0,00 EUR

Es befinden sich keine Produkte im Warenkorb.

0,00 EUR

Es befinden sich keine Produkte im Warenkorb.

Titelstory: Bruce Springsteen

-

Titelstory: Bruce Springsteen

- Advertisement -

Auf seinem 17. Studioalbum präsentiert sich „der Boss“ als radikaler Rock-Revoluzzer, der gegen die Reichen, Gierigen und Korrupten wettert, klare Worte an Politiker, Kirche nebst Wall Street richtet und seine „fellow Americans“ auf einen neuen Kurs einschwört: Eigenverantwortung, Weltoffenheit und Zivilcourage sind oberste Bürgerpflicht zum Aufbau einer wirklich demokratischen USA. Und für die ist es allerhöchste Eisenbahn.

Opener_Bruce Springsteen 2012c @ Danny ClinchEine Vision, der Bruce Frederick Joseph Springsteen aber auch Taten folgen lässt. Denn noch nie war der Mann aus Long Branch, New Jersey, so explizit politisch, so klassenkämpferisch und vor allem so kompromisslos wie 2012. Mit Forderungen nach gesellschaftlichen Veränderungen, die er auf seinem neuen Werk WRECKING BALL ganz unmissverständlich formuliert, und die selbst Lenin, Marx, Engels und Luxemburg mit Stolz erfüllen dürften.

Einfach, weil er sich die Freiheit nimmt, mitten in der Hochburg des Turbokapitalismus eine staatliche Kontrolle der Wirtschaft, einen weit reichenden Schutz der Arbeiterklasse und zudem Sanktionen gegen die Missachtung von allgemeingültigen ethisch-moralischen Vorstellungen zu fordern. Das hätte ihm unter McCarthy glatt eine Anklage wegen kommunistischer Volksverhetzung beschert, ist aber heute – im Zeitalter von Occupy Wallstreet – geradezu ultra hip. Genau wie sein erdiger, bodenständiger Sound, der mehr Folk-Elemente aufweist als die Avett Brothers oder Mumford & Sons – und mehr schnörkellosen Rawk’n’Roll als Gaslight Anthem oder Rise Against. Womit „der Boss“ seine Relevanz für alle Altersgruppen und Genres unterstreicht, wirklich einer für alle ist, und das auch optisch zum Ausdruck bringt. Denn irgendwie scheint er dasselbe Berufsjugendlichen-Gen zu be-sitzen wie sein deutscher (und längst nicht so cooler) Kollege Peter Maffay – Jeans, T-Shirt, Lederjacke, schwere Boots und Sturmfrisur. Eben als käme er frisch von der Schicht und müsse noch kurz die Welt retten, ehe das rustikale familiäre Abend-essen auf dem Tisch steht. Eine kniffelige Aufgabe, die er lieber musikalisch als verbal löst. Trotzdem nimmt er sich bei seinem Blitzbesuch in Paris fast eine Stunde Zeit, um den Fragen von CLASSIC ROCK Rede und Antwort zu stehen. Und dabei mit einer beeindruckenden Offenheit zu glänzen. Auch, wenn ihm die sieben Flugstunden, die er am Vormittag absolviert hat, merklich in den Knochen stecken…

Bruce, du siehst müde aus…

(lacht trocken) Das bin ich auch! Ich bin heute Morgen aus New Jersey eingeflogen, habe ein paar Stunden geschlafen und muss morgen früh direkt zurück.

Warum der Stress?
Weil wir mitten in den Proben zur Tour stecken. Und weil ich die Jungs nicht so lange allein lassen kann. Wer weiß, was die ohne mich machen. (lacht) Und ihr wollt ja schließlich eine vernünftige Show sehen, oder? Also: Dafür müssen wir proben, richtig intensiv so-gar. Einfach, weil sich die Songs ja nicht von alleine spielen, sondern nur dann, wenn alle Beteiligten topfit und 100prozentig bei der Sache sind.

