Liebe Leserinnen und Leser,
wie bereits einige von euch mussten auch wir feststellen, dass ein Artikel in unserem aktuellen Sonderheft über Jethro Tull abrupt endet. Wir möchten uns vielmals dafür entschuldigen, dass ihr an dieser Stelle – entgegen unseren eigenen, immer hohen Ansprüchen – auf unsere gewohnte Qualität und einen kompletten Absatz verzichten müsst! Noch immer sind wir auf der Suche nach der Fehlerquelle, durch die die mehrfach redigierte und fehlerfreie Datei auf dem Weg des Hochladens von Grafik an Druckerei beschädigt wurde. Glaubt uns, uns ärgert das mindestens so sehr wie euch! Damit ihr nicht zu sehr enttäuscht von uns seid und ihr an euren verdienten Text kommt, hier für euch der vollständige Artikel. Wir bitten um Entschuldigung und hoffen, dass ihr trotz allem möglichst ungetrübte Freude an unserem Sonderheft und unseren vielen weiteren Ausgaben habt!
Euer CLASSIC ROCK-Team
Landstreicher, Geister, religiöser Fanatismus und Globalisierung – AQUALUNG machte Jethro Tull zu Stars, doch seine Entstehung war nicht einfach. Anlässlich seines 40-jährigen Jubiläums im Jahr 2011 blickten Ian Anderson und seine Mitstreiter auf ihr prophetisches Meisterwerk zurück.
Ob es um einleitende Zeilen oder einleitende Riffs geht – der Anfang des Titelstücks von Jethro Tulls millionenfach verkauftem und unbestreitbar wegweisendem vierten Album zählt zu den markantesten, denkwürdigsten und verdientermaßen verehrtesten im Prog. Auch Jahrzehnte später bleibt diese nicht unbedingt jugendfreie Geschichte von einem keuchenden, ungewaschenen und wild behaarten Landstreicher so konzeptionell lebendig wie musikalisch kraftvoll, und auch der Rest dieses erstaunlich vielfältigen, dynamischen und hoch intelligenten Albums hat die Zeit unglaublich gut überdauert. Der Progrock-Kanon wäre ungleich ärmer ohne ›Locomotive Breath‹, ›Cross-Eyed Mary‹, ›Wond’ring Aloud‹ oder ›My God‹, und doch waren Tull immer ihr ganz eigenes Ding: eine Band, die eher durch einen glücklichen Zufall im Progressive Rock landete als durch irgendeinen wirklichen Bezug zu den anderen Giganten des Genres. AQUALUNG, ihr meistverkauftes Album und die Platte, die sie in den Augen von allen außer ihren ergebensten und wissenden Fans bis heute definiert, ist schlicht und ergreifend ein Klassiker des Rock, der nie seinen Zauber verloren hat.
Auch sein Schöpfer Ian Anderson hat sich gut gehalten: fit und gesund, elegant gekleidet und so zuverlässig eloquent wie eh und je, hat er diese vier Jahrzehnte fast permanenter kreativer Arbeit besser weggesteckt als die riesige Mehrheit seiner Zeitgenossen und sieht abgesehen von ein paar Wehwehchen deutlich jünger aus als 63. Und angesichts seiner spürbaren Begeisterung für das Musikmachen scheint es nur wenig zu geben, das ihn davon abhalten würde, genauso entschlossen in seine 70er zu marschieren – er ist nun mal ein Karrieremusiker, dem es nicht an Ideen mangelt, ebensowenig wie an Dingen, die er zu sagen hat. Anderson ist einfach nicht der Typ, der sich die Zeit nimmt, in Nostalgie zu schwelgen, und auf die Frage, ob es sich wirklich wie 40 Jahre anfühle, seit AQUALUNG erschien, antwortet er ohne zu zögern und bewundernswert im Hier und Jetzt verankert: „Nun, einige der Songs auf AQUALUNG gehören in die Zeit von vor 40 Jahren, denn ein paar wurden nur selten live gespielt. Es gibt drei oder vier, die erst in den letzten zwei, drei Jahren aufgeführt wurden, zum ersten Mal überhaupt. Einige davon sind also ziemlich neue Freunde, was Live-Darbietungen betrifft. Doch dann gibt es noch die anderen, die zu jedem Jethro-Tull-Konzert gehören, oder auch zu jedem Ian-Anderson-Konzert. ›Aqualung‹ und ›Locomotive Beath‹ werden fast immer dabei sein, es ist also schwer, über diese Stücke im Kontext von 40, 30 oder 20 Jahren nachzudenken. Ich denke über sie eher im Kontext von 30 oder 40 Stunden, seit ich sie das letzte Mal gespielt habe. Es ist schwierig, Material von den jüngsten Erfahrungen zu trennen zu versuchen, die man damit gemacht hat. Wenn man mitten in einer Tour ist und etwas jeden Abend spielt, fühlt es sich nie wie Geschichte an. Und das trifft sicher auf die meisten dieser Songs zu, denn es geht darin um soziale Realitäten.“
