Eine Ode auf die Armut: Jethro Tulls zeitlos-aktueller Meilenstein.
„Living In The Past“ war das Motto, das Chefideologe Ian Anderson und seine unübersichtliche Heerschar an Mi(e)tmusikern seit Jethro Tulls Gründung 1967 verinnerlicht hatten: Ob sie nun ihren Bandnamen einem im 17. Jahrhundert geborenen englischen Agronomen entliehen, auf dem Cover ihre Debüts als alte Männer posierten oder aber im authentischen Charles-Dickens-Outfit auf den Spuren der Music Hall wandelten: Stets haftete dem Quintett ein Hauch Altertümlichkeit an. Drei Werke mit zuweilen harscher Gesellschaftskritik, THIS WAS, STAND UP und BENEFIT, lagen schon hinter der Band, als in neuer Besetzung mit Keyboarder John Evan und Bassist Jeffrey Hammond im März 1971 jenes Album erschien, das mit über sieben Millionen Exemplaren als ihr bestverkauftes Werk gilt.
Zum Jubiläum gibt es AQUALUNG in der 40TH AN-NIVERSARY EDITION nun im originalen LP-Format von 1971 mit Klapp-Cover, neuer Abmischung, Doppel-CD voller Raritäten sowie 5.1.-Versionen auf DVD und Blu-ray mit zusätzlichen Überraschungen. Nicht zu vergessen: das 48-seitige Buch mit Fotos und Anekdoten rund um die Produktion, Tour-Broschüre, sämtlichen Texten und einem Tourneeplan der Jahre 1970/71.
Doch was unterscheidet AQUALUNG von formal und handwerklich ebenso ausgezeichneten Werken wie STAND UP, WAR CHILD oder TOO OLD TO ROCK’N’ROLL, TOO YOUNG TO DIE? Schon auf ihren früheren Alben überblendeten Jethro Tull Rock, Blues, Klassik, Folk, Vaudeville und Psychedelic. Das von Ian Anderson und Terry Ellis kristallklar produzierte AQUALUNG setzte auf mehr Akustikpassagen (›Cheap Day Re-turn‹, ›Wond’ring Aloud‹, ›Up To Me‹, ›Slipstream‹), brillierte aber auch mit einer Eingängigkeit, die den Zugang zu kommerziellen Radiosendern sicherte. Vor allem die mit Hard-Rock-Riffs verfeiner-ten Tracks ›Locomotive Breath‹, ›Hymn 43‹, ›Wind Up‹ sowie der Titelsong sorgten auf dem Höhepunkt der Progressive-Rock-Ära für massenhaften Zulauf. Nicht zuletzt waren und sind es aber Ander-sons zeitlos-aktuelle Themen, die Interesse wecken, sei es materielle Unterprivilegierung (›Cross-Eyed Ma- ry‹, ›Mother Goose‹) oder harsche Religionskritik (›My God‹, ›Wind Up‹), die vor allem in den USA für heftige Kontroversen sorgte.