Wie denn, auch nach 40 Jahren Musikgeschäft herrscht da immer noch keine Routine, kein bisschen laissez faire?
Oh nein, jedenfalls nicht bei mir. Ich bin jemand, bei dem alles auf harter körperlicher Arbeit und unbändigem Willen basiert. Einfach, weil mir nichts zugefallen ist, sondern ich musste für alles, was ich erreicht habe, hart arbeiten. Nur so habe ich es zu etwas gebracht. Eben, indem ich den Kampf angenommen und mich nicht versteckt habe. Ich hab mich durchgebissen. Und so ist es bis heute. Schließlich haben wir auf dieser Tour 15 Musiker dabei und müssen zugleich zwei großartige ersetzen, was wirklich nicht leicht ist. Wenn man da nicht probt und versucht, das Optimum herauszuholen, kann das nur schief gehen.

Damit spielst du auf den Tod deiner langjährigen Weggefährten Danny Federici und Clarence Clemons an. Wie kompensierst du diesen Verlust?
Der lässt sich nicht kompensieren – erst recht nicht bei Clarence. Ich meine, man kann keine Stadt durch ein Haus ersetzen. Und Clarence war eine Macht – und zudem noch einer meiner besten Freunde. Schließlich haben wir zusammen Musik gemacht, seit ich 22 war, was eine Ewigkeit ist. Und wir hatten eine ganz besondere Chemie, wir waren ein Team, eine Einheit. Wir haben alles zusammen erlebt – Höhen wie Tiefen, Freude und Schmerz. Ihn zu verlieren ist, als ob da plötzlich etwas ganz Elementares fehlt – wie die Luft oder der Re-gen. Insofern bin ich stolz, dass er auf ›Land And Hope And Dreams‹ mit seinem letzten, unverkennbaren Solo vertreten ist. Das ist ein ganz besonderer Moment auf diesem Album. Und ich bin nicht minder stolz, dass wir jetzt seinen Neffen Jake dabei haben, den Clarence mir vor ein paar Jahren vorgestellt hat und der seinen Part übernimmt. Der Junge ist wirklich gut…

Lässt dich das auch über deine eigene Sterblichkeit bzw. Halbwertszeit nachdenken? Schließlich bist du 62. Und das in einer Branche, die gemeinhin als „a young man´s game“, als etwas für junge Leute, bezeichnet wird.
Natürlich mache ich mir Gedanken. Und manchmal spüre ich mein Alter sehr wohl. Zum Beispiel, wenn ich mal kurz nach Paris fliege. (lacht) Aber im Großen und Ganzen muss ich sagen, dass ich eigentlich ganz gut in Form bin. Also ich bin in der Lage, eine längere Tournee zu bestreiten und dabei allabendlich drei bis vier Stunden auf der Bühne zu stehen, die richtigen Töne zu treffen und den Leuten eine gute Show zu bieten. Und wenn ich mir Tony Bennett ansehe, der das auch mit 85 hinkriegt, dann bin ich eigentlich guter Dinge, dass ich da noch ein paar Jahre vor mir habe. Zumal es ja nicht so ist, als ob ich kein Publikum mehr hätte. Sondern die Leute scheinen mich weiterhin zu mögen. Und ich habe ja auch etwas Konkretes zu sagen. Ich gehe da raus, weil ich ihnen etwas mitteilen möchte, von dem ich denke, dass es wichtig ist.

