Das Roadburn-Festival ist ein Event der Superlative, in jeglicher Hinsicht. Schon wenige Minuten nach dem offiziellen Verkaufsstart Ende November vermeldeten die Veranstalter: ausverkauft! Hotelzimmer waren zu diesem Zeitpunkt bereits schon nicht mehr zu bekommen, alles ausgebucht – für eine Veranstaltung, die erst ein halbes Jahr später stattfinden würde. Der Grund da-für: ein Programm, das es in dieser Form nirgends anders zu sehen gibt. Die Bandbreite des Roadburn reicht von Extrem-Metal bis hin zum Psychedelic Rock, dazwischen gibt es klassische Riffs, aber auch markerschütternden Drone Doom. Rund 80 Bands präsentieren im Verlauf der vier Festivaltage ihre Version von Rock’n’Roll – CLASSIC ROCK pickt die Höhepunkte des spektakulären Indoor-Riff-Marathons heraus.
Der erste Festivaltag ist weit mehr als eine Aufwärmübung: Am Donnerstag treten auf den vier Roadburn-Bühnen sowohl die spannendesten Newcomer als auch etablierte Ikonen an. Woven Hand und Pentagram zum Beispiel füllen mühelos die größte Halle des Tilburger 013-Komplexes. Über 2.000 Fans bejubeln Dave Eugene Edwards, der ein derartiges Format hat, dass er selbst a-cappella problemlos einen kollektiven Gänsehaut-Schauer erzeugt hätte. Ähnliches gelingt wenig später Bobby Liebling, der trotz jahrzehntelangem Drogenexzess noch über eine Stimme verfügt, die so vor Leidenschaft und Ausdruckskraft strotzt, dass manch einer nach der Show verstohlen die Augen trocken wischt. Doch auch die jüngeren Acts schaffen es, die Massen mitzureißen. Insbesondere Ghost, seit einigen Monaten der heißeste Okkultrock-Geheimtipp, zaubern ein Lächeln auf die Gesichter ihrer Anhänger – die Show wird zur Messe, und Jünger hängen zu Recht an den Lippen der Riff-Hohepriester. Noch stärker in den Siebzigern verhaftet sind die kultigen Blood Ceremony, die nach Ghost antreten, was vor allem die Traditionalisten im Publikum freut. Wer es etwas deftiger mag, kann sich mit den ungestümen Schweden-Riffern In Solitude vergnügen – oder aber den hypnotischen Groove von The Atomic Bitchwax genießen. Godflesh, die Headliner des ersten Tages, versuchen mit bedingungsloser Härte zu punkten, was jedoch nicht über die gesamte Länge des Sets funktioniert, sodass etliche Fans sich schon mental auf den Count Raven-Gig vorbereiten oder abwandern, um sich die Norweger Wardruna anzusehen, die mit vielerlei selbstgebauten Instrumenten, z.T. zurechtgestutzten Stämmen oder Hörnern, die Geheimnisse der Runen klanglich entschlüsseln.
Am zweiten Tag eröffnet der Japaner Keiji Haino mit einer entrückten Noise-Performance, die nur noch von Attila Csihars (schlecht besuchter) Void Ov Voices-Gig an Sound-Gewalt übertroffen wird. Besser läuft es für Aluk Todolo, mit ihrem rituellen, kärglich-stimmig mit einer Glühlampe beleuchteten Set. Freunde sanftmütigerer Klänge lassen sich daher lieber von Mamiffer in epische Postrock-Sphären entführen oder geben sich die Routiniers: Place Of Skulls riffen ohne Überraschungen, aber solide, ebenso die Doom-Ikonen Winter, die angesichts der Euphorie im Vorfeld jedoch ein bisschen mehr Enthusiasmus an den Tag legen hätten können. Ein Rat, wie man ihn gerne auch Corrosion Of Conformity mit auf den Weg geben würde. Die Reunion im ANIMOSITY-Line-up verkommt zu einer öden Nummer: Es mangelt der Band komplett an Energie, zudem fehlen Über-Songs wie ›Eye For An Eye‹. Fazit: Hardcore geht anders. Dann doch lieber experimentelle Riffs mit den wie immer bodenständig-sympathischen Voivod oder klassische Melodien, zum Beispiel von Sabbath Assembly, bei der die zauberhafte Jessica Thoth wieder einmal beweist, dass sie im Moment zu den absoluten Top-Sängerinnen im Seventies-Rock-Sektor zählt. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Jesse Sykes, die später am Abend auftritt und dabei des Öfteren an Heather Nova erinnert, sorgt sie dafür, dass die Ladies heute einen Sonder-Applaus einfahren. Den bekommen auch Sunn O))), die nicht nur als Headliner auftreten, sondern auch als Kuratoren einen Teil des Festival-Programms zusammenstellen durften. Bei ihrer eigenen Show setzen die Drone-Doomer auf die pure Kraft der Verstärker: Es
wabert so nachhaltig, dass selbst im 30 Kilometer entfernten Eindhoven noch ein Nachhall zu spüren sein muss. Ihre monolithischen Sound-Wände untermauern sie auch optisch: Die Nebelmaschine räuchert nicht nur die komplette Halle ein, sondern auch den Vorraum gleich mit – die Beleuchter haben alle Hände voll zu tun, um mit den blauen Scheinwerfern überhaupt noch ein wenig Licht auf die Bühne zu bekommen. Denn es wäre jammerschade, wenn die Fans nicht mitbekommen würden, was und wer sich da tummelt. Der japanische Noise-Wizard Keiji Haino gesellt sich zusammen mit Sänger Attila Csihar zu den US-Doomern, um Stephen O’Malley und Greg Anderson zu unterstützen. Und unglaublicherweise schaffen sie es mit vereinten Kräften, trotz des sperrigen Mate-rials, ein Headliner-Set auf die Bretter zu bringen, das zu keiner Sekunde langweilig wird – große Kunst, in jeglicher Hinsicht. Von Scorn, dem Ein-Mann-Projekt von Mitch Harris, kann das keiner behaupten – innerhalb von wenigen Minuten wandern alle Fans in die Nebenhallen ab. Dort schaffen es Caspar Brötzmann Massaker und auch die coolen The Secret, die im Mastodon-Fahrwasser segeln, die letzten Energien freizusetzen, bevor die Nacht zu Ende geht.
