Landstreicher, Geister, religiöser Wahn und die Globalisierung: Vor 40 Jahren avancierten Jethro Tull dank ihres prophetischen Meisterwerks AQUALUNG zu weltweit anerkannten Stars. CLASSIC ROCK-Autor Dom Lawson sprach mit Ian Anderson über die schwere Geburt eines Klassikers.
Schon nach dem Eröffnungsriff und der ersten Textzeile des Titeltracks von Jethro Tulls viertem Album ist klar: Hier erwartet den Hörer eines der kraftvollsten und einprägsamsten Progrock-Statements aller Zeiten. 40 Jahre hat der Millionenseller AQUALUNG nun auf dem Buckel, doch die reichlich unappetitliche Geschichte über diesen keuchenden, schmuddeligen und ziemlich zotteligen Landstreicher strotzt noch immer vor Vitalität und musikalischer Potenz. AQUALUNG hat die Jahrzehnte bestens überstanden. Ohne Songs wie ›Locomotive Breath‹, ›Cross Eyed Mary‹, ›Wond’ring Aloud‹ und ›My God‹ wäre der Progrock-Kanon wesentlich ärmer, obwohl Jethro Tull geburtsbedingt immer zu den Außenseitern des Genres zählen: Beim Progrock sind sie eher durch einen glücklichen Zufall gelandet, mit den anderen Genre-Größen verbindet sie nicht allzu viel. AQUALUNG ist im Grunde ein klassisches Rock-Album, das seine Magie nie verloren hat und Jethro Tulls individuellen Stil bis heute definiert.
Ian Anderson hat sich ebenfalls gut gehalten: Gesund, elegant gekleidet und eloquent wie immer, haben ihm die letzten 40 Jahre, in denen er fast durchgehend kreativ tätig war, trotz mancher Zipperlein offenbar weniger zugesetzt als der Mehrheit seiner Altersgenossen. Die 63 Jahre sieht man ihm jedenfalls nicht an. Und da seine Begeisterung fürs Musikmachen bis heute anhält, spricht nichts dagegen, dass er noch mit 70 aktiv sein wird: ein Vollblutmusiker, der noch immer zündende Ideen hat. Anderson ist zudem auch kein Nostalgiker, der mit feuchten Augen die guten alten Zeiten stets aufs Neue wiederaufleben lässt. Auf die Frage, ob sich AQUALUNG für ihn tatsächlich wie ein 40 Jahre altes Album anfühlt, antwortet er spontan: „Nun, manche Songs sind tatsächlich im Jahr 1971 verhaftet geblieben, weil wir sie nur selten live gespielt haben. Drei oder vier der Stücke etwa sind erst in den letzten zwei, drei Jahren zum ersten Mal aufgeführt worden. Andere Songs hingegen gehören seit Urzeiten zum Programm. Da ›Aqualung‹ und ›Locomotive Breath‹ so etwas wie ständige Begleiter sind, ist es schwer für mich, in Jahrzehnten zu denken. Ich erin-nere mich bei diesen Liedern eher an die 30, 40 Stunden, die vergangen sind, seit ich sie zuletzt gespielt habe. Es ist schwierig für mich, diese Songs von meiner momentanen Situation abzukoppeln und in einem historischen Kontext zu betrachten. Wenn man auf Tour ist und diese Stücke jede Nacht spielt, empfindet man sie nicht als Artefakte mit historischem Charakter. Das gilt auch für die meisten anderen Songs, denn immerhin handeln sie von gesellschaftlichen Realitäten.“
Das Verhältnis des Progrock zur Realität war häufig eher distanziert und komplex, nicht zu-letzt deshalb, weil ein musikalisches Ethos regierte, das abenteuerlustig in ferne Welten lugte und Fiktionales bevorzugte. Wenn in ›Aqualung‹ beschrieben wird, wie der Antiheld unter „de-cember’s foggy freeze“ leidet, wenn der damals noch jugendliche Anderson in ›Wind Up‹ mit der institutionalisierten Kirche hadert, dann wird der Unterschied klar: AQUALUNG ist ein Album, das tief in der echten Welt verankert ist.