Das wäre?
Ich will sie wachrütteln, ihnen die Augen öffnen und Anstöße geben. Schließlich läuft in diesem Land so viel falsch, dass es höchste Zeit wird, dass wir etwas dagegen tun. Und mit „wir“ meine ich nicht unsere Politiker, die schon seit Jahrzehnten durch völlige Inkompetenz und Lethargie glänzen, sondern die Menschen in diesem Land, in den USA. Sie müssen die Ärmel hochkrempeln und etwas gegen die eklatanten Missstände tun, die sich da offenbaren – die sinnlosen Kriegseinsätze, die Wirtschaftskrise, die soziale Ungerechtigkeit, die immer größere Kluft zwischen Arm und Reich und vieles mehr. Was das betrifft, hat die Politik versagt. Sie hat keinerlei Kompetenz oder Verantwortung gezeigt, sondern sich einfach selbst bereichert. Auf ganz schamlose und widerwärtige Weise.

Springsteen Pressekonferenz @ Yann Orhan (1)Das klingt ziemlich bissig und wütend…
Das soll es auch sein. Ich bin schließlich angepisst. Sehr sogar. Und ich habe kein Problem damit, meine Meinung zu sagen: Es ist einfach unverantwortlich, wie sich einige Menschen gegenüber der Allgemeinheit verhalten. Und die müssen endlich zur Verantwortung gezogen werden.

Weil sich die Reichen und Mächtigen der USA – um den Albumtitel zu bemühen – am „Wrecking Ball“, an der Abrissbirne von Rechts, vergangen haben?
Ganz genau. Sie haben alles, was dieses Land so lebenswert gemacht hat, in Schutt und Asche verwandelt, aus blühenden Wiesen und historischen Gebäuden Parkplätze gemacht und dabei – auf Kosten der Allgemeinheit – richtig abkassiert. Wobei ich mich frage, wie es soweit kommen konnte und warum sie niemand aufgehalten hat. Das ist es, was ich nicht verstehe, und von dem ich mir wünsche, dass sich da möglichst bald etwas ändert.

Demnach sind Stücke wie ›We Take Care Of Our Own‹ so etwas wie mentale Brandbeschleuniger?
(lacht) Ja, ich mache den Leuten Feuer unterm Hintern – damit sie endlich aktiv werden. Zumindest hoffe ich das…

Wäre das ein Lösungsansatz – mehr individuelle Verantwortung, mehr Zivilcourage?
Zumindest ist es das, was ich für einen Ausweg halte. Und was ich meinem Publikum sage. Einfach, weil ich wütend bin – genau wie sie. Ich bin ein 62-jähriger Familienvater aus New Jersey, der es nicht fassen kann, was da passiert. Der die Hände über dem Kopf zusammenschlägt und genauso hilflos dasteht wie alle anderen. Aber: Ich habe die Musik. Was mir die Möglichkeit gibt, meine Gedanken zu formulieren und öffentlich zu machen. Und das tue ich, weil ich es muss. Weil sich das in mir aufstaut und ich es nicht in mich hineinfressen, sondern loswerden will. In der Hoffnung, dass es jemanden erreicht, der genauso denkt und fühlt wie ich.

Wobei du zum ersten Mal seit 15 Jahren nicht mit deinem Stammproduzenten Brendan O´Brien gearbeitet hast. Wie kommt´s?
Ganz einfach: Er war beschäftigt. Denn natürlich habe ich ihn gefragt, aber er war nicht verfügbar. Was jedoch nicht schlimm ist. Ich meine, ich hatte ja erst gar nicht vor, diese Art von Album zu machen, sondern habe an etwas ganz anderem gearbeitet. Nämlich einer reinen Akustik-Platte, die sich aber nicht so entwickelt hat, wie ich mir das vorgestellt habe. Sprich: Ich konnte sie nicht fertig stellen, weil irgendetwas fehlte. Ich weiß bis heute nicht, was es war, aber es schien irgendwie nicht komplett.

