Schwer des Todes, verfolgt von psychischen Leiden, aber immer auch durchsetzt mit Hoffnung – Marilyn Mansons neues Album ist eine passende Begleitung zum Weltuntergang. Der berüchtigte Frontmann und sein Kreativpartner Shooter Jennings sprechen über die Hintergründe von WE ARE CHAOS.
Als einstiger Musikjournalist kennt Marilyn Manson den Wert eines Mythos. Als er von seinem Zuhause in Kalifornien anruft, ist es dort nach Mitternacht – ein Detail, das sich wunderbar einfügt in unser Bild des Schock-Rock-Kronprinzen als Geschöpf der Dunkelheit. Die Bemerkung, er solle um diese Zeit doch lieber im Bett sein, statt Promotion zu betreiben, winkt er ab: „Ich bin nachtaktiv, und ich habe durch die Situation, in der wir uns gerade befinden, jegliches Zeitgefühl verloren. Außerdem hat mein Haus verdunkelte Fenster, wenn ich aufwache, weiß ich also nie, ob es Tag oder Nacht ist“. Wie wir im Laufe des Gesprächs erfahren, war der Lockdown für ihn „psychisch niederschmetternd“, und trotz einer drei Jahrzehnte andauernden Karriere, die auf makabrer Finsternis beruht, sieht er keinen schwarzen Humor in den stetig anwachsenden Todesfällen durch COVID-19.
„Nein. Menschen, die krank werden und sterben, völlig unkontrolliert und unbezwingbar, das ist nichts, über das man sich lustig machen sollte. Wir kämpfen gegen eine Plage, die nicht aus unserer Zeit ist. So etwas Schreckliches haben wir noch nie erlebt. Ich verstehe, was du meinst, im Sinne von ANTICHRIST [SUPERSTAR], doch mein Traum von einer Apokalypse wäre viel interessanter und bunter.“ In so düsteren Zeiten ist das Licht hinter dem schweren Vorhang Mansons neuestes und sicher interessantestes Album. Geschrieben und produziert mit Alt-Country-Star Shooter Jennings, ein Slasher-Film-Liebhaber wie Marilyn selbst, ist WE ARE CHAOS eine Manson-Platte, die nicht so sehr mit Kinderschreck-Spektakel schockiert als vielmehr mit der Tragweite ihrer Vision.
„Wir haben beide sehr ausgeprägte Meinungen“, sagt Shooter eine Woche darauf. „Wir lieben viel Musik und zeigten einander verschiedene Sachen. Ich konnte viel von ihm lernen, etwa wirklich obskure Sachen von Roxy Music, oder Love And Rockets und Fields Of The Nephilim. Bands, von denen ich nie gehört hatte, aber von denen ich dann besessen war. Bowie ist unser gemeinsamer Nenner. Und Bowie war immer düster, y’know?“ Stellenweise lässt sich der Manson von einst auch auf diesem Werk nicht totkriegen, etwa in dem Glam-Springerstiefel-Stampfen des frühen Hits ›The Beautiful People‹, das seinen Nachgeschmack auf ›Perfume‹ hinterlässt. An anderer Stelle verkörpern die morbiden Synthies auf ›Don’t Chase TheDead‹, ›Half-Way & One Step Forward‹ und ›Keep My Head Together‹ das, was Jennings als „eine neue Art von Goth“ bezeichnet, inspiriert von Bauhaus, The Cure und Joy Division.
›Paint Me With Your Love‹ wiederum ist eine süßliche Ballade, die auf das Country Radio schielt, während das melancholische Klimpern des Titelstücks sich dem Beatles-Klassiker ›Across The Universe‹ annähert. „Ich sagte mal in einem Interview, ich sei das personifizierte Chaos“, so Manson. „Doch dieser Song heißt ›We Are Chaos‹, wodurch es eher eine Hymne wird. Wenn man das Wort ‚we’ verwendet, singen plötzlich alle mit. Ich denke also, das ist meine Version von ›We Are The World‹“, sagt er mit einem Kichern.