„Aus diesem Grund haben die Songs dem Zahn der Zeit ganz gut widerstanden“, so Anderson, „sie sind noch immer relevant. Ich erinnere mich da-ran, was mir durch den Kopf ging, als ich den Text zu ›Locomotive Breath‹ schrieb: Es ging um die Überbevölkerung. Es ist selbst heute nicht hundertprozentig politisch korrekt, sich über die zunehmende Globalisierung, die Bevölkerungs-explosion oder das Anwachsen von Industrie und Kommerz zu äußern – doch genau davon handelt Song. Der Zug rast immer weiter führerlos durch die Lande, und man fühlt sich hilflos, weil man ihn nicht mehr stoppen kann. In 40 Jahren werden neun Milliarden Menschen auf der Erde leben, und es gibt wenig Hoffnung, dass sie alle ernährt werden können. Was Wasser, Nahrung und die Qualität der Luft angeht, kommen wir jetzt schon nicht mehr zurecht, obwohl die Sieben-Milliarden-Grenze noch nicht erreicht ist. Nichtsdestotrotz beuten wir die Ressourcen des Planeten immer weiter aus, ohne langfristigen Plan. ›Locomotive Breath‹ befasst sich mit genau diesem Thema.“
Ebenso präzis in Sachen Botschaft ist ›Aqualung‹, der Titeltrack des Albums. Das Lied ist weit mehr als das ironische Porträt eines Penners, der „Stücke seines zerbrochenen Glücks ausspuckt“ – nämlich eine echte Herzenssache für Ian Anderson: ein indirekter, aber aufrichtiger Aufruf zur Nächstenliebe. „›Aqualung‹ handelt von Obdachlosen“, so Anderson, „aber was noch wichtiger ist: von unserer Reaktion auf ihre Existenz. Die Reaktionen all derer, die sich glücklich schätzen dürfen, ein Heim, womöglich ein wenig Wohlstand und Glück, eine Familie, Freunde und Unterstützung zu haben. Es geht um unsere Gefühle wie Schuld und Abscheu, unsere Unbeholfenheit und Verwirrung, all die Dinge eben, die offenbar werden, wenn man uns mit Obdachlosen konfrontiert. Egal, ob es dieser Tramp im Sinne von Chaplin ist, der auch das Artwork ziert, oder ein 17-jähriger Krimineller, der drogensüchtig ist, sich prostituiert oder was auch immer. Obdachlosigkeit unterliegt längst einem demografischen Wandel. Als ich jung war, hatten Vagabunden eine andere gesellschaftliche Stellung. Sie mochten obdachlos sein, besaßen aber eine gewisse Würde. Heute be-trachtet man sie eher als soziale Bedrohung, die viel stärker als damals Schuldgefühle und auch eine gewisse Unbeholfenheit hervorruft.“
Im Gegensatz zu so vielen anderen Alben, die zur Blütezeit des Progrock in den frühen siebziger Jahren entstanden sind, ist AQUALUNG ein er-staunlich prophetisches Werk. Dass Anderson den Titeltrack seit 40 Jahren überall auf der Welt live spielt, brachte ihn ganz automatisch dazu, dessen Text-Botschaft immer wieder aufs Neue zu überdenken: „Ich habe das schon so oft erlebt. Man sieht jemanden, der offensichtlich dringend Hilfe braucht, und seien es nur ein paar Münzen – doch man blendet seine Existenz ganz einfach aus. Wenn man in der Schlossallee residiert, in dieser Welt des Überflusses, wenn man einen vom Kommerz getriebenen Lebensstil verfolgt, dann hört man auf, diese Leute wahrzunehmen. Das ist die Erkenntnis, die ich mit AQUALUNG verbinde – nicht die zwölf Millionen verkaufter Exemplare oder was auch immer. Einige Songs des Albums berühren mich noch heute, wenn ich sie singe – und auch, wenn ich über sie rede. Es ist ganz leicht, einen Song wie ›Aqualung‹ zu performen und die Essenz zu fühlen. Die ständige Wiederholung schmälert das Erlebnis keineswegs.“
Musikalisch betrachtet, markiert AQUALUNG nicht nur einen Meilenstein in der Entwicklung von Jethro Tull, sondern des gesamten Rock-Genres. Tulls erste drei Alben, THIS WAS (1968), STAND UP (1969) und BENEFIT (1970), waren fantasievolle, aber letztlich doch auch konventionelle Werke, die noch massiv im damals populären Bluesrock verhaftet waren. Zwar unterschieden sich Jethro Tull dank Andersons Flötenspiel bereits damals von ihren Mitstreitern, aber erst auf AQUALUNG fand die Band ihren eigenen Stil. Und der hatte viel zu tun mit der noch jungen Prog-Szene, deren Klanglandschaften Bands wie King Crimson und Pink Floyd geprägt und verfeinert hatten. AQUALUNGs Erfolg kann man zum Teil gewiss der Art und Weise zuschreiben, wie das Album die Lücke zwischen einfachen, kraftvollen Riffs, Experimentierlust und stilistischer Fremdgeherei schloss (was später als Kernelement des Progrock wahrgenommen werden sollte).