Worauf meine Frau meinte, ich solle doch mal diesen Typen anrufen, der ihre Platten betreut: Ron Aniello. Er schaute dann auch tatsächlich vorbei, um mir ein bisschen zu helfen und ein paar frische Impulse zu geben. Dabei sind dann einige komplett neue Songs entstanden, die sehr frisch und sehr spannend klangen und in eine völlig andere Richtung gingen. Eine, die mir sehr gefiel. Also habe ich Nägel mit Köpfen gemacht und das alte Material verworfen, um Platz für neues zu schaffen. Was nicht das erste Mal ist, dass ich das tue. Und ich hatte das Gefühl, dass es wichtig ist, noch einmal von vorne anzufangen. Wobei mir Ron allein dadurch geholfen hat, dass er über diese riesige Bibliothek an Sounds verfügt, die von elektronischen Sachen bis zu HipHop-Beats reicht. Wir haben etliche davon eingesetzt und mit Samples gearbeitet, was eine ganz neue Erfahrung für mich war – eine überaus positive, weil das Ganze dadurch viel atmosphärischer und dichter geworden ist.

Klingt, als hätte die moderne Technik bei dir Einzug gehalten?
So ungefähr. Denn es sind ja nicht ich und die Band, die im Studio stehen und jammen, sondern ich baue da ein Album mit einem Produzenten. Sprich: Es sind Ron und ich – und zwar bei mir Zuhause. Dabei fingen alle Songs als Folk-Nummern mit akustischer Gitarre an – das war es, was ich ursprünglich vorhatte. Doch dann haben wir halt alles andere darüber gelegt – Schicht für Schicht. Was nicht heißt, dass es besser oder schlechter ist als das, was ich mit Brendan hinbekommen hätte. Aber es hat eine ganz andere Dynamik und einen vielschichtigeren Klang. Es ist so, als ob ich im Hier und Jetzt angekommen wäre. Wonach ich aber nie gestrebt habe. Im Sinne von: Ich wollte technisch nie auf der Höhe der Zeit sein, sondern vor allem gute Musik machen. Und diesen Ansatz verfolge ich immer noch.

Wen hast du an Gästen oder an externen Musikern dabei?
Tom Morello von Rage Against The Machine, der ein guter Freund von mir ist und dessen Nightwatchman-Projekt ich einfach toll finde. Er hat Gitarre bei ›This Depression‹ und ›Jack Of All Trades‹ gespielt. Suzy und meine Frau Patti haben gesungen, Max hat bei einem Stück mitgewirkt, Clarence ist auf ›Land Of Hope And Dreams‹ dabei. Keine Ahnung, ob ich jetzt noch jemanden vergessen habe. Ich denke, das war’s.

Wobei das Ergebnis an eine Mischung aus Stadionrock und den folkigen SEEGER SESSIONS von 2006 erinnert – wenn auch mit einem stark militaristischen Unterton.
Richtig. Es erinnert an die Marschmusik aus dem Bürgerkrieg – weil es damals wie heute um die Zukunft des Landes geht. Eben um unser aller Freiheit wie Glück. Kann sein, dass das ein bisschen dramatisch klingt, aber ich finde, man kann es gar nicht krass genug formulieren. Denn es soll ja etwas bewirken. Es soll eine Reaktion auslösen.

Eine Revolution?
Oder zumindest ein kollektives Umdenken. Ich meine, ich will keine Anarchie in dem Sinne, dass ich die Demokratie und die bestehende Ordnung abschaffen will. Aber ich möchte doch, dass vieles anders gemacht und neu geregelt wird. Wozu ein neues Wahlrecht, eine gerechtere Besteuerung und eine Gesetzgebung gegen skrupellose Manager gehören. Ich wünsche mir einfach ein faires Amerika. Eines, das wir vielleicht mal hatten. Eben das Land mit dem „Traum“ vom schnellen gesellschaftlichen Aufstieg, von persönlicher Freiheit und Selbstverwirklichung. Der ist nicht mehr existent – weil diejenigen, die ihn für sich verwirklicht haben, gierig geworden sind und alle Türen hinter sich zugeschlagen haben. Aus Angst vor Nachzüglern und um ihre Position. Dagegen muss etwas getan werden – weil das nicht OK ist, weil es die Ideale unseres Landes in ihren Grundfesten zerstört.

