Beinahe kein Künstler hat den Brit Pop derart geprägt wie Paul Weller. Viele behaupten sogar, er hätte ihn erfunden. Doch obwohl Weller natürlich stolz auf seine vergangenen Erfolge ist, möchte er sich nicht auf diesen ausruhen, sondern mit konstanter Qualität glänzen. Dass er das problemlos schafft, beweist auch sein neuestes Werk SONIK KICKS.
Seinen Spitznamen „Modfather“ hört Paul Weller nicht gern. Das Wort an sich ist es nicht, was ihn stört. Denn Auszeichnungen wie diese füttern ja durchaus seine Eitelkeit. Und die kann – mit Blick auf seine tadellose Garderobe – nicht eben unterentwickelt sein. Nein, es ist der Beigeschmack von Retrospektive, schlimmer noch: von Nostalgie, den er so ungern mit sich in Beziehung stellt. Denn zu einem wirklich eitlen Künstler gehört, dass er jederzeit – sprich: J-E-D-E-R-Z-E-I-T – hohes Ansehen genießt. Also auch und vor allem in der Gegenwart. Das Wort „Modfather“ hingegen stammt noch aus einer früheren Epoche. The Jam, Style Council, erfolgreiche Soloscheiben – Weller hat ab 1977 kräftig mit geschraubt am großen Rad, das sich da Brit Rock nennt und nach The Jam unter anderem so groß-artige Bands wie Oasis an die Oberfläche gespült hat. „Die Gallagher-Brüder sind liebenswürdige Jungs, beide“, behauptet Weller und betont das Wort „both“, also „beide“, mit einer so unmissverständlichen Deutlichkeit, dass eines klar wird: Er, Weller, ist mit Noel und Liam befreundet, egal wie unversöhnlich sich die beiden exzentrischen Ge-schwister wieder mal in den Haaren liegen.
> Unter Freunden
Kein Wunder, denn erst kürzlich kreierte er für Liam und dessen aufstrebende Modemarke Pretty Green eine erste eigene Kollektion. Fortsetzung nicht ausgeschlossen. Und Noel, der gemeinhin als der besonnenere der Gallagher-Brüder gilt, vor allem aber als der bessere Musiker, spielt auf seinem neuen Studioalbum SONIK KICKS. Weller nennt dieses Unterfangen „no big deal“, zumindest wenn es sich auf den organisatorischen Aufwand bezieht: „Ich rief ihn an, fragte, ob er Lust hat, und ein paar Tage später stand er schon bei mir im Studio. So wie das halt unter guten Freunden üblich ist.“ Mehr als nur einmal in ihrer nicht eben kleinlaut geführten Karriere erklärten Oasis, dass Paul Weller eines der größten Vorbilder ihrer Jugend gewesen sei. Nun also sind sie Kollegen, der ältere der beiden Zankhähne und der schnieke Weller. „Ich stellte ihm die gesamten Aufnahmen vor, und er durfte sich die Tracks auswählen, auf denen er spielen wollte.“ Also packte Noel Gitarre und Bass aus und öffnete sein schier endlos sprudelndes Füllhorn an Ideen. „Es war deutlich mehr als wir brauchten, aber so konnten wir aus vielen tollen Ideen auswählen. Ein echter Luxus.“ Als solchen empfindet Weller auch die Beiträge von Graham Coxon, dem Gitarristen und Mitbegründer von Blur. Coxon (übrigens 1969 in Niedersachsen geboren) spielte auf SONIK KICKS Orgel und Gitarre. Wir erinnern uns: Das Gerangel zwischen Blur und Oasis gilt als die Mutter aller Bandfehden. Bis zur Ankunft von Oasis waren Blur die unumstrittenen Pop-Könige in England, doch mit der aggressiven Öffentlichkeitsarbeit der Gallagher-Brüder und einigen wirklich beeindruckenden Singles schrumpfte der Vorsprung schnell zusammen. Auf dem Höhepunkt des Hahnenkampfes veröffentlichten beide Bands ihre aktuellen Singles am gleichen Tag. Punktsieger waren Blur (›Country House‹ landete auf Platz 1, ›Roll With It‹ von Oasis auf Platz 2), doch die anschließenden Albumverkäufe dokumentierten dann die wahren Sieger: Während (WHAT’S THE STORY) MORNING GLO-RY satte 15 Millionen Mal über die Ladentheke ging, schaffte das parallele Blur-Werk THE GREAT ESCAPE gerade mal zehn Prozent dieses Wertes.
