Die Single musste zweimal veröffentlicht werden, um die
schwindelerregende Höhe von Platz 75 der US-Charts zu erreichen. Doch die Langlebigkeit und der Einfluss von ›Can’t You See‹ haben jegliche Enttäuschung über diese kommerzielle Bruchlandung bei Weitem aufgewogen.
Es sind fast genau 50 Jahre vergangen, aber Doug Gray erinnert sich noch an den Tag, als sein Bandkollege, Gitarrist Toy Caldwell, bei einer Probe in ihrer Heimatstadt Spartanburg, South Carolina, eine neue Komposition namens ›Can’t You See‹ vorstellte. „Toy kam rein und sagte: ‚Ich will, dass ihr diesen Song hört, an dem ich gearbeitet habe. Ich habe eine tolle erste Strophe.‘“, erzählt der Sänger nostalgisch. „Ich musste die zweite Strophe auf einem Stück braunem Papier aufschreiben, weil Toy sich nicht daran erinnern konnte. Dieses Stück Papier habe ich tatsächlich immer noch.“ Caldwells erstes Arrangement war ziemlich primitiv. Nachdem die Band beschlossen hatte, dass ein Flötenintro genau das Richtige dafür wäre, war ihr begnadeter Multiinstrumentalist Jerry Eubanks gefordert. Die Flöte findet im Southern Rock eher selten Verwendung, Eubanks’ wunderbar sommerliches Solo erinnerte an eine Lerche und wurde zum Erkennungsmerkmal des Songs. „Wir wussten, dass wir keinen gewöhnlichen Gitarren- oder Klavierpart wollten. Um es einzigartig zu machen, baten wir also unseren Kumpel Jerry und er ließ sich etwas einfallen, das passte“, erklärt Gray. Er hätte sein Recht als Leadsänger geltend machen können, doch als das Quintett in den Capri corn Sound Studios in Macon, Georgia, ankam, um mit Produzent Paul Hornsby zu arbeiten, schlug Gray vor, der Komponist des Songs, Caldwell, solle ihn an seiner Stelle auch singen. „Das Stück eignete sich besser für eine rauere Stimme als meine. Ich wusste sofort, dass es nicht mir [als Sänger] gehörte, sondern Amerika. Es gehörte dem Universum.“
Caldwell war jedoch andererMeinung. Gray machte mehr als deutlich, dass er den Song aussetzen wollte, doch Caldwell bestand darauf, ihn aus der Kehle des Frontmanns zu hören. „Ich machte es ein paar Mal und sang absichtlich schlecht“, lacht Gray. „Also gaben wir es wieder Toy und er sang es in zehn Minuten ein, viel besser, als ich es je gekonnt hätte. Er sang, als würde er Zeugnis ablegen. Und jetzt, wo es ein universeller Song geworden ist, fordere ich immer das Publikum – das aus Menschen im Alter von zehn Jahren bis zu Menschen, die älter als ich sind, besteht, und ich bin jetzt 74 – auf, die erste Strophe zu singen. Und sie legen alle Zeugnis ab. Gerade erst gestern sang ich das Stück in North Carolina, und am Tag davor in Nevada, aber wir hatten keine Ahnung, dass es so beliebt werden würde. ›Can’t You See‹ wurde in Pubs, Clubs und auf Bühnen rund um den Globus gehört.“ Mit textlichen Bezügen auf die Fahrt in einem Güterzug malt ›Can’t You See‹ ein lebendiges Bild der Südstaaten, doch mit Zeilen wie „find me a hole in the wall“ und „crawl inside and die“ hat es auch eine düstere Note. Es ist ein Song voller Kontraste. „Das ist es wirklich“, stimmt Gray zu. „Uns wurde erst vor fünf Jahren klar, dass unsere Albentitel ab dem zweiten sich alle auf einander [und auf Eskapismus im Allgemeinen] beziehen, von A NEW LIFE [1974] und SEARCHING FOR A RAINBOW [1975] bis zu unserer bislang letzten Platte [THE NEXT ADVENTURE, 2007]. Das war nicht beabsichtigt, es passierte einfach so.