Springsteen Pressekonferenz @ Yann Orhan (2)Welche Rolle übernimmst du dabei? Und welche Ambitionen verfolgst du mit deinem Engagement?
Ich bin Musiker. Mehr nicht. Und als solcher vergleiche ich das aktuelle Amerika, in dem ich lebe, mit dem Amerika, das es eigentlich sein sollte. Mit dem „home of the brave“, dem „land of the free“ und „God’s own country“ – all diese mystischen Begriffe, die ja quasi in unserer Verfassung verankert sind. Das ist meine Aufgabe, wenn man so will. Und es ist das, was ich mein Leben lang getan habe – weil Rockmusik ein gutes Ventil für Wut ist. So lange ich mich damit befasse, werde ich auch diesem Ansatz folgen. Wobei ich aber nicht predige und nicht mit dem Zeigefinger auf bestimmte Leute zeige, sondern versuche, Anstöße zu geben, wachzurütteln und Türen zu öffnen. Eben Türen zu einem besseren Amerika und zu einer besseren Welt. Denn dass die nicht perfekt ist, dürfte eigentlich jedem klar sein. Auch denjenigen, die sich daran bereichern.

Kannst du dich demnach mit der Occupy-Bewegung identifizieren?
Voll und ganz! Ich meine, ich weiß nicht, wie sie sich weiterentwickelt und ob sie ihre Ansprüche und ihr Vorgehen auf Dauer aufrechterhalten kann. Denn seien wir ehrlich: Sie steht massiv unter Beschuss und zwar von mächtigen, reaktionären Kräften, denen sie ein Dorn im Auge ist, und die alles tun, um sie unschädlich zu machen. Deshalb auch diese Gerüchte von wegen Drogenkonsum, Vergewaltigung und Vandalismus, die nicht zuletzt auf einer gezielten negativen PR-Kampagne und vielleicht auch einer systematischen Unterwanderung durch V-Leute basiert. Ich weiß es nicht genau, aber ich traue gewissen Leuten in diesem Land nahezu alles zu, um ihre Position zu schützen. Dabei ist Occupy die erste richtige Bürgerrechtsbewegung seit den 60ern. Es ist das erste Mal, dass ganz normale Menschen auf die Straße gehen, um für ihre Ansichten zu kämpfen, sich gegen bestehende Missstände zu wehren und ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Was meiner Meinung nach überfällig war – so etwas musste endlich wieder passieren. Das amerikanische Volk hat sich jahrzehntelang einlullen lassen und in falscher Sicherheit gewogen. Eben, dass alles OK ist, die Regierung das Beste tut und die Interessen der Bevölkerung oberste Priorität genießen. Was aber nicht der Fall war. Sondern man hat die Menschen via Konsum, Propaganda und falschen Versprechen mutwil-lig getäuscht. Man hat sie nach allen Regeln der Kunst betrogen und belogen. Und zwar nicht erst unter Bush. Doch da wurde es so offensichtlich, dass auch der letzte erkannte: „Moment mal, hier stimmt etwas nicht.“ Trotzdem haben sie sich dann wieder von der Tea Party und neuen rechten Demagogen einfangen lassen – und glauben nun eine Stimme gefunden zu haben, die aber genauso manipuliert wird. Denn die Rechte hat sich auf das neue Klima eingestellt und versucht sich die Wünsche und Träume der Menschen auf neue Weise zu eigen zu machen. Ich meine, heute stellt sich zum Beispiel Newt Gingrich hin und be-schimpft Mitt Romney als kapitalistischen Geier. Was schon fast wieder komisch ist. Nur: Diese Terminologie hätte er früher nie verwendet. Das ist ein ganz klares Zugeständnis an Occupy und an ein neues öffentliches Denken, das mir per-sönlich sehr viel Mut macht.