Paul Weller beobachtete diese Hahnenkämpfe seinerzeit aus sicherer Distanz, lächelte als edler statesman des Brit Rock milde und beschloss, sich nicht auf eine der beiden Seiten zu schlagen. Deshalb ist er heute mit ihnen allen befreundet, mit Coxon und Damon Albarn ebenso wie mit Liam und Noel Gallagher. Dass untereinander nach wie vor spitze Giftpfeile ausgetauscht werden ist ihm ziemlich egal.
SONIK KICKS ist der direkte Nachfolger von WAKE UP THE NATION (2010), ein vergleichsweise wütendes Pamphlet über die gesellschaftlichen Auswüchse im dem seiner Meinung nach hoffnungslos saturierten England. Von einem politisch motivierten Album wollte Weller vor zwei Jahren zwar nicht sprechen („wenn, dann nur mit kleinem ,p‘ geschrieben“), sehr wohl aber von einem Werk voller sozialkritischer Aussagen. Das Antiraucher-Gesetz, Truppenstationierung in Krisengebieten, die immer flacher werdenden Botschaften in der zeitgemäßen Popmusik – England sei auf dem besten Weg, zu einem Volk meinungsloser Lemminge zu verkommen, die jedem Unsinn der Politiker teilnahmslos zunicken. Eigentlich hatte Weller für sich bereits in den Achtzigern das Ende politischer Schelte be-schlossen, doch angesichts der Kriege im Nahen Osten habe er sich einfach nicht mehr zurückhalten können. Für WAKE UP THE NATION wurde er zwar nicht – wie zwei Jahre zuvor bei 22 DREAMS (2008) – mit einem „Brit Award“ ausgezeichnet, aber es war ohne Zweifel dennoch das inhaltlich wichtigere Album.
Wo er dagegen SONIK KICKS einsortieren soll, weiß Weller momentan selbst noch nicht so genau. Wie üblich hatte er sein kleines Notizbüchlein immer eng am Körper ge-tragen, irgendwo an der gefühlten Stelle zwischen Kopf, Herz und Magen, die für einen Musiker wohl wichtigsten Körperteile. In dieses kleine Büchlein trägt er ständig seine Beobachtungen ein. Dinge, die ihm gefallen. Dinge, die ihn ärgern. Dinge, die sich prima als Textfragmente, als Überschriften oder wiederkehrende Allegorien verwenden lassen. Was sich dann im Laufe der Zeit zusammengetragen hat, findet Einzug in seine Lieder. Man könnte also sagen, dass SONIK KICKS das Leben des Paul W. (53) aus Surrey, England in den Jahren 2010 bis 2012 reflektiert? „Ja, könnte man“, so sein lakonischer Kommentar. Und wie ist sein Leben in den zurückliegenden zwei Jahren verlaufen? „Gegenfrage: Wie ist deines verlaufen? Was ich damit sagen will: Das Leben durchzieht ein ständiger Wechsel von Höhen und Tiefen, es hat romantische Momente, aber auch Situationen voller Wut oder Aufregung. Insofern sind einzelne Songs immer nur ein kurzer Schnappschuss von Situationen.“
Doch auch Schnappschüsse können vielsagend sein. Dass die vordergründig anheimelnde Nummer ›When Your Garden’s Overgrown‹ nicht nur vom Rosenzüchten und Unkrautjäten handelt, ist unüberhörbar. Und auch das anklagende ›Sleep Of The Serene‹ jagt mit seinen stechend-spitzen Streicherklängen bewusst Widerhaken in die Ohrmuscheln. Weller nennt SONIK KICKS „moderne psychedelische Musik“ und beschreibt sie als „klangliche Abenteuerreise ohne festes Konzept“. Mal sei es schroff und widerborstig, an anderer Stelle warm und romantisch. So hat er beispielsweise seine Tochter Leah (aus erster Ehe mit der Style Council-Sängerin Dee C. Lee) und Sohn Mac (den er mit seiner aktuellen Lebensgefährtin Hannah Andrews gezeugt hat) dazu animieren können, ihm bei ›Be Happy Children‹, einer anrührenden Ode an seinen verstorbenen Vater, zu helfen. „Es ist ein sehr optimistischer Song“, erläutert Weller, „er dokumentiert die unumstößlichen Gesetze unseres irdischen Daseins, den Kreislauf des Lebens, das ständige Kommen und Gehen.“