“ Das selbstbetitelte Debüt der Marshall Tucker Band erreichte die Top 30 der US-Charts, doch als ›Can’t You See‹ als Single veröffentlicht wurde, schaffte es keine höhere Platzierung als 108. Später versuchte es Capricorn noch mal, aber das Ergebnis fiel mit Platz 75 nur unwesentlich besser aus. Ein Bestseller wurde der Song also nie, doch er hat sich als sehr langlebig erwiesen und wird heute sehr geschätzt. „Das ist wahr, und ich weiß nicht, warum“, so Gray. Dass die Band in jenem Jahrzehnt mit ›Fire On The Mountain‹ und ›Heard It In A Love Song‹ zwei größere Hits landete, half sicher und erlaubte es ihnen zu wachsen. „Ich könnte dir eine Fassung von Waylon Jennings vorspielen, der ›Can’t You See‹ singt [1976]“, sagt Gray begeistert. „Die Zak Brown Band nahm es [2010] mit Kid Rock auf. Wir haben dadurch viele Freunde gewonnen, und dann sind da noch die ganzen Teilnehmer, die es in Sendungen wie ‚The Voice‘ singen. Momentan ist es auch in fünf Netflix-Filmen zu hören.“
Auch Black Stone Cherry und, na ja, Poison coverten die Nummer. Kennt Gray auch diese Versionen? „Yeah“, bestätigt er. „Ich habe etwa 40 Covers von ›Can’t You See‹ von anderen Acts.“ Dieses Jahr feiert die Marshall Tucker Band ihr 50. Jubiläum und Gray will so lange auftreten, bis er tot umfällt. „Die Originalformation war nur acht Jahre zusammen und ich bin der Letzte, der davon noch übrig ist, doch was mich am stolzesten macht ist, dass wir immer noch gut dabei sind“, strahlt er. „Die meisten der Jungs im jetzigen Line-up sind seit 25 Jahren bei mir und es ist eine solide Band. Und so wird das sein, bis ich zum Abschied von meiner Trage winke, nachdem ich auf der Bühne gestorben bin. Ich werde mich nicht zur Ruhe setzen. Da ist noch zu viel Spaß in mir.“ Lynyrd Skynyrd drehen gerade ihre Abschiedsrunde, und der Freund und MTB-Kollaborator Charlie Daniels starb 2020. Angesprochen darauf, ob er sich Sorgen um die Zukunft des Southern Rock macht, antwortet Gray ausweichend. „Die neue Art ist die alte Art – und so sollte es sein. Blackberry Smoke machen es richtig. Sie sind keine Hardrocker, ihre Songs bedeuten etwas und sie erschaffen neue Erinnerungen aus dem, was vor ihnen kam.“ Aber warum ist die Marshall Tucker Band im Vergleich zu den Titanen des Genres nicht bekannter? „Wir haben nie Kapital aus einem Tod geschlagen“, sagt er und lässt diese Bemerkung einen Augenblick in der Luft hängen. „Das machten so viele andere Acts. Wir wurden auch dazu gedrängt [Toy Caldwell starb 1993, ein Jahrzehnt nach seinem Ausstieg, und sein Bruder, Bassist Tom, 1980 bei einem Autounfall], aber wir weigerten uns.“ In Europa ließ sich die Marshall Tucker Band kaum blicken, doch Gray bereut nichts. „Ich hätte nichts anders gemacht“, schließt er mit einem Funkeln im Auge ab. „Ich habe so ziemlich jede Droge genommen, die man finden konnte, und jede Erfahrung gemacht, die man sich wünschen könnte. Wenn die Southern-Rock-Bands zusammen auf Tour gingen, trat ich für sie ein. Ich konnte völlig nüchtern erklären, dass ein Fernseher explodierte, nachdem ein Bier reingekippt worden war: ‚Ich weiß nicht, was da passiert ist, Sir … das Ding ging einfach in die Luft!‘ Ich wusste, dass mein Bruder Ronnie [Van Zant, Lynyrd Skynyrd] es getan hatte, aber ich log wie ein Motherfucker. Jemand musste es ja tun!“