Er ist der Prototyp des Stehaufmännchens: Seit seiner Kindheit muss sich der Albino aus Texas mit Vorurteilen und Anfeindungen herumschlagen. Nun hat Johnny Winter seine Erinnerungen in einem Buch zusammengefasst.
Es ist ein kalter Montagabend in Southampton. Johnny Winter lässt sich davon aber nicht beeindrucken. Er spielt trotzdem. Die heutige Show ist nur eine von vielen. Die Tour führt ihn vom Süden Englands bis ins sonnige Sao Paulo. Die Art und Weise, wie Winter sich auf der Bühne bewegt, ähnelt der verdienter Bluesrock-Veteranen. Mit dem Unterschied, dass Johnny quasi der Negativabzug zu den farbigen Musikern ist.
Doch sein Aussehen, das ihm in seiner Kindheit viel schmerzhaften Spott (und mehr) eingebracht hat, ist im Laufe der Zeit zu seinem Markenzeichen und auch seinem Kapital geworden. Er hat es weit gebracht: vom Kleinstadt-Kid zum Rockstar, der eine Liaison mit Janis hatte und mit Jimi jammen durfte. Reich geworden ist der dadurch zwar nicht, aber er hat sich den Respekt seines Publikums erspielt. Mit harter Arbeit, unzähligen Auftritten und viel, viel Leidenschaft für die Sache.
Dabei musste er stets kämpfen. Wegen seines genetischen Defekt, der ihn zum Albino und damit zum Außenseiter machte. Und natürlich auch mit den typischen Rockstar-Hürden: Alkohol- und Drogensucht, private Tragödien, geldgierige Manager – das volle Programm. Doch er hat überlebt.
Und sein Leben jetzt in einem Buch öffentlich gemacht. Mit Hilfe der Songwriterin und Radioproduzentin Mary Lou Sullivan hat Winter RAISIN’ CAIN geschrieben, eine Biografie der besonderen Art – sie ist kein Schnellschuss, sondern ein Produkt reiflicher Überlegung.
„Ich habe Johnny 1984 kennen gelernt“, erinnert sich Sullivan an ihre erste Begegnung mit dem Musiker. „Damals schrieb ich für die Wochenzeitung ,Hartford Avenue‘ über Musikthemen. Wir führten ein Interview, und ich war begeistert von seiner Ehrlichkeit und seiner Fähigkeit, Geschichten zu erzählen. Außerdem verfügt er über einen herrlichen Humor und wird regelrecht philosophisch, wenn er über sein Leben berichtet.“ Und auch die lustige Art von Winter ist der Journalistin im Gedächtnis geblieben. So hat sich der Musiker ein Kissen vor den Mund gehalten und reingeschrien, um zu demonstrieren, wie sein Teenie-Gesangstraining aussah. Sullivan war sofort fasziniert von Winter und seiner Karriere mit all ihren unerwarteten Irrungen und Wirrungen. „Seine Geschichte ist genau der Stoff, aus dem wirklich große Literatur entsteht. Daher fragte ich ihn sofort, ob ich ihm beim Schreiben einer Biografie helfen könne. Doch er und sein Manager haben sich erst im vergangenen für ein Ja entschieden. Also über zwei Jahrzehnte später.“
Es dauerte ein weiteres Jahr, bevor Sullivan sich gut genug vorbereitet fühlte für ein Interview mit dem Gitarristen. Sie hatte in unzähligen Ge-sprächen mit Winters Mutter, seinem Bruder, zahlreichen Freunden und Musikerkollegen Fragen zusammengetragen. Insgesamt 400 Stück. Jeden Samstagabend trafen sich die beiden zum Interview, und Winter bewies, dass er sich in all den Jahren keinen Deut geändert hatte – noch immer sprach er frei von der Leber weg und sparte kein Thema aus – selbst die heiklen nicht. Auf Basis dieser Mitschnitte konnte Mary Lou Sullivan ein Buch schreiben, das die Geschichte eines echten Rockers so detailliert nachzeichnet wie kaum ein anderes. RAISIN’ CAIN entführt den Leser in die verrauchten texanischen Bars, hängt einem einen Woodstock-Backstagepass um und gibt uns schließlich Zugang zum hippen New Yorker Club „The Scene“. Und Winter? Er schluckt und wirft ein, er wütet und wird bepöbelt. Wo ein Exzess ums Eck lugt, ist er ganz sicher dabei – dabei wandelt er stets auf dem schmalen Grat zwischen Rockgott und Total-Freak.