Was ist mit Obama, den du 2008 im Wahlkampf unterstützt hast? Hat er deine Erwartungen erfüllt?
Das hat er – weil mir von vornherein klar war, dass er gegen einen übermächtigen Feind kämpft und längst nicht alles erreichen kann, was er sich vornimmt. Aber: Er hat Sachen geschafft, die Bush komplett ignoriert hat. Er hat das Gesundheitssystem reformiert, was die Kassen prompt zu absurden Beitragserhöhungen genutzt haben. Er hat General Motors gerettet und den Abzug aus Afghanistan und dem Irak eingeleitet. Dafür ist es ihm aber nicht gelungen, Guantanamo zu schließen, was ich bis heute nicht verstehe. Er hat diesen Dieben von der Wall Street keinen echten Riegel vorgeschoben. Und er hat seine ehrgeizigen Pläne im Bezug auf Umweltschutz und erneuerbare Energie unter den Tisch fallen lassen, was ich sehr bedauerlich finde. Nur ganz ehrlich: Es gibt leider niemanden, der anders oder besser wäre als er. Sondern jeder Politiker passt sich den Gegebenheiten an und geht permanente Kompromisse ein. Da wären die Republikaner kein bisschen besser. Mehr noch: Sie haben ja nicht mal einen halbwegs akzeptablen Kandidaten. Jemanden, der auch nur einen Hauch von Führungspersönlichkeit besitzt. Sondern das sind alles Witzfiguren und Marionetten. Es wäre peinlich für Amerika, wenn sie das oberste Amt im Staat belegen sollten.

Heißt das, du unterstützt den Präsidenten auch bei seiner nächsten Kandidatur?
Ich glaube, ich werde so schnell für niemanden mehr eintreten. Einfach, weil ich mich ein bisschen ausgenutzt und missbraucht fühle. Ich meine, ich habe mich 2004 für John Kerry engagiert, weil man mich gefragt hat, und weil ich es für wichtig hielt, dass Bush nicht noch weitere vier Jahre im Amt bleibt. Darum ging es auch 2008 – es war allerhöchste Zeit für einen Wechsel. Und deshalb habe ich mich dafür stark gemacht, dass er eintritt. Aber eben nicht, weil ich ein persönlicher Freund von Obama wäre oder die De-mokraten per se unterstütze. Ich habe lediglich meine Meinung gesagt. Genau wie ich es auch heute wieder tue. Aber ich werde mich nicht noch einmal für irgendwen oder irgendwas einspannen lassen. Denn das wird ständig versucht. Die unterschiedlichsten Gruppen wollen dich für ihre Zwecke gewinnen und damit auf Stimmenfang gehen. Nach dem Motto: „Bruce Springsteen unterstützt dies oder das – und das solltest auch du tun.“ Was grundlegend falsch ist. Und deswegen ›We Take Care Of Our Own‹ – weil endlich jeder nach seiner eigenen Überzeugung und seinen eigenen Vorstellungen reagieren und sich von nichts und niemandem einspannen lassen soll. Denkt endlich selbst, werdet aktiv, ändert was. Aber nicht: Wählt xyz, und alles wird besser. Das erinnert mich zu sehr an die katholische Kirche…

Mit der du aufgewachsen bist. Ein traumatisches Erlebnis?
Oh ja, das Haus meiner Eltern stand direkt neben einer Kirche. Was bedeutet: Ich habe alle Trauungen, Beerdigungen und Gottesdienste mitgemacht und eine strenge Erziehung genossen. Wobei man mir eine regelrechte Gehirnwäsche verpasst hat, unter der ich bis heute leide. Deshalb verwende ich in meinen Texten oft biblische Metaphern. Eben, weil ich gar nicht anders kann. Es ist wie bei Al Pacino in „The Godfather“: Ich versuche da auszubrechen, werde aber immer wieder zurückgezogen – weil das so tief in mir verwurzelt ist und ich sie nicht loswerde. Genau wie viele Amerikaner aus der Arbeiterklasse und der Mittelschicht. Wir sind so vollgepumpt mit Schuldgefühlen, dass wir wahnsinnige Probleme mit unserer Sexualität haben. (lacht) Einmal katholisch, immer katholisch. Und das äußert sich auch in unserem politischen Bewusstsein – indem wir nur folgen statt selbst aktiv zu werden.

Aber als Rockstar mit 120 Millionen verkaufter Alben bist du doch weder Arbeiterklasse noch Mittelschicht, sondern zählst eher zu den oberen Zehntausend, zu dem berühmten „ein Prozent“?
Das stimmt. Ich schlafe in einem verdammt großen und sehr bequemen Bett, und mir mangelt es an nichts. Aber trotzdem habe ich ein Gewissen und ein Bewusstsein. Ich sehe diesen ganzen Blödsinn, der um mich herum passiert, und habe das Bedürfnis, mich zu wehren bzw. meine Meinung zu sagen. Das ist schließlich etwas, das ich von meinen musikalischen Vorbildern wie Bob Dylan und Woody Guthrie gelernt habe. Eben, dass man sich nicht zurücknehmen, nicht anpassen oder gar verstecken darf, sondern sich ganz gezielt an sein Publikum wendet. Also um Türen zu öffnen, um Wissen und Erkenntnisse zu vermitteln. Eben, damit es „klick“ bei ihnen macht. Damit auch sie aufwachen und nach etwas anderem streben. Das ist so etwas wie die Jobbeschreibung eines Musikers: Gib den Leuten etwas, das sie im Leben weiterbringt. Und darin sehe ich meine Aufgabe – selbst, wenn ich in einem bequemen Bett schlafe. Rock’n’Roll ist schließlich harte Arbeit. (lacht)

Bruce Springsteen 2012e @ Danny ClinchWie steht es mit politischen Ambitionen? Könnte sich Bruce Springsteen vorstellen, selbst einmal ein öffentliches Amt zu bekleiden? Etwa als Gouverneur von New Jersey?
Niemals! Daran habe ich kein Interesse. Einfach weil ich nicht glaube, dass ich sonderlich gut darin wäre. Und weil ich Politik für ein ziemlich schmutziges Geschäft halte. Ich denke, als Musiker kann ich viel mehr erreichen. Und viel ehrlicher zu mir sein. Ich möchte mit nichts und niemandem tauschen.

Nicht einmal mit Gitarrist Steven Van Zandt, der in deiner erklärten Lieblings-TV-Serie „The Sopranos“ den Nachtclubbesitzer Silvio Dante gegeben hat?
(lacht) Steven ist einfach brillant. Ich meine, ich wusste immer, dass er lustig ist und eine erstklassige Mafioso-Parodie hinkriegt, aber dass er so gut ist, hätte ich nie erwartet. Ich weiß noch, als ich ihn das erste Mal im Fernsehen gesehen habe und es gar nicht glauben konnte, wie er da aussieht und was er von sich gibt. Das war zum Totlachen, und ich denke, dass ich wirklich jede einzelne Folge der Sopranos gesehen habe – einfach, weil ich die Serie so toll finde. Eine Zeit lang war es sogar das Ein-zige, was wir auf Tour mit der E Street Band gemacht haben: Wir haben uns das gemeinsam angeschaut, genauso gesprochen, uns Perücken aufgesetzt und Poker gespielt. Ein Riesenspaß. Ich wurde auch mal gefragt, ob ich Lust auf ei-nen Gastauftritt hätte. Nur: Ich habe mich nicht getraut. Eben, weil ich kein Schauspieler bin und nicht glaube, dass ich mich in meiner Lieblingsserie sehen möchte. Das könnte sie für immer ruinieren.

