Auch heute immer noch sehenswert: Ken Russells bunte Adaption der Who-Rockoper.
Dem Gros der Filmkritiker ist der britische Regisseur Ken Russell bis heute suspekt: Sein ausgeprägter Hang zum Schrillen, Lauten und allzu Opulenten verschreckte regelmäßig, der Vorwurf plakativer Effekthascherei verfolgte ihn Zeit seines Lebens. TOMMY, basierend auf dem gleichnamigen Konzeptalbum der Who und 1974 gedreht, profitiert jedoch von Russells expressiver Bildersprache. Oder besser ausgedrückt: Pete Townshends letztendlich doch ziemlich krude Erlösungsstory schrie förmlich nach pompöser und überspitzt comichafter Aufbereitung. Seriös inszeniert, hätte die Geschichte vom blinden, taubstummen und auf allerlei Arten missbrauchten Tommy, der mittels Flipperspiel zum Messias wird und erst durch die Zerstörung seiner Lebenswelt die Freiheit findet, nämlich ganz schlimm enden können: als pseudophilosophisch aufgeblasene Peinlichkeit.
Ein Exemplar der Gattung „Weltverbesserungskino der siebziger Jahre“ ist TOMMY natürlich dennoch geblieben. Der Moralist Townshend wollte eben unbedingt loswerden, dass weder Geld, Sex noch Drogen richtig glücklich machen, sondern nur die Spiritualität. Woher der Wind wehte, war klar: Pete Townshend hatte die Lehren des Inders Meher Baba kennengelernt, kurz nach dem 1969er-Doppelalbum TOMMY erschien dann noch die thematisch passende Single ›The Seeker‹ – ein Gitarrist auf der Suche nach dem Sinn. Aber zurück zum Film: ›I’m Free‹ rocken The Who am Schluss, und damit ist es dann auch gut. Die Botschaft geriet also eher leidlich originell, doch zumindest Russells bunter Bilderrausch fiel ziemlich unterhaltsam aus. Was dem barocken Oliver Reed in der Rolle von Tommys bösem Stiefvater geschuldet ist, Ann Margret, die sich lustvoll in Schokoladensoße wälzt und einem sinistren Keith Moon als pädophilem Schmuddelonkel Ernie. Und der Hauptdarsteller Roger Daltrey? Nun ja, viel zu sagen hatte er ja nicht, doch als blondgelockter Rockgott zwischen kindlicher Unschuld und perfider Selbstüberschätzung machte er zumindest mimisch eine ganz gute Figur.
Langweilig ist keine der 107 Filmminuten, und die Musik geht ohnehin als charmant durch – auch wenn Oliver Reeds gesangliche Fähigkeiten besser in die Fan-kurve eines englischen Fußballstadions gepasst hätten. Elton John am Flipper-Piano-Hybriden und mit Schuhgröße 243 verstand sein Handwerk natürlich besser, und Arthur Brown als exzentrischer Hohepriester sowie Tina Turner als resolute ›Acid Queen‹ machen ebenfalls Spaß.
Uwe Schleifenbaum