Von seinen Anfängen im Punk über Britpop bis zu Avantgarde-Rock hat uns das Wunderkind aus Woking tausend Dinge zu sagen …
Paul Weller gehört zu den wohl missverstandensten Künstlern überhaupt. Es ist eine ziemlich bittere Ironie, dass der Mann, der uns in den letzten 40 Jahren mit derart innovativer Musik beglückt hat, so oft auf das faule Klischee des „Modfather“ reduziert wird. Er hat in seiner Karriere alles von Punk über R&B, Psychedelic, Folk-Soul, Jazz und Elektronik bis zu Avantgarde-Rock abgedeckt, ein Spektrum, das brutalen Lärm ebenso umfasste wie semi-orchestrale Atempausen. „Ich wollte niemals, niemals die Rolling Stones sein“, sagte Weller einmal. „Nichts gegen sie, aber ich will nicht immer und immer wieder dasselbe machen.“
Die sture Entschlossenheit, sich stets herauszufordern, wurde zum roten Faden seiner Laufbahn. Seine ersten Besessenheiten – die Small Faces, The Kinks, The Who – wurden in die schroffe Reduziertheit von The Jam gefiltert. Von 1977 bis 1982 erschuf das Wokinger Trio aus Sänger/Gitarrist Weller, Bassist Bruce Foxton und Schlagzeuger Rick Buckler eine Reihe umwerfender Alben und unwiderstehlicher Singles, die ihnen zu einer bedingungslos loyalen Fanbase und beachtlichem kommerziellen Erfolg verhalfen. Der Frontmann erwies sich schnell als ungewöhnlicher Songwriter, der den stumpfen Frust der Vorstadt-Arbeiterklasse in einer Art und Weise zu artikulieren vermochte, wie man es seit Ray Davies nicht mehr gehört hatte.
The Jam hätten weitermachen können, doch es war typisch für Weller, dass er die Band in dem Bestreben, andere Optionen wahrzunehmen, auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs auflöste. Als sie sich 1982 mit THE GIFT verabschiedeten, war er gerade einmal 24 Jahre alt.
Sein nächstes Projekt, das ihn für den Rest der 80er Jahre vereinnahmte, waren Style Council. Um unsere Würde zu wahren, ist es vielleicht besser, dieses Kapitel in Wellers kreativem Werdegang zu übergehen. Es beinhaltete seichten Jazz-Soul und wenig schmeichelhafte Segelschuhe, und mehr müssen wir nicht darüber sagen.
Mit einem zurückhaltenden Solodebüt meldete er sich 1992 wieder zurück, doch es war WILD WOOD aus dem folgenden Jahr, ein wunderschöner Reigen psychedelischer, folkbeseelter Songs, die seine Liebe zu Traffic und dem frühen Neil Young offenbarten, das seiner Karriere zum Neustart verhalf. Als er 1995 STANLEY ROAD veröffentlichte, war er bereits zum „elder statesman“ des Britpop avanciert. Seitdem landete er mit einem steten Fluss weiterer Alben verlässlich in den britischen Top 5.
Anfang des neuen Jahrtausends ging ihm kreativ ein wenig die Puste aus, doch auch von diesem kurzen Tief hat er sich mehr als stilsicher erholt. Von 22 DREAMS (2008) bis zu seinem neuesten Werk SATURNS PATTERN hat er den wohl ambitioniertesten Lauf seines Lebens absolviert. „Man kann nicht immer in seiner kleinen vertrauten Ecke bleiben“, erklärte Weller.
Unverzichtbar
The Jam
ALL MOD CONS
POLYDOR, 1978
Bei Gegenwind war Weller oft am scharfsinnigsten. Nachdem das zweite Album THE MODERN WORLD wenig begeistert aufgenommen worden war, befanden sich The Jam auf dem absteigenden Ast, doch sie antworteten mit diesem Pop-Punk-Magenschwinger voller messerscharfer Beobachtungen über das graue britische Alltagsleben der 70er. Ray Davies‘ Einfluss ist deutlich hörbar in der spitzzüngigen Gesellschaftskritik von ›Mr Clean‹ und ›Billy Hunt‹. ›Down In The Tube Station‹ wiederum ist eine Kleinganoven-Story, doch Weller konnte auch eine bislang ungehörte Zartheit an den Tag legen: ›English Rose‹ ist ein bis heute bewegendes Liebeslied.
Paul Weller
WILD WOOD
GO! DISCS, 1993
Nach dem unscheinbaren Solodebüt aus dem Vorjahr markierte dieses für den Mercury Prize nominierte Werk Wellers Ankunft als bedeutender Solokünstler. Der liebliche Grundton erinnert an den herbstlichen Brit-Folk von Nick Drake und die trippigen Grooves von Traffic in der Mitte ihrer Laufbahn. Diese nachdenkliche, fast ganzheitliche Stimmung wird perfekt in der sanften Wärme des Titelstücks und dem wehmütigen Epos ›Shadow Of The Sun‹ mit einem rauen Solo und Vocals von seiner damaligen Frau Dee C Lee eingefangen. Doch auch seine Bissigkeit ist noch intakt: ›Has My Fire Really Gone Out?‹ und ›Can You Heal Us (Holy Man)‹ zeigen Zähne, wie man es seit The Jam nicht mehr gehört hatte.
Wunderbar
The Jam
SETTING SONS
POLYDOR, 1979
Es war als Konzeptalbum über Kindheitsfreunde geplant, die nach einem Krieg zusamenfinden, um festzustellen, dass sie sich auseinandergelebt haben, doch das Thema wurde aufgeweicht. Einige Elemente blieben erhalten (›Little Boy Soldiers‹, ›Burning Sky‹, ›Wasteland‹), doch die Platte wurde stattdessen zu einer klugen Abhandlung zum Thema Klasse und Alltagsleben. ›The Eton Rifles‹ ist gnadenlos treffend, während Foxton mit ›Smithers-Jones‹ seinen besten Moment hat. Melodisch und einfallsreich, ist es ein punkiger Nachtrag zu ARTHUR von den Kinks.
