Es gibt normalerweise zwei Meinungen über Scott Stapp: Die einen verachten ihn, die anderen verehren ihn. Die zweite Gruppe ist ziemlich groß, 24 Millionen Alben verkaufte seine Band Creed zu ihrer Hochzeit. Auch als Solokünstler hat der Mann aus Florida zahlreiche Fans, sein aktueller Wurf PROOF OF LIFE stieg auf Platz 37 in die Billboard-Charts ein, der Vorgänger THE GREAT DIVIDE (2005) erreichte Doppelplatin für mehr als zwei Million verkaufte Kopien. Seine Verächter kritisieren Stapps große Posen, sein Leben im Blitzlicht der Medien, seine irritierende Offenheit, mit der er seine Höhen und Tiefen ausleuchtet. Stapp rauchte in der Öffentlichkeit Zigarren, präsentierte seine Ehefrau(en) im TV, breitete seine persönlichsten Probleme nahezu rückhaltlos aus. Und für alle, die noch mehr wissen wollten, verfasste er seine Autobiografie „Sinner‘s Creed“.
Im Gespräch entpuppt sich der 40-Jährige als entwaffnend ehrlicher Partner. So sehr er sich den Erfolg gewünscht habe, so wenig sei er darauf vorbereitet gewesen, gesteht er. „Wenn du einer von vier College-Studenten aus einem kleinen Kaff in Florida bist, deren erste drei Platten Nummer 1 der Charts werden, ist es schwer, auf dem Boden zu bleiben. Du denkst, die Party wird nie enden. Es ist schwierig, zu erkennen, dass du Rückschläge erleiden wirst“, blickt er auf die Zeit mit Creed zurück. „Ich hoffe, dass einige Künstler mich hören und schlauer sind als ich, denn ich war ein Blödmann.“
Inzwischen sind Creed-Fans in einer recht komfortablen Situation, ihre Lieblingsband hat sich zweigeteilt und beide Fraktionen machen großartige Musik. Während Alter Bridge kürzlich mit FORTRESS ein dynamisches Rockalbum erster Güte ablieferten, setzt Stapp auf melodischen Dunkel-Rock. Der Mann mit der kraftvollen Stimme kombiniert muskulösen Neo-Grunge mit süffigen Melodien, auf PROOF OF LIFE reiht er eine Hymne an die nächste. Über seinen neuen, plakativ betitelten Song ›Jesus Was A Rockstar‹ sagt er: „Für meinen Vater war Rock die Musik des Teufels. Mit der Nummer will ich den Konflikt aufzeigen, in den er mich gebracht hat. Er hat mich nicht nur körperlich misshandelt, sondern auch spirituell im Namen Gottes“, klagt er an. „Dieser Titel löst den Konflikt, heute stehe ich hier als ein Mann des Glaubens, der gleichzeitig in einer Rock‘n‘Roll-Band ist.“ Eine Hälfte von ihm sei Botschafter des Christentums, die andere Rock‘n‘Roller. Wie gewohnt sind seine Texte verblüffend offen, sie handeln von Exzess, Drogen, versuchtem Selbstmord, Fehlern, Depression und Hoffnung. Am Ende der Arbeit am neuen Album stand für Scott Stapp eine wichtige Erkenntnis: „Musik ist meine Therapie.“
Henning Richter