Und wie stehen deine Kinder zu deiner Musik? Halten sie Bruce Springsteen für cool?
Na ja, ich denke sie wissen sie schon zu schätzen. Hoffe ich zumindest. Sie haben ihre Mutter und mich ja schon oft genug im Studio wie auf der Bühne erlebt. Als Teenager haben sie uns sogar mal auf Tour begleitet und fanden das – glaube ich – auch sehr spannend. Nur mittlerweile sind sie ein bisschen älter, führen ihr eigenes Leben und lieben ihre eigene Musik. Mein Ältester ist zum Beispiel 21, geht aufs College und hört Sachen wie Rise Against, Gaslight Anthem, Kings Of Leon und Mumford & Sons. Womit ich durchaus etwas anfangen kann. Und wir waren auch schon zusammen bei einigen Gigs, was ich sehr genossen habe. Ich meine, es hält mich auf dem Laufenden und zeigt mir gleichzeitig, dass sich eigentlich nichts verändert hat: Jede Generation hat ihre Version von Rock’n’ Roll, aber im Grunde ist es immer dasselbe, nur in anderer Verpackung. Und meine Helden hatten definitiv nicht so viele Tattoos wie heute.

Aber er schämt sich nicht für seinen Vater, oder?
Warum sollte er? Ich bezahle ihm schließlich das College und gebe ihm alles, was er will – und was ich nie hatte. Ich kümmer mich um ihn und die anderen beiden. Ich habe immer ein offenes Ohr und versuche es anders zu machen als mein Vater, der nie für mich da war. Nur: Ich kann verstehen, dass es komisch für sie sein muss, wenn sie mich vor 50.000 Menschen erleben, die mir zujubeln. Vermutlich hätte ich es an ihrer Stelle auch lieber, wenn jemand buhen würde. (lacht) Nach dem Motto: „Geigt dem Alten da oben endlich mal die Meinung.“ Das ist einfach so.

Also kindliches Rebellentum?
Ganz genau. Und ich meine, bei mir war es ja noch schlimmer. Ich habe offen gegen meinen Background rebelliert, viele Sachen getan, auf die ich heute so gar nicht stolz bin, und bin dafür auch öfter mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Ich war ein Rumtreiber, ein Taugenichts, der sich bewusst mit allen angelegt und allem verweigert hat – von der Armee bis zu einer Berufsausbildung. Ich hatte wirklich nur die Musik, und die war alles für mich. Ich meine, die ersten 20 Jahre meines Lebens habe ich nur damit verbracht, Bier zu trinken, Songs zu schreiben und darüber zu diskutieren, wer der größte Rock’n’Roller ist – Elvis, Dylan oder John Lennon. Darüber hatten Steven und ich endlos lamentiert. Aber schau, was aus uns geworden ist: Heute sind wir über 60, schreiben immer noch Songs und führen immer noch dieselben Diskussionen – nur, dass wir richtig Geld damit verdienen. Irre, oder?

- Advertisement -
Vorheriger Artikel
Nächster Artikel

Weiterlesen

Vic Flick: James-Bond-Gitarrist gestorben

Der renommierte britische Session-Musiker Vic Flick verstarb im Alter von 87 Jahren Seine Finger waren für eine der bekanntesten Melodien der Popkultur verantwortlich, aber seinen...

Ulrich Ellison: Ein Grazer in Texas

Videopremiere: Der in Austin gefeierte Österreicher veröffentlicht heute sein neues Album Ein Texaner mit Vornamen Ulrich? Klingt ungewöhnlich - und das ist es auch. Geboren...

Midland: Raus aus der Komfortzone und auf die Bühne des C2C

Das lässige US-Country-Rocktrio äußert sich im Interview zum neuen Album und zum anstehenden Auftritt beim "Country To Country"-Festival in Berlin. Vom 07. bis zum 09....

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

- Advertisment -

Welcome

Install
×