Daltrey, Townshend & Co. zelebrieren ihren Mythos
„Come on the amazing journey and learn all you should know!“ So heißt es in ›Amazing Journey‹, einem der Schlüsseltracks von TOMMY – die Zeile taugt als Motto für diese rund 140 Minuten in der brütend heißen und mit zehntausend Menschen gesteckt vollen Stuttgarter Schleyerhalle. Zwar haben die meisten der mehrheitlich ergrauten Konzertbesucher in diesem Leben nicht mehr allzu viel zu lernen, wer jedoch einen gerafften Überblick über das haben mochte, was The Who bedeuten, wofür sie seit fünf Jahrzehnten stehen und wie sie die bis heute gültige DNA der Rockmusik geprägt haben, der war an diesem Abend und an diesem Ort genau richtig aufgehoben.
In prächtiger Spiellaune und offenbar bester körperlicher Verfassung präsentieren Pete Townshend (71) und Roger Daltrey (72) einen Querschnitt der kreativen Who-Geschichte (auch wenn Letzterer in unglücklichen Momenten inzwischen optisch an den späten Dieter Thomas Heck erinnert). Begleitet von den seit Jahren bewährten Sidemen Zak Starkey (Drums), Pino Palladino (Bass), Simon Townshend (Gitarre) sowie drei Keyboardern, eröffnen die Londoner ihren Set mit ›Who Are You‹, gefolgt von einem aggressiven 60s-Block (mit ›The Kids Are Alright‹, ›My Generation‹ und ›I Can See For Miles‹).
Next Stop: das legendäre LIFEHOUSE-Projekt, dem der Albumklassiker WHO’S NEXT entsprang, gekrönt von der selten live gespielten 1972er-Single ›Join Together‹. Die folgende Stunde bleibt den Konzeptwerken QUADROPHENIA und TOMMY vorenthalten.
Emotionaler Höhepunkt: die grandiose Lesung von ›Love, Reign O’er Me‹. Zum Ende dann das unverwüstliche ›Baba O’Riley‹ und, natürlich, ›Won’t Get Fooled Again‹ mit fahrig verdaddeltem Finale. Egal, eine Prise Chaos gehört zur amtlichen The-Who-Experience nun mal dazu.
Das Beeindruckende an diesem Abend ist indes der Umstand, dass diese beiden alten Fahrensmänner nicht nur eine über alle Zweifel erhabene Performance liefern, sondern darüber hinaus durch die subtile Songauswahl mit Juwelen wie ›Behind Blue Eyes‹, ›Relay‹ und ›I’m One‹ auch Townshends alte Leitthemen – Kindheitstraumata, Selbstzweifel und nicht zuletzt der virtuelle Totalitarismus, den er schon in LIFEHOUSE prophezeite – wie einen Roten Faden in den Abend einflechten.
Eine weitere Zeile aus ›Amazing Journey‹ lautet: „Each sensation makes a note in my symphony“. Wohl wahr, ein Repertoire voller Sensationen, ein Gesamtwerk wie eine Symphonie, eine Setlist, die diesen Mythos dynamisch und klug erzählt. Und zwei Veteranen, die mit sich und ihrer Kunst im Reinen sind. Prädikat: Historisch!