Anderson hat seine eigene Theorie darüber entwickelt, warum gerade diese Songsammlung als Tulls Meilenstein gefeiert wird: „Es gab damals jede Menge brillanter Songwriter, die uns als Vorbilder dienten. Die Frühphase von Simon & Garfunkel und Bob Dylan, dann das so genannte Folk-Revival in den USA bis hin zu Leuten wie Bert Jansch, die Songs über Heroin und den Tod verfassten. Der wunderliche, leicht philosophisch angehauchte Roy Harper übte ebenfalls einen großen Einfluss aus, nicht nur auf mich, auch auf andere Musiker. Wir schulden ihm eine Menge, denn er lehrte uns Geradlinigkeit und Simplizität. Ich höre seine Musik noch heute. Sie erinnert mich ständig daran, dass weniger auch mehr sein kann, sei es musikalisch oder textlich.“
Mit verändertem Line-up, bestehend aus Gi-tarrist Martin Barre, Keyboarder John Evan, dem neuen Bassisten Jeffrey Hammond und Schlagzeuger Clive Bunker (für den es das letzte Tull-Album werden sollte), begann die Band ihre Ar-beiten an AQUALUNG. Neu war auch der An-satz: Man ging mit besten Vorsätzen und wesentlich ambitionierter als bisher ans Werk – vor allem was die musikalischen Möglichkeiten be-traf, die es kollektiv abzurufen galt.
Interessanterweise hatte auch Ian Anderson neue Entwicklungsmöglichkeiten für sich ent-deckt. So nahm er all seinen Mut zusammen und betrachtete AQUALUNG als ideales Vehikel, um mehr Selbstvertrauen als Songwriter und kreativer Leiter zu gewinnen: „Es war das erste Mal, dass ich mich traute, alleine ins Studio zu gehen, um dort einen Song vor mich hin zu klimpern. Dann kamen die Jungs dazu und ergänzten ihre Parts, aber die Songs waren zu diesem Zeitpunkt schon mehr oder minder fertig. Es brauchte nicht mehr viel, und sie begannen zu leben. Die Leute vergessen manchmal, dass einige der Lieder nicht von einer Rockband in vollem Galopp eingespielt worden sind, sondern nur aus Gesang und Aku-stikgitarre bestehen, also sehr reduziert klingen. Aber natürlich gab’s auch ein paar Rocker…“
Die Aufnahmen begannen im Dezember 1970 im Island Studio in der Londoner Basing Street. Bekanntermaßen waren damals auch Led Zeppelin im Hause, die im kleineren der beiden Studios gerade ihr kommendes Meisterwerk LED ZEPPELIN IV zusammenzimmerten. Led Zeps Aufnahmeraum beschreibt Anderson als den „besser klingenden“, der auch „viel leichter in den Griff“ zu bekommen war. „Das Gebäude war eine Kirche, und wir saßen quasi im Gewölbe fest – ein schrecklicher, kalter und vor allem stark hallender Raum. Es herrschte eine gespenstische Atmosphäre, die es einem nicht leicht machte, alleine dazusitzen und einen Song auf der Akustischen zu spielen. Ich musste mich erst innerlich darauf einstellen. Es gab auch ständig technische Probleme. Das Studio war ganz neu, ebenso das Aufnahme-Equipment. Da wurde haufenweise falsch verkabelt, die Geräte liefen nicht so, wie sie sollten, und wir hatten keine Ahnung, wie die Dinger klingen würden. Ein, zweimal wollten wir den anderen Raum benutzen, doch Led Zeppelin brachten ein Schloss an, das war’s dann.“
40 Jahre später ist AQUALUNGs Status als Meilenstein der Rockgeschichte eine ausgemachte Sache, doch wenn vor dem geistigen Auge Bilder auftauchen, in denen ein damals wildbärtiger An-derson gerade seine Flöte poliert, während Jimmy Page im Korridor vorbeispaziert, dann ist man geneigt zu glauben, dass bereits während der Aufnahmesessions der Atem der Geschichte durchs Studio wehte. War es für die Band absehbar, dass sie an einem enorm wichtigen Album arbeitete – oder betrachtete sie es nur als weitere Pflichtaufgabe auf dem Weg nach oben?
„Es war klar, dass es ein Top-oder-Flop-Werk war, das entweder unser erster Schritt in Richtung Weltkarriere sein oder uns um Jahre zurückwerfen würde.“ Anderson kichert rau, amüsiert vom Gedanken, dass sich die Glücksgöttin auch anders hätte entscheiden können: „Ich erinnere mich daran, wie wir dem Album den finalen Mix verpassten. Es war der letzte Studiotag. Um sechs Uhr morgens stolperte ich mit John Evan aus dem Studio, wir gingen zum Frühstück in ein Restaurant um die Ecke, während die Sonne aufging. Ich sagte zu ihm: ‚Ich hab keine Ahnung, was ich von der Platte halten soll. Glaubst du, dass sie okay sein wird?‘ Ich hegte wirklich massive Zweifel, ob AQUALUNG ein Schritt in die richtige Richtung war. Zudem befürchtete ich, dass das Album von der Kritik verrissen würde, was damals noch das Aus für eine Band bedeuten konnte. Es gab eben nur vier oder fünf Musikmagazine, und jedes davon würde uns eine ganze Seite widmen – mit Liebe oder Hass, je nach Standpunkt. Also konnten wir die Zeitungsstände in der Oxford Street nicht einfach ignorieren. Doch in England wurde das Album ganz gut aufgenommen, in einigen europäischen Ländern und in den USA schlug es sogar ein wie eine Bombe.“
Trotz ihrer traditionell großen und loyalen Fan-Gefolgschaft in Großbritannien und auf dem europäischen Kontinent war es der Erfolg in den USA, der Tull in den Rang von Superstars erhob – zur Überraschung aller Beteiligten, Ian Anderson eingeschlossen. Tulls Pseudo-Konzeptalbum THICK AS A BRICK, das ein Jahr nach AQUALUNG erschien, landete auf Platz eins der amerikanischen Charts. Die Band, deren Selbstverständnis von einer gewissen Verschrobenheit geprägt war, wurde plötzlich als Rock-Act gehandelt, der die Stadien füllte. Noch dazu in einem Land, bei dem eine feindselige Reaktion der Einwohner nicht überrascht hätte: Einige der Texte auf AQUALUNG sprechen dem gottesfürchtigen Durchschnittsamerikaner sicher nicht gerade aus der Seele. Stücke wie ›My God‹ und ›Wind Up‹ hatten deutlich offenbart, dass Anderson willens war, ein paar unbequeme Fragen zu stellen, z.B. was den Glauben generell bzw. die Religion und ihren Einfluss auf die Massen angeht. Heutzutage würde sich wohl niemand mehr über die relativ zahmen Unmutsbekundungen aufregen, doch 1971 galten Tull als ziemlich radikale Band. Vor allem in jenen Teilen Amerikas, in denen der Schatten der Kirche alles und jeden erfasste.
„Innerhalb eines Jahres erregten wir in manchen Gegenden recht viel Aufsehen“, so Anderson, „was sicher den religionskritischen Passagen auf AQUALUNG geschuldet war. Im Süden verloren sie sogar ein wenig die Contenance, veranstalteten rituelle Album-Verbrennungen. Nun, wir hatten es kaum anders erwartet. Aber es gab nie direkte Konfrontationen oder gar Bedrohungen. Ich vermute, dass unser Management diese Dinge von uns fernhielt.“ Dass Anderson stellenweise auch missverstanden wurde, liegt auf der Hand: „Es ging mir ja nicht um die religiösen Werte, die in der Bibel vermittelt werden oder um die Rituale des Gottesdienstes. Das war unwichtig. Ich wollte, dass wir die Spiritualität in allen Menschen wahrnehmen, also auch im Va-gabunden aus ›Aqualung‹ und der ›Cross Eyed Mary‹, einer Prostituierten. Musik spielt dabei eine tragende Rolle – man denke nur an Gottesdienste. Ich versuchte, mit diesen Songs deutlich zu machen, dass Spiritualität keineswegs den ritualisierten Pomp benötigt, der in fast allen Kirchengemeinschaften der Normalfall ist – nicht nur in der christlichen, nebenbei bemerkt. Ich war damals 24 Jahre alt, hatte nie eine Universität besucht oder gar Philosophie studiert, sondern befand mich einfach auf der Suche.“
Dass Anderson ein so bahnbrechendes Werk bereits in jungen Jahren kreierte, hatte einen entscheidenden Vorteil: Songs wie ›Aqualung‹, ›My God‹ und ›Locomotive Breath‹ gehören seit Jahrzehnten zu seinem Repertoire, was ihm natürlich Gelegenheit gab, ihre Inhalte immer wieder zu hinterfragen. Mit anmaßendem Atheismus hat er wenig am Hut, stattdessen schwärmt er von alten Kirchengebäuden, diesem „wunderbaren Erbe an historischen Bauwerken“. Er ist davon überzeugt, dass der christliche Glaube die Menschen zusammenbringen kann (und sollte). In einem Punkt aber meldet er Bedenken an: „Wenn jemand behauptet, Gott gefunden zu haben und vom Glauben durchdrungen ist, weckt das den Zyniker in mir. Am liebsten würde ich sagen: ‚Was für ein Schwachsinn!‘, denn ich weiß, dass selbst respektable Kleriker Zweifel äußern – möglicherweise erst nach ein paