. Man merkt gleich, dass die Menschen sich heute einlassen wollen bzw. können auf das ihnen Dargebotene, dass sie eintauchen und die Musik spüren. Eine solche Stimmung gibt es beileibe nicht immer auf Konzerten, eher im Gegenteil: diese Form der ekstatischen Masseneuphorie ist zur Seltenheit geworden und kickt deswegen bei ihrem sporadischen Erscheinen gleich doppelt im Belohnungszentrum. Wunderbar auch die sehnsuchtsvoll kratzende Reibeisenstimme von Frontmann Joakim Nilsson, die sich in den flächigen Mix einflechtet und einen tief im Herzen berührt. Nach ausgiebigem Applaus und Gejohle nach Ende des Graveyard-Sets macht man sich innerlich bereit für den Headliner des Abends. Kadavar durfte man inzwischen schon einige Male live erleben, hat aber an jenem Tag das Gefühl, dass richtig was geht. Auf den neuen Shirts steht in MASTER-OF-REALITY-Ästhetik Lupus Lindemanns Parade-Spruch „Habt ihr Bock oder was?“ geschrieben und ja, die Leute haben Bock und zwar richtig.
Als Intro schallt ›All You Need Is Love‹ aus den Boxen, die Band stürmt die Bühne und dann ist da irgendwie nur noch pure Energie. Schon bevor die Saiten und Trommeln berührt werden, sprühen die Funken von Kadavar ins Publikum und vom Publikum zu Kadavar hoch. Dann die ersten Schläge auf die Drums, der erste Griff in Lindemanns SG und die Hölle (oder das Paradies. Wobei das ja im Grunde vielleicht auch dasselbe ist) bricht los. Magie entlädt sich, das Publikum dreht durch und die Band steht an diesem Abend absolut unter Strom. Bereits auf Social Media hat man gemerkt, dass die Tour gerade richtig gut läuft. Dass Kadavar schon nach den ersten Akkorden in München an einem Montag Feiertagsstimmung verbreiten, ist einmal mehr Beweis dafür, dass die Berliner mit zu dem Besten gehört, was die deutsche Rockmusiklandschaft aktuell zu bieten hat. Klassiker wie ›Black Sun‹, ›All Our Thoughts‹ oder ›Die Baby Die‹ sind sowieso, wie man in Bayern so schön sagt, eine „gemähte Wiese“, Tracks wie ›Last Living Dinosaur‹ – mit dem vielleicht effizienteste Riff ihrer Karriere – bringen jede*n im Backstage zum Tanzen und Headbangen. Egal was diese Truppe vorhat, heute funktioniert alles. Auch die neuerdings losgelassenen Synth-Wogen, die dem brandneuen Bandmitglied Jascha Kreft zu verdanken sind. Selbiger steht schräg hinter Lindemann auf einem kleinen Podest und unterstützt seine Mitmusiker mit einer zweiten Gitarre und Synthesizern, letztere verwandeln manche Teile des Sets zu floydesken Klangkaleidoskopen. Ansonsten toben vorne Lindemann und vor allem Bassist „Dragon“, der als einziger mit absoluter Bewegungsfreiheit die Bühne komplett für sich in Anspruch nehmen kann und darüber shuffelt wie ein wildgewordener Flamenco-Tänzer. In der Mitte wütet Drummer „Tiger“, der mit seinen langen Armen und seinem wunderbar eigentümlichen Schlagzeug-Stil wieder einmal aussieht wie ein wilder Kraken. Die Menge flippt aus, die Band liefert ab, der Raum ist mit Vibrations gefüllt. Was für ein Abriss!