The Jam
SOUND AFFECTS
POLYDOR, 1980
Angeblich Wellers Lieblingsalbum und ein potentes Destillat aus allem, was er an britischer Musik liebt. Klarer als in ›Start!‹, einer Nr.-1-Single, die sich das Riff von ›Taxman‹ ausborgte, bezog er sich nie auf die Beatles. Auf der Attacke gegen den Konsum ›Pretty Green‹ verbindert er Gang Of Four mit einem Hauch Psychedelic. Foxton und Buckler glänzen mit flüssigen Rhythmen, während Wellers Riffs von cleveren Hooks und bisweilen sogar Bläsern akzentuiert werden. Der Höhepunkt: ›That‘s Entertainment‹, ein Lied über alles, was ihn an der Vorstadt nervt.
Paul Weller
STANLEY ROAD
GO! DISCS, 1995
Ein Musterbeispiel für den Britpop der 90er. Mit dabei: Noel Gallagher, der an der Coverversion von Dr. Johns ›I Walk On Gilded Splinters‹ mitwirkt. STANLEY ROAD, benannt nach der Straße in Woking, in der Weller aufwuchs, ist ebenso nachdenklich wie bissig. ›The Changingman‹ (ein UK-Top-10-Hit wie auch ›You Do Something To Me‹) bedient sich bei ELOs ›10538 Ouverture‹, bevor es zu einem wuchtigen Rockstück mutiert. Der Nostalgiefaktor wird noch erhöht durch Steve Winwoods Piano auf ›Woodcutter‘s Son‹ und ›Pink On White Walls‹.
Paul Weller
22 DREAMS
ISLAND, 2008
Als klare Antwort auf all die abgedroschenen Modfather-Klischees ist 22 DREAMS so faszinierend wie eklektisch. Folk, Soul und Psychedelic treffen auf Electronica, Jazzrock und einen erfrischenden Experimentierwillen, der sogar Raum für Spoken-Word-Poesie ließ. Dann sind da noch Gäste wie Robert Wyatt (zu hören bei der Alice-Coltrane-Hommage ›Song For Alice‹), Blurs Graham Coxon (›Black River‹), Jam-Kollege Steve Brookes (›One Bright Star‹) sowie Noel Gallagher (beim trippigen ›Echoes Around The Sun‹).
Anhörbar
The Jam
THE GIFT
POLYDOR, 1982
„Ich will, dass wir würdevoll abtreten“, sagte Weller, bevor sich The Jam 1982 auflösten. Als letztes Statement löst THE GIFT dieses Versprechen größtenteils ein, auch wenn die Betonung von Stax-Funk und Northern Soul jene Fans polarisierte, die mit der Drei-Akkord-Attacke IN THE CITY aufgewachsen waren. Der furiose Groove von ›Precious‹ und das weniger gelungene ›Trans-Global Express‹ mit seiner von World Clubs ›So Is The Sun‹ geklauter Hookline gelten als Musterbeispiele. Nichts auszusetzen gibt es an ›Ghosts‹ und ›Town Called Malice‹ – der dritten UK-Nr.-1 für The Jam.
Paul Weller
WAKE UP THE NATION
ISLAND, 2010
Wellers zehntes Soloalbum erinnerte mit seiner drangvollen Präzision wieder an The Jam, was noch unterstrichen wurde von zwei Gastauftritten von Bruce Foxton – ihre erste Zusammenarbeit seit dem Split 1982. So kurz und knackig WAKE UP THE NATION auch sein mag – es ist auch extrem abenteuerlustig. Man höre nur das avantgardistische ›Trees‹ oder die dräuende Klanglandschaft von ›7&3 Is The Strikers Name‹. ›No Tears To Cry‹ und ›Aim High‹, zwei Soul-Granaten, sind nicht weniger beeindruckend und erinnern an die zeitlosen Vibes von Bobby Womack und Howard Tate.
Paul Weller
SONIK KICKS
ISLAND, 2002
Wellers wachsendes Interesse an Musik jenseits aller Grenzen ist der Schlüssel zu SONIK KICKS, von ›Kling I Klang‹ (inspiriert von Neu!) bis zur Elektro-Collage ›Green‹. Was nicht heißt, dass er plötzlich nur noch Avantgarde machte. ›Dragonfly‹ und ›Drifters‹ klingen wie Echos von Bowie aus seiner Berliner Zeit, während ›That Dangerous Age‹, eine funky Beobachtung eines Mannes, der mit dem Ende seiner Jugend zu kämpfen hat, die Vermutung widerlegt, Weller habe keinen Humor. Doch auch klassische Handwerkskunst wird geboten, etwa beim ruhigen ›By The Waters‹.
Sonderbar
Paul Weller
HEAVY SOUL
ISLAND, 1997
Style Council waren nicht der einzige fragwürdige Schritt in Wellers Karriere. STUDIO 150, sein Cover-Album von 2004, ist bestenfalls durchwachsen. HELIOCENTRIC und ILLUMINATION aus den frühen 00er Jahren trafen ebenfalls auf unverhohlene Kritik. Doch sein absoluter Tiefpunkt ist HEAVY SOUL, der Nachfolger des so verehrten STANLEY ROAD. Fairerweise muss man sagen, dass nichts wirklich Schreckliches auf dieser Platte ist – doch eben auch nichts Inspirierendes. Die Quittung dafür erhielt in Form des Rufs, der führende Vertreter von banalem Dad-Rock zu sein.