Der Progrock hat stets ein ziemlich distanziertes und komplexes Verhältnis zur Realiät gepflegt, nicht zuletzt, weil das abenteuerlustige und abgehobene musikalische Ethos, das dieses Genre stets angetrieben hat, meistens textliche Konzepte aus Fantasie- und fiktiven Welten nach sich zog. AQUALUNG hingegen, von seiner Beschreibung des titelgebenden Antihelden und seines Leidens im „frostigen Dezembernebel“ bis zu den Visionen auf ›Wind Up‹ von institutionalisierter Religion und Andersons jugendlicher Verweigerung ihres Einflusses, ist ein Album, das absolut in der Wirklichkeit verhaftet ist. „Diese Songs scheinen gut zu altern, weil sie immer noch relevant sind“, räumt er ein. „Selbst ›Locomotive Breath‹ … wenn ich mich daran erinnere, worüber ich seinerzeit nachdachte, sprachen wir schon damals von Überbevölkerung. Und es ist auch heute noch größtenteils nicht politisch korrekt, darüber zu reden, doch diese Zunahme der Globalisierung, die Gesamtbevölkerung des Planeten, das Wachstum der Industrie, die Kommerzialität, darum sollte es in dem Song gehen, dieser unaufhaltsam dahinpreschende Zug, dieses Gefühl der Hilflosigkeit, wenn man sich auf etwas wiederfindet, das man nicht aufhalten kann. Diese gewaltige Maschinerie wird nicht langsamer werden, und da sind wir nun. Es ist 2011 und in 40 Jahren werden wir neun Milliarden Menschen sein, ohne eine realistische Chance darauf, sie alle ernähren zu können. Wir schaffen das jetzt schon kaum mit sechseinhalb Milliarden, und wir machen es immer schwieriger mit unserem Einfluss auf die Umwelt in puncto Wasser, Lebensmittel und der Luft, die wir atmen, da die Leute weiter Ressourcen verbrauchen, ohne einen langfristigen Plan zu haben. ›Locomotive Breath‹ ist also der Song, der sich mit all diesen Themen befasst.“
Natürlich ist es aber das Titelstück, das die offensichtlichste Botschaft transportiert, und dessen Kernpunkt zusätzlich vom legendären Album-Artwork unterstrichen wird (mehr dazu später). Das ironische Porträt eines Obdachlosen, der „Stücke seines zerbrochenen Glücks ausspuckt“, liegt Ian Anderson bis heute sehr am Herzen als indirekt formulierte, aber aufrichtige Bitte, Mitgefühl für unsere Mitmenschen aufzubringen. „›Aqualung‹ ist ein Song über Obdachlose, aber vor allem ist es ein Song über unsere Reaktion, derer von uns, die das Glück haben, ein Zuhause zu haben, ein gewisses Maß an Wohlstand und Zufriedenheit, Familie, Freunde und Unterstützung. Es geht um die Mischung aus Schuld, Angewidertsein, Scham und Verwirrung in unserer Reaktion, um all das, was wir empfinden, wenn wir mit der Realität der Obdachlosen konfrontiert werden, ob es die etwas Chaplin-eske Figur des Penners auf dem AQUALUNG-Cover ist oder ein 17-jähriger Jungkrimineller, drogensüchtig oder im Sexgewerbe arbeitend oder was auch immer. Obdachlosigkeit hat sich verändert, was das Alter und die Demografie betrifft. Sie ist anders als die Obdachlosigkeit, an die ich mich erinnere. Penner waren obdachlos, hatten aber eine gewisse Würde. Heute ist es mehr ein sozial erschreckendes Phänomen, und wir empfinden im Umgang damit meiner Meinung nach mehr Schuld und Scham.“
Im Gegensatz zu so vielen Alben, die in der Prog-Glanzzeit Anfang der 70er erschienen sind, wirkt AQUALUNG heute wie ein außerordentlich prophetisches Werk, und während sein Schöpfer sich in dessen Thema hineinredet, wird schnell klar, dass 40 Jahre, in denen er das Titelstück rund um den Globus gesungen hat, Anderson dazu gebracht haben, sehr eindringlich über die Fragen nachzudenken, die es aufwirft. „Ich habe es so oft erlebt. Man sieht eine Person, die eindeutig verzweifelt Hilfe braucht, ob es um ein paar Münzen oder den ganzen Inhalt deiner Geldbörse geht, und man ignoriert sie“, sagt er und sieht einen Augenblick tieftraurig aus.