Dank Jennings’ atmosphärischer Produktion fährt einem Manson über die gesamte Laufzeit unter die Haut. Die Zusammenarbeit der beiden währt schon lange und war holprig – eine abgebrochene Kollaboration für einen Song zur Serie „Sons Of Anarchy“, eine gemeinsame Coverversion von Bowies ›Cat People‹ 2016 –, doch in einer Stadt, die für ihre Falschheit bekannt ist, hat ihre Freundschaft überdauert. „Hier in L.A. ist Manson mein bester Freund“, sagt der 41-Jährige. „Wir treffen uns, schauen Horrorfilme an. Ich war schon immer von der dunklen Seite fasziniert. Als ich klein war, weckte mich mein Vater [Outlaw-Country-Legende Waylon Jennings] mitten in der Nacht auf und sagte: ‚Da läuft gerade ein Horrorfilm im Fernsehen. Willst du ihn sehen?‘ Dann ging ich runter, wurde zu Tode erschreckt und ging weinend ins Bett. Aber dann wollte ich mehr. Manson und ich haben uns gerade erst ‚The Holy Mountain‘ angesehen, einen der furchteinflößendsten Filme aller Zeiten.“
Die Feststellung, als Countrymusiker sei er nicht die offensichtlichste Wahl als Produzent, scheint ihn
jedoch etwas zu verärgern. „Nein, das siehst du nur so, weil du von außen darauf blickst. Ich laufe nicht in einem Cowboyhut herum. Wir sind fucking Freunde, y’know? Marilyn Manson und Nine Inch Nails waren zwei der größten Einflüsse in meinem Leben, als ich jung war. Wegen all dem Hype musste mir eine Freundin [Mansons 94er Album] PORTRAIT OF AN AMERICAN FAMILY kaufen. Ich wusste also in meinem Herzen, dass ich diese Platte draufhatte. Ich wusste auch, dass ich mich davor fürchtete, wie das passieren würde. Denn da hatte ich keine Ahnung. Es war, als würde ich im Dunkeln einen erg besteigen.“
Die Bewunderung beruht auf Gegenseitigkeit. „Ich ging früher zu ›Fuck You (I’m Famous)‹ auf die Bühne, da kannte ich Shooter noch gar nicht, ich liebte nur den Song“, so Manson. „Und ›All Of This Could Have Been Yours‹ von seinem Album BLACK RIBBONS war der erste Song auf meiner Playlist für die Garderobe.“ Prä-COVID schickten sich die beiden aus ihren Tourbussen Ideen zu und nahmen bei jeder Gelegenheit in ihren jeweiligen Heimstudios auf. Manson glaubt, der erste Track, an dem sie arbeiteten, war ›Half-Way & One Step Forward‹. Jennings denkt, es war vielleicht die herausragende NuGoth-Nummer ›Don’t Chase The Dead‹. „Ich war am Bass und Manson spielte nur ein bisschen rum und machte diesen verrückten Noise-Rock-Lärm auf meiner Gibson SG. Wir sind beide Fans des Songs ›I’m Not Like Everybody Else‹ von den Kinks, also versuchte ich, etwas mit einem ähnlichen Vibe hinzukriegen. Und wir machten einfach weiter.“
Das Titelstück war hingegen das Resultat eines Abends der Kleinkriminalität im Oktober 2019. „Shooter und ich waren auf einem Konzert von Brandi Carlile in der Disney Hall in L.A.“, erinnert sich Manson. „Als wir dann gingen, überzeugte ich Shooter davon, einen Stuhl aus einem der Banketträume zu klauen. Wir fuhren nach Hause in sein Studio, ich saß auf diesem Disney-Stuhl und sang die letzten
Vocals zu ›We Are Chaos‹. Dieser Stuhl brachte die Disney-Magie in meinen Arsch und durch das Mikrofon. Ihr könnt euch also bei Micky Maus für diesen Song bedanken. Am nächsten Morgen wurde Shooter dann allerdings von der Polizei aufgeweckt …“
Jennings: „Sie hatten die Aufnahmen der Sicherheitskameras, die uns bei dem Diebstahl zeigten. Sie sagten: ‚Wenn ihr den Stuhl zurückbringt, leiten wir kein Verfahren gegen euch ein‘“. Die beiden sprechen offen über die musikalischen Einflüsse der Platte, doch wenn es um die Bedeutung der
Songs geht, geben sie sich weitaus weniger auskunftsfreudig. Jennings gibt die kaum informative Erklärung ab, die Texte seien „wie eine Farbpalette, mit der sich der Zuhörer seine eigene Geschichte malen kann“. Manson spricht lieber über Atmosphären als Details, lässt sich aber etwas mehr zu
›Infinite Darkness‹ entlocken, dem finsteren Opener der schwemütigeren zweiten Hälfte des Albums, in der wir erinnert werden: „You’re dead longer than you’re alive“. „Als wir den Song machten, hatte jeder von uns gerade Menschen verloren“, erklärt er. „Es geht also um Sterblichkeit. Um den Gedanken, dass der Tod etwas ist, das leicht erfahrbar ist, aber den Mut zu haben, um zu leben, sich Dingen zu stellen, ist schwerer. Die zweite Hälfte der Platte hat eine andere Art der Verbitterung.“
Das verhältnismäßig gutgelaunte Titelstück wiederum ist laut Manson sowohl ein Einblick in seine eigene Psyche als auch ein Ruf an beschädigte Menschen allerorten, der anerkennt, dass ihr Schmerz gar nicht so anders ist als seiner. „Es geht um die seelische Verfassung, in der ich mich befand
und mit der sich die Leute identifizieren können. Denn jeder durchlebt seine eigenen Traumata.“
Psychische Gesundheit ist heute ein Riesenthema, nicht wahr? „Oh, das war es schon immer. Meine Mutter litt an Schizophrenie. Ich könnte nicht genau sagen, welche Version meines Hirns ‚gut‘ oder ‚böse‘ ist, aber ich weiß, dass es einem wahrscheinlich viel abverlangt, in einer Liebesbeziehung mit mir zu sein. Ich habe versucht, ein besserer Mensch zu werden. Ich denke, jeder hat die Fähigkeit, sich
zu verändern. Es geht darum, die beste Version von sich selbst zu werden, die man sein kann. Selbst wenn du das beste furchtbare Stück Scheiße bist, ist das auch was wert. Aber hoffentlich bin ich kein furchtbares Stück Scheiße. Ich bin einfach nur die beste Version von mir selbst. Die hat Fehler, ist
nicht perfekt, und versucht, etwas zu tun, das mich glücklich macht und anderen Leuten Freude bringt. Ich habe das Gefühl, der Welt etwas gegeben zu haben, statt nur zu nehmen.“ Beide sind sich einig, dass ›Broken Needle‹ der Schlüsselsong auf WE ARE CHAOS ist. Er beschließt das Album mit der Finalität eines Sargs, der in den Ofen gefahren wird.