Es gibt zurzeit wohl keine andere Nachwuchs-Band, die es schafft, mehrmals in der Londoner Royal Albert Hall aufzutreten, im Vorprogramm von Joe Bonamassa zu rocken und außerdem namhafte Fans aus den Reihen der Rolling Stones- oder Led Zeppelin-Mannschaft auf ihrer Habenseite zu verbuchen.
Lynne Jackaman und ihre Mitstreiter können das. Die Londoner um die Frontfrau mit der üppigen Mähne sind der zurzeit heißeste Act, den Rock-England zu bieten hat. Die 2005 von Jackaman und Gitarrist Adam Greene gegründete Band verhält sich auf der Bühne so wie eine Stange Dynamit, die gerade in Brand gesteckt worden ist: Sie zischt, glüht, sprüht Funken und explodiert schließlich mit einer Wucht, die einen von den Beinen reißt.
Das gilt nicht nur in der Live-Situation, sondern auch auf Platte, wie ihr gerade erschienenes Album DIARY OF A SOUL FIEND beweist. Rolling Stones-Produzent Chris Kimsey beispielsweise sagt, dass ihre Musik klingt, als würde eine „Janis Joplin anno 2010 die Faces anführen“. Wahre Worte, die auch der Frontfrau schmeicheln. „Nun, wen würde es nicht freuen, wenn jemand so etwas über ihn sagt“, sagt sie mit strahlenden Augen. „Interessanterweise bin ich aber nicht mit der Musik von Janis Joplin aufgewachsen, meine Eltern standen nämlich auf den Motown-Sound. Als Zehnjährige bekam ich Gitarrenunterricht, doch ich hatte nicht so viel Lust darauf, also erzählte ich meinem Lehrer, dass ich lieber singen möchte. Das tat ich dann auch. Mit 16 war ich Mitglied einer Soul-Band, mit der wir Songs von Otis Redding oder Aretha Franklin spielten. Dabei habe ich jede Menge gelernt.“
Besonders Franklin ist bis heute ihr Idol geblieben – was auch auf dem Saint Jude-Debüt deutlich durchkommt. Grollender Zorn prallt auf süße, in Bourbon ertränkte Soul-Momente – ein Spagat, den nur eine Sängerin mit einer extrem ausdrucksstarken Stimme mühelos und ohne Bruch hinbekommt.
Im Verlauf der ausgedehnten Touren, die Saint Jude in den vergangenen Jahren unternommen haben und mit denen sie sich in unserem Nachbarland Holland schon einen Namen machen konnten, ist das Zusammenspiel der Musiker besser und besser geworden. Inzwischen sind Saint Jude so gut, dass sie sogar für die Waterboys in der Royal Albert Hall eröffnen durften. Ein außergewöhnlicher Gig, in jeder Hinsicht: „Adam kam vor dem Auftritt zu mir“, erinnert sich Lynne, „und sagte: ,Jimmy Page ist im Publikum, er sitzt in einer Box auf den oberen Rängen! Aber bitte flipp deswegen nicht aus!’ Das hätte er besser nicht erwähnt, denn wir mussten wenige Minuten später auf die Bühne. Ich habe mir fast in die Hose gemacht. Doch dann wurde mir klar, dass ich keine Angst haben muss – schließlich ist das mein Publikum. Und das wollte ich auf keinen Fall enttäuschen. Also habe ich die Nervosität so weit es geht verdrängt und mich auf den Gig konzentriert. Und siehe da – es hat geklappt und mich sogar noch stärker gemacht. Jim-my Page kam nach der Show in die Umkleide, war sehr höflich und hat uns sogar angeboten, gemeinsam mit uns an einem Track zu arbeiten. Mal sehen, was daraus wird.“
Zudem hatten Saint Jude in derselben Halle das erste (aber wohl nicht das letzte) Mal die Gelegenheit, mit Ronnie Wood zu jammen. „Ronnie kannte Adam, die beiden hatten sich schon ein paar Mal getroffen“, berichtet die Sängerin. „Daher kam er zu unserer Show – und war total begeistert. Bei unserem nächsten Auftritt überraschte er uns dann. Ronnie stand mitten im Song ›Angel‹ plötzlich neben uns und spielte mit. Das war großartig! Ich hatte das Gefühl, dass er unsere Musik wirklich mag und respektiert.“