> Der Kreis schließt sich
Er selbst sieht sich in diesem Kreislauf erst auf halber Strecke angekommen. Höchstens. Die wilden Jahren von The Jam, der geschmeidige Soul Pop mit Style Council, als er mit ›Shout To The Top‹ an eben jener exponierten Stelle landete und sich und seine Songs in den Kontext großer Soul-Vorbilder stellen konnte. Später dann realisierte er mit UNDER THE INFLUENCE einen Sampler seiner bevorzugten Soul-Klassiker, von Little Richard über Charles Mingus bis zu den Blind Boys Of Alaba-ma, um mit LOST & FOUND – REAL R’N’B AND SOUL nachzulegen und darauf mit dem eigenwilligen Soul-DJ Keb Darge zu kooperieren. Der Schotte Darge gilt als einer der wichtigsten Vinyl-Sammler Englands, ein Hobby, dem auch Weller frönt. Allerdings geht Darge geradezu pedantisch vor und begutachtet viele seiner Schätze ausschließlich nach Kriterien von Seltenheit und Sammlerwert, während Weller – eben ein echter Musiker – seine Sammlung vorzugsweise unter geschmacklichen Gesichtspunkten vergrößert. Dass sich darunter auch Scheiben der Beatles befinden ist für Weller natürlich absolute Ehrensache. „Die Beatles sind der wichtigste Einfluss meiner Jugend“, verrät er, „von ihnen konnte man lernen, dass Musik niemals eindimensional sein darf. Bei den Beatles findet man avantgardistische Ansätze, aber auch reine Popmusik und romantische Songs.“ Romantik, so der Brite, sei quasi das Bindeglied zwischen Beatles, The Jam, Style Council und seinem neuesten Album. „Auch The Jam waren nicht ausschließlich ungehobelt und wild, sondern schrieben damals ebenso auch romantische Nummern wie beispielsweise ›English Rose‹.“
Es schließt sich demnach also ein Kreis mit SONIK KICKS – ein Werk, dem Weller auch das Attribut „nostalgisch“ zuordnet, neben allen anderen Umschreibungen, die seine Veröffentlichungen generell auszeichnen. „Es würde mich sehr schnell langweilen, wenn ich immer nur über das gleiche Thema singen müsste“, sagt Weller, „zumal mein natürlicher Impuls auf Vielschichtigkeit geeicht ist. Für meine Kreativität spielt es keine Rolle, ob ich einen Song aus Ärger, aus Sehnsucht, aus Liebe oder Kummer schreibe. Immer werden die gleichen Moleküle in meinem Körper angeregt: Leidenschaft, Hingabe, Kompromisslosigkeit.“
Von eben dieser Ausrichtung möchte er auch nicht abrücken, wenn es demnächst wieder auf Tournee geht. Das komplette Album wolle er spielen, auch wenn die Liste an Klassikern länger ist, als dass man sie an einem Abend allesamt abhandeln könnte. Doch Weller sieht sich anno 2012 auf einer Mission: „Es gibt in England zurzeit so viele Bands, die mit einem reinen Retrokonzept durch die Landen ziehen. Sie spielen ihre kompletten Alben von vor 20 Jahren, vergessen dabei aber, dass die Gegenwart viel wichtiger ist als die Vergangenheit. Ich werde deshalb den Spieß umdrehen: Die erste Hälfte der Show wird ausschließlich aus Nummern von SONIK KICKS bestehen. Man kann die zweite Hälfte dann ja immer noch dazu nutzen, die Songs zu spielen, die man von mir erwartet.“ Wobei: Erwartungen hat man an Weller nur hinsichtlich seiner Authentizität. Und die ist anno 2012 nicht geringer als in den zurückliegenden 35 Jahren.