Über die Emotionalität der Biografie ist Winter selbst überrascht – obwohl er als Hauptdarsteller doch eigentlich am besten wissen müsste, wie stark Gefühle sein Leben beeinflusst haben. „Die herausragenden Erlebnisse noch einmal wiederaufleben zu lassen war großartig“, freut er sich. „Doch die schrecklichen Dinge ein zweites Mal zu erleben, war grausam für mich. Doch egal wie schmerzhaft diese Dinge mir selbst auch vorkommen mögen – ich bin froh, dass Mary Lou sie aufgeschrieben hat. Ich bin nun mal nicht der Typ Mensch, der sein Leben im Nachhinein schönfärbt. Wen man nicht ehrlich zu sich selbst ist, bekommen die Leser ein falsches, verzerrtes Bild von einem. Und das ist nicht der Sinn einer Biografie.“
Zudem hat RAISIN’ CAIN auf für Winter selbst einige positive Nebeneffekte mit sich gebracht. Er kann darin nämlich eine Begegnungen rekapitulieren, an die er sich so gar nicht mehr erinnert hätte, wie er selbst sagt: „Ich habe zum Beispiel komplett vergessen, dass mir Salvador Dali ein Mikro in den Arsch stecken wollte. Was für eine lächerliche Aktion!“
Johnny kam 1944 in Beaumont, Texas, zur Welt. Sein vollständiger Name lautet John Dawson Winter III. Sein Vater, ein Weißer, dient damals beim Militär und befehligt ein Battalion farbiger Männer. Bis zu seiner Rückkehr aus dem Krieg weiß er nicht, dass sein Sohn ein Albino ist. 1946 schließt er Johnny das erste Mal in seine Arme – der Junge ist damals zwei Jahre alt. Auch der jüngere Bruder Edgar, der 1946 zur Welt kommt, ist von der genetischen Mutation betroffen – die beiden sind die ersten im Familienstammbaum, bei denen Albinismus auftritt. Das Gen ist rezessiv, was bedeutet, dass es im Fall einer Elternschaft der Geschwister mit einer 25-prozentigen Wahrscheinlichkeit an die nächste Generation weitergegeben wird.
Während Johnnys und Edgars Eltern zu ihren Kindern stehen, besonders der Vater fördert die beiden durch intensiven Musikunterricht, haben sie in ihrer Jugend nur wenige Freunde. In der Schule werden sie gehänselt, und auch die Lehrer tun nichts, um die Brüder zu integrieren. Daher ziehen sie sich, so gut es geht, aus der Öffentlichkeit zurück und konzentrieren sich auf die Musik.
Johnny liebt Merle Travis, Chet Atkins und Blues-Ikonen wie Howlin’ Wolf, Muddy Waters, Elmore James, Little Water und Jimmy Reed. Er sammelt all seine Energie, um ihnen nachzueifern. Die unzähligen Stunden, in denen er das Griffbrett seiner Gitarre hinauf- und herunterjagt, zahlen sich schließlich aus: Er nimmt an Nachwuchswettbewerben teil – und siegt.
In Sullivans Biografie erinnert sich Winter an einen seiner ersten Auftritte vor Publikum. Bei einer Schulveranstaltung soll er ›Johnny B. Goode‹ aufführen. Als er die Bühne betritt, reagieren die Menschen mit Spott, denn speziell ganz im Süden der USA gibt es zum damaligen Zeitpunkt so gut wie keine Albinos – die Winters erregen überall Aufsehen. Johnny ist selbstverständlich tief verletzt durch die Reaktionen der Leute. Doch er denkt sich: „Was soll’s? Ich werde ihnen jetzt einfach beweisen, dass ich es trotzdem drauf habe.“ Und genau das tut er dann auch: Winter legt los und überzeugt sein Publikum durch sein Talent. „Am Ende haben alle bereut, dass sie mich ausgelacht haben.“
Da Winter nicht nur optisch auffällt, sondern aufgrund der fehlenden Pigmente auch sehr schlecht sehen kann, sind seine Möglichkeiten, in einer texanischen Kleinstadt Karriere zu machen, nur sehr begrenzt. Selbst nachdem er es 1959 geschafft hat, mit der Single ›School Day Blues‹ auf Platz acht der lokalen Charts zu landen, weigert sich Produzent Bill Hall, ein Album mit Winter aufzunehmen, weil er nicht daran glaubt, dass eine Band mit einem Albino als Frontmann Erfolg haben könnte.
Dabei ist gerade die Tatsache, dass Johnny Winter ein Albino ist, maßgeblich für sein Talent als Blueser. Denn durch seinen Außenseiterstatus kann er nachvollziehen, welch immense Rolle jene Musik für das Selbstbewusstsein der von den Weißen unterdrückten Farbigen spielt. Dennoch er-fährt er auch in dieser Szene zunächst keinen Zuspruch – im Gegenteil: Puristische Kritiker werfen ihm vor, dass er als Weißer kein Recht habe, Blues zu spielen. Winter, der aufgrund der emotionalen Verletzungen in seiner Kindheit extrem sensibel für Vorwürfe ist, nimmt sich die Angriffe sehr zu Herzen. Doch statt sich zurückzuziehen, wandelt er die negative Energie in positive um und übt noch intensiver, um sein Spiel zu perfektionieren.
Das zahlt sich aus. 1968 bezeichnet Mike Bloomfield Johnny im Magazin „Rolling Stone“ als „den besten weißen Blues-Gitarristen, den er je gehört habe“. Im Zuge dessen kann Winter einen hoch dotierten Plattenvertrag an Land ziehen. Doch er hat mit denselben Problemen zu kämpfen wie viele andere Musiker: Mit dem Erfolg kommen die Neider und die geldgierigen Haie. Ehemalige Manager und Produzenten machen ihre Ansprüche geltend, es werden alte Aufnahmen auf den Markt geworfen, um möglichst schnell möglichst viel Reibach mit dem „weißen Wundergitarristen“ zu machen. So erscheint fast zeitgleich mit seinem Debütalbum eine Platte namens THE PROGRESSIVE BLUES EXPERIMENT, auf der frühe Mitschnitte zusammengefasst sind – etliche Fans sind verwirrt und kaufen diese Scheibe und nicht wie eigentlich geplant das offizielle Erstwerk Winters.
Obwohl er auf der Höhe seines Erfolgs ist, kann Winter sein Glück nicht genießen. Denn niemand kümmert sich um das, was ihn als Person ausmacht und bewegt. Er wird entweder als „Gott“ verehrt oder als „Versager“ abgestempelt. Sein langjähriger Weggefährte, der verstorbene Drummer Uncle John Turner, erinnert sich in RAISIN’ CAIN, dass „Johnny immer irgendwie unbeteiligt war. Er betrachtete eine Situation stets von außen, nie von innen. Er wirkte isoliert. Daher stammten auch all seine wirklichen Freunde aus Texas. Sie kannten ihn von früher und wussten, wie er wirklich war. Sie schätzten ihn als Person und nicht allein sein Talent.“
Doch trotz diese Unnahbarkeit, die aus seiner Verletzlichkeit resultiert, ist Johnny Winter in seinen ruhmreichen Jahren alles anderes als ein Unschuldslamm. Er nutzt die Gelegenheiten, die sich ihm bieten. Wie seine legendären Bluesvorbilder nimmt er mit, was geht. Das geht nicht immer ohne Reibereien vonstatten. So jagt ihn einmal ein gehörnter Ehemann durchs halbe Land, stellt ihn schließlich und hält ihm eine Knarre an die Stirn – doch er drückt nicht ab, sondern bricht unter Tränen zusammen und tritt daraufhin geknickt den Rückzug an. Winter dreht daraufhin noch mehr auf: Zu den Weibergeschichten gesellen sich Drogenexzesse. LSD, Mescalin, Pilze, Heroin – der Speiseplan des Gitarristen ist abwechslungsreich…
Die Menschen, mit denen er sich umgibt, leben ebenfalls auf der Überholspur. Und nicht alle halten das hohe Tempo so durch wie Winter. Die Straße ist gepflastert mit Schildern, auf denen die Worte „Selbstmord“, „Überdosis“ oder „Zusammenbruch“ prangen. Zudem bereichern sich jede Menge Leute auf Winters Kosten: Johnnys früherer Manager Roy Ames beispielsweise dealt mit Kinderpornos und lebt zudem von der Veröffentlichung alter Bootlegs. Sein Nachfolger Terry Slatus verabreicht seinem Schützling über Jahre einen derart starken Medikamentencocktail, dass der Musiker gar nicht die Chance hat zu erkennen, um welche immensen Summen er von seinem gierigen Manager gerade betrogen wird.
Im Grunde ist es nur Johnny Winters Zähigkeit und seinem in frühester Kindheit erworbenen Durchhaltevermögen zu verdanken, dass er heute noch am Leben ist. Das sieht auch Biografin Sullivan so: „Die Unterstützung durch seine Familie, seine bedingungslose Liebe zur Musik, sein Wunsch, als Musiker auf der Bühne zu stehen, sein Glaube an seine eigenen Fähigkeiten und an eine höhere Macht, mit deren Hilfe er jedes noch so tiefe Tal durchschreiten könne – das sind die Faktoren, die dazu beigetragen haben, dass uns Johnny Winter erhalten geblieben ist. Am wichtigsten war jedoch seine Entscheidung, die großen Stadien und damit auch den ausufernden Lebensstil hinter sich zu lassen und sich stattdessen wieder auf das zu konzentrieren, was ihm von Anfang an am meisten am Herzen lag: die Musik. Sie ist und bleibt Johnnys Rettungsanker.“