Mit frischer Kraft geht es in die nächste Roadburn-Runde: Candlemass holen ihren EPICUS DOOMICUS METALLICUS-Sondergig nach, der im vergangenen Jahr der Vulkanasche zum Opfer gefallen ist. Und das tun sie mit vollem Einsatz: Sowohl Ur-Sänger Johan Lindquist als auch der jetzige Frontmann Robe Lowe geben alles, der Sound perlt und drückt zugleich, dazu hagelt es unsterbliche Hymnen wie ›Solitude‹ oder ›Under The Oak‹, zudem gibt’s ein SloMo-Cover von ›Don’t Fear The Reaper‹. Ein Fest, nicht nur für eingefleischte Headbanger. Währenddessen hängen im Nebenraum etliche Rocker gebannt an den Lippen von Black Math Horseman-Fronterin Sera Timms, und auch zu den orientalischen Attacken der Master Musicians Of Bukkake grooven sich einige Hundert Fans warm für den Tag. Zudem wird heute für Fans von konischen Rauchwaren einiges geboten: Lonely Kamel, Weedeater, Imaad Wasif und Stone Axe sorgen für die passende Untermalung nach der Schwaden-Inhalation. Wer lieber beim Bier bleibt, kann entweder mit den Indie-Favoriten Wolf People die Hüften schwingen oder sich etwas mehr Härte gönnen: Evoken präsentieren bitterböse Doom-Riffs, The Gates Of Slumber die schönsten schmutzstarrenden Heavy-Melodien des Festivals, und Yakuza beweisen eindrucksvoll, dass ein Saxofon im Metal-Kontext sehr wohl Sinn (und Stimmung) macht. Die Italo-Doomer Ufomammut wollen so viele Leute sehen, dass sich die Schlange vor dem zweitgrößten Roadburn-Club sogar bis ums Hauseck windet, was dazu führt, dass viele lieber noch einen weiteren Blick auf die kultigen Shrinebuilder werfen oder sich schon in der Haupthalle versammeln, um Michael Gira und den Swans zu huldigen. Doch wo die einen auf die Knie fallen, wenden sich andere gelangweilt ab: Der Gig spaltet die Roadburn-Gemeinde. Gira ist der Alleinherrscher auf der Bühne, kommandiert selbst mit minimalen Gesten und Blicken seine Musiker und auch das Publikum. Durch das repetitive Moment in der Musik wird dieser Eindruck noch verstärkt. Wem diese Dominanz gefällt, der fällt in wohlige Trance, alle anderen gehen.
Über eine ganz besondere Aura verfügen auch Black Mountain, die am vierten Roadburn-Tag als Headliner gebucht sind. Aus dem ehemaligen „Afterburner“, bei dem eine Handvoll Acts allen Unersättlichen noch ein paar zusätzliche Stunden Riff-Huldigung beschert haben, ist inzwischen ein eigenständiges Event geworden, das über dasselbe Qualitätsniveau verfügt wie der Rest des Roadburn-Programms. Insbesondere die Verpflichtung von Black Mountain, die ein ebenso ergreifendes wie intensives Set hinlegen, kann nur als magisch bezeichnet werden. Darum herum drapiert als weitere Klang-Leckereien: die Washington-Spacer Dead Meadow oder die japanischen Doomer Coffins, die neben den Blood Farmers und Sourvein dafür sorgen, dass die Fans sich mit einem finalen Freuden-Juchzer von Tilburg verabschieden. Und im Geiste schon beim Rausgehen mit den Reisevorbereitungen für 2012 beginnen.
Mira Born, Petra Schurer, Thorsten Zahn