Eigentlich schienen Jim Kerr und Charlie Burchill, der kreative Nukleus der Simple Minds, ihren Zenit überschritten zu haben. Doch pünktlich zum 40. Dienstjubiläum erleben die Schotten einen unverhofften zweiten Frühling.
Weltenbummler, Fußballfanatiker, Gastronom und Sänger: Jim Kerr ist seit Ende der 70er-Jahre im Geschäft, hat sämtliche Höhen wie Tiefen erlebt, war mal mega-angesagt und plötzlich mega-out. Trotzdem hat er längst nicht genug – selbst wenn die aktuelle Renaissance seiner Band mit gesteigertem Kulturpessimismus einhergeht. Denn mit der Moderne – musikalisch, gesellschaftlich, politisch – hat der 58-jährige durchaus Probleme. Im CLASSIC ROCK-Gespräch erklärt er, warum.
Jim, das neue Album trägt den Titel WALK BETWEEN WORLDS. Da stellt sich die Frage: Wie siehst du die heutige Welt – wie hat sie sich in den letzten 40 Jahren verändert?
Sie ist wieder sehr polarisiert. Was ich nie für möglich gehalten hätte. Denn meine Generation hat erlebt, wie die Berliner Mauer gefallen und alles näher zusammengerückt ist. Es schien, als hätten die Menschen durch das Internet einen besseren Draht zueinander gefunden. Aber wenn man sich die Gegenwart anschaut – die politische und soziale Landschaft –, sieht das wieder ziemlich gespalten aus.
Also hat das Internet einen negativen Effekt auf die Menschen – als Plattform für Meinungsmache, für Wut und Hass?
Das stimmt! Es ermöglicht uns, miteinander in Kontakt zu treten, um zu streiten. (kichert) Man muss sich nur die Kommentare anschauen, die am Ende irgendwelcher Online-Artikel auftauchen – da kämpfen die Leute regelrecht gegeneinander. Ich meine, man kann das als „gegensätzliche Meinungen“ auslegen, aber das Maß an Wut und an Beleidigungen, das man da sieht, ist extrem.
Hat das mit einem Mangel an Bildung und Weitsicht zu tun? Müssten die Leute mehr reisen, um ihren Horizont zu erweitern – so wie du es seit fünf Dekaden tust?
Was das betrifft, schätzen Charlie und ich uns glücklich. Hättest du uns vor 40 Jahren gefragt: „Was ist euer Ziel? Was wollt ihr mit der Band erreichen?“, hätten wir bestimmt nicht von Ruhm, Reichtum und Wohlstand geredet. Einfach, weil wir gar nicht in solchen Dimensionen gedacht haben. Sondern wir hätten geantwortet: „Wir wollen Songs schreiben, um die Welt reisen und eine großartige Live-Band werden.“ 40 Jahre später haben wir das nicht nur erreicht – wir praktizieren es noch immer. Und wir führen ein umwerfendes Leben. Allein durch das Reisen haben wir mehr Weitsicht erlangt, als es den meisten Menschen vergönnt ist.
Das sind ziemlich tiefgründige Gedanken für eine Band, die sich Simple Minds – schlichte Gemüter – nennt.
Das Lustige daran ist, dass ich den Namen lange nicht mochte. Im Sinne von: Warum haben wir den bloß gewählt? Denn es ist doch so: Jemand mit einem einfachen Geist ist ein Idiot oder ein Schwachkopf. Nimmt man dagegen die östlichen Philosophien, ist das höchste Level von Intelligenz die Simplizität. Deshalb ist das für viele das neue Nirvana in dieser komplizierten Welt. Sie suchen nach Simplizität in allem, was sie tun – oder nach Erleuchtung. Von daher hat sogar unser Name etwas von zwei Welten – ironischerweise.
Gleichzeitig, und auch das ist Ironie, hast du deine Heimat Glasgow nie verlassen. Warum?
Wie heißt es so schön: Der Lachs kehrt immer zurück. (lacht) Und dann stirbt er! (lacht) Aber Schottland ist toll – und Glasgow ist auch nicht schlecht. Aus dem einfachen Grund, weil es dort keine Milliardäre gibt und dir das Geld nicht ins Gesicht springt. Natürlich gibt es reiche Menschen, und wahrscheinlich gehöre ich sogar dazu. Aber hier dreht sich nicht alles ums Geld. Die Leute geben es einfach aus – egal, wie wenig sie haben. Sie genießen das Leben – sie stehen auf Kunst, Rock’n’Roll und Fußball. Das Tolle ist: Wenn man die Stadt verlässt und eine halbe Stunde nach Norden fährt, ist man sprichwörtlich auf dem Mars. Da ist keine Menschenseele. Und das mag ich.
Ist es das, was du in deiner Freizeit tust – du gehst wandern?
Immer. Wenn ich in Schottland oder auf Sizilien, meiner zweiten Heimat, bin, fliehe ich in die Natur. Wobei ich feststelle, dass ich das immer öfter tue. Und dass es mir ein gutes Gefühl gibt.
›Magic‹, die erste Single des Albums, dreht sich um den Ehrgeiz der Jugend und wie man ihn sich bewahrt. Verrätst du uns, was dich nach all den Jahren noch antreibt, Musik zu machen?
Als ich jung war, hatte ich eine Menge Ehrgeiz. Und ich war auch in der Situation, dass ich ihn wiederfinden musste. Denn unsere Karriere war nicht immer toll. Es war ein Auf und Ab. Es gab Zeiten, in denen wir voller Ideen waren. Und andere, in denen wir dachten: „Das war’s. Es ist vorbei.“ Dann sucht man nach Inspiration und hofft, dass die alte Magie zurückkehrt. Selbst, wenn man nicht weiß, worin sie besteht.