Ein Piano-Sound à la ›Hey Jude‹
Zu seinen Rekruten zählt auch der Keyboard-Virtuose Rick Wakeman, den er gegen Ende der Aufnahmesessions für die Pianopassagen hinzuzieht. Wakeman hatte bereits das schwelgerische Mello-tron bei ›Space Oddity‹ eingespielt, doch jetzt gibt ihm Bowie klare Anweisungen: „Er sagte, dass er die Songs aus einer anderen Perspektive angehen wolle“, erinnert sich Wakeman, „dass sie um das Piano herum arrangiert werden sollten. Meine Aufgabe war es, die Songs so zu spielen, als würde es sich dabei um reine Klavierstücke handeln.“ Wakeman gehorcht – und darf sich dabei auf einem ungewöhnlichen Instrument ausleben: einem 100 Jahre alten Konzertflügel der Marke Bechstein. Nicht irgendein Klavier, sondern jenes In-strument, auf dem einst ›Hey Jude‹ entstanden war. Später folgten die frühen Aufnahmen von Elton John sowie einige Songs von Genesis und Supertramp. Dazu Ken Scott: „Es war dieser bestimmte Piano-Sound, der das Trident-Studio berühmt machte. Dieser Bechstein-Flügel war wirklich ein außergewöhnliches Instrument.“
Die Piano-Ballade ›Life On Mars?‹ zeigt den Bechstein von seiner besten Seite, doch zu vernachlässigen, welche Rolle Mick Ronsons Gitarre für HUNKY DORY spielte, wäre grob fahrlässig. Ob die sparsamen Licks auf ›Eight Line Poem‹, die explosive Akustikgitarre von ›Andy Warhol‹ oder das verzerrte Powerplay von ›Queen Bitch‹ – Ronson liefert wahrhaft elektrifizierende Momente. Dabei gab sich der 1993 verstorbene Gitarrist stets bescheiden: „Ich bin ganz gut darin, aus Riffs Melodien zu entwickeln, Songs ein wenig aufzupeppen, damit sie im Ohr hängen bleiben.“ Dazu Schlagzeuger Woodmansey: „Mick wusste nicht wirklich, wie gut er eigentlich war. Er konnte ein Solo spielen, erster Take, noch nie zuvor geprobt – und blies uns alle um. David wies Ken immer an, den Aufnahmeknopf zu drücken, ohne dass Mick es wusste. Der versuchte dann noch ein paar weitere Takes, doch meistens war es der erste, der auf der fertigen Aufnahme landete.“ Für Ken Scott ist Ronson noch heute „einer der größten Gitarristen, mit dem ich je zusammenarbeiten durfte“.
In den Monaten vor der Aufnahme hatte Ronson zuhause in Hull einen Lehrer beschäftigt, der ihm ein bisschen Musiktheorie beibrachte. Was, kombiniert mit seiner angeborenen Musikalität, völlig ausreichte, um bei ›Life On Mars?‹ und ›Quicksand‹ die Streichin-strumente zu arrangieren. Scott erinnert sich: „Er wusste nicht wirklich, wie das funktionierte, was ihn in gewisser Weise frei machte. Es war genau wie bei den Beatles: Er tat Dinge, die andere Arrangeure niemals gewagt hätten.“
Mehr als Rock’n’Roll
Die elf Songs von HUNKY DORY werden Bowies Anspruch, allerlei Stile zu kombinieren, jedenfalls vollauf gerecht. ›The Bewlay Bro-thers‹ klingt wie Dylan auf Droge, ›Oh, You Pretty Things‹ ist Glam Rock mit Ragtime-Einschlag, ›Changes‹ fusioniert Lounge Pop mit einem kraftvollen Ohrwurm-Refrain. Mission erfüllt, und Bowie freut sich: „Ich dachte mir: Wow, das ist kein reinrassiger Rock’n’Roll mehr, das ist Kunst! Etwas wirklich Aufregendes! Damals waren wir ja alle von George Steiners Definition des Pluralismus fasziniert, zudem hielt der Begriff der Postmoderne Einzug. Und wir wollten dabei sein. Scheiß auf den Rock’n’Roll, es ging um was anderes: Wie man Distanz schafft zu all den bekannten Formen und Formeln.“
Auf Seite zwei finden sich dann gleich drei Tribute-Songs an Bowies amerikanische Helden: ›Queen Bitch‹ ist eine tiefe Verbeugung vor The Velvet Underground, die Bowie seit der Single ›Waiting For The Man‹ fasziniert beobachtet hatte: „Für mich war das damals die Zukunft der Rockmusik, die neuen Beatles! Der Song war ernst und gefährlich, wofür ich ihn liebte.“ Eine Liebe, die den Briten Bowie dazu bringt, auf ›Queen Bitch‹ sogar das New Yorker Idiom zu bemühen: „you betcha….“. Was heute ein wenig aufgesetzt wirken kann, stört damals niemanden. Verglichen mit Mick Jaggers zeitgenössischem southern drawl, der offenbar suggerieren soll, dass die Wiege der Stones nicht in der Londoner Vorstadt, sondern irgendwo zwischen Atlanta und Oklahoma City stand, fällt Bowies Ausflug an den Hudson River ja nun auch wirklich nur kurz aus.
Andy Warhol ist beleidigt
Wem der ›Song For Bob Dylan‹ die Ehre erweist, erklärt sich von selbst, Bowie äußerte sich dazu einmal im Jahre 1976: „Damals durchlief ich eine Phase, in der ich ein Machtvakuum wahrnahm: Dylan hatte seine Rolle als Sprachrohr verloren. Ich sagte mir: ,Okay, Bob, wenn Du es nicht tun willst, ich stehe bereit.‘ Der Song ist gewiss nicht der wichtigste auf HUNKY DORY, doch er repräsentiert meine damalige Perspektive.“ Wie Dylan darauf reagierte, ist nicht überliefert – dass Andy Warhol Bowies gleichnamigen Song hasste, hingegen schon: Als Tribute gedacht und im September 1971 dem Maes-tro während Bowies zweiter US-Reise zu Gehör gebracht, ist dessen Reaktion recht eindeutig: „Er stöhnte kurz auf, dann verließ er den Raum“, erinnert sich Bowie. „Da stand ich nun. Irgendwann kam einer seiner Mitarbeiter und meinte nur: ‚Jeeesus, Andy hasst dein Lied.‘ Ich antwortete: ‚Sorry, aber es war eigentlich als Kompliment gedacht.‘ Darauf er: ‚Mag sein, aber du hast gesungen, dass Andy seltsam aussieht; weißt du denn nicht, dass er da sehr empfindlich ist? Er hat eine Hautkrankheit und bildet sich ein, die Leute würden das sehen.‘ Ich kam also nicht allzu gut an, doch später lernte ich ihn dann doch noch kennen. Über meine Schuhe. Kleine, gelbe Dinger mit einem Streifen darüber, wie Mädchenschuhe. Er fand sie absolut fantastisch, erwähnte, dass er früher mal Schuhe entworfen hatte. Ich glaube, er hatte einen kleinen Schuh-Fetischismus, aber jedenfalls war das Eis gebrochen.“
Den Abschluss bildet das kryptische ›The Bewlay Brothers‹, vermutlich einer der am häufigsten analysierten Songs aus Bowies Feder, wobei die Interpretationen zwischen „schwulem Manifest“ und Bowies Verhältnis zu seinem schizophrenen Halbbruder Terry changieren. Was Ken Scott aber gleich wieder entschärft: „Das war so etwas wie der Last-Minute-Song. Ganz in der Nähe vom Trident Studio war ein Tabakladen, der den Songtitel inspirierte. Auch wenn David das vermutlich bis ans Ende seiner Tage abstreiten wird – ich erinnere mich daran, wie er das Studio betrat und sagte: ‚Wir brauchen diesen Song für den amerikanischen Markt.‘ Ich fragte, wie er das meine, und er antwortete: ‚Nun, der Text macht überhaupt keinen Sinn, aber die Amerikaner lieben es, in solche Sachen alles Mögliche rein zu interpretieren. Tun wir ihnen doch den Gefallen.‘“ Bowie widerspricht tatsächlich: „Der Song handelt vage von meinem Verhältnis zu Terry.“
Euphorische Presse
Wie dem auch sei: Nach zwei Wochen Aufnahmen und weiteren zwei Wochen am Mischpult ist HUNKY DORY fertig. Defries schickt eine Vorab-Pressung nach New York und ergattert einen Deal mit RCA Records, die sichtlich froh darüber sind, neben Elvis und allerlei Countrymusikern nun auch einen „hippen“ Rocker im Katalog zu haben. Der Vorschuss beläuft sich auf 37.500 US-Dollar. Am 17. Dezember 1971 wird HUNKY DORY veröffentlicht, die gerne mal überkritische britische Musikjournaille ist voll des Lobes. Der „Melody Maker“ spricht vom „innovativsten Songwriting, das seit geraumer Zeit auf Platte gepresst wurde“, die Konkurrenz vom „New Mu-sical Express“ urteilt knapp: „Bowie in brillanter Bestform.“ Auch jenseits des Atlantiks werden die Signale vernommen, der „New Yorker“ hält Bowie für „die intelligenteste Person, die Rockmusik zu ihrem Medium erwählt hat“. Starke Worte. Starkes Album. Das manche sogar für stringenter halten als THE RISE AND FALL OF ZIGGY STARDUST. Etwa Trevor Bolder, der Bowie bis 1973 und dem Al-bum PIN-UPS begleitet: „Es ist mein liebstes Bowie-Album, ich lege es immer wieder auf und werde nie damit aufhören. Und viele junge Musiker, die ich kenne, sehen das ähnlich. Großartige Songs, brillanter Gesang und die Texte sind superb. Man kann sich kaum ein besseres Album vorstellen.“
Bis 1973 bleibt auch Woody Woodmansey in Bowies Gefolge, genauer: bis zum Album ALADDIN SANE. „HUNKY DORY war das Album, auf dem sich Davids Fähigkeiten als Songwriter Bahn brachen. Es zeigte uns, was man braucht, um ein Qualitätsprodukt zu erschaffen, wie man alle Kräfte abrufen muss, sei es, was das Songwriting angeht, die Arrangements, die Rhythmen, Sounds, Gefühle und den ganzen Rest. Es war Davids eigentlicher Karrierestart.“
Und wie beurteilt Bowie selbst sein 71er-Werk? „Es brachte mich regelrecht in Wallung, denn ich erkannte, dass man alles Mögliche ausprobieren kann. Man kann bei der Vergangenheit borgen, es mit Dingen mischen, die man in der Zukunft verortet, und alles im Hier und Jetzt in Szene setzen. Zudem erhielt ich erstmals in meiner Karriere ein wirklich positives Feedback vom Publikum, Leute kamen auf mich zu und sagten, ‚gutes Album, gute Songs‘, was ich vorher nie erlebt hatte. Ich spürte, dass ich auf dem richtigen Weg war.“
Ziggy Stardust in der Mache
Alles gut also? Heute schon, damals nicht ganz. Denn die welt-weiten Verkäufe von HUNKY DORY belaufen sich im ersten Quartal nach der Veröffentlichung auf schlappe 5.000 Exemplare. Was Bowie vermutlich aber gar nicht so richtig mitbekommt, denn seit kurzem weilt er erneut im Studio, um endlich seinen Masterplan in die Tat umzusetzen: The Velvet Underground treffen Iggy Pop in den Weiten des Weltalls. Ziggy Stardust steht kurz vor seiner Niederkunft, und mit ihm der Glam Rock als weltweites Phänomen – Ne-braska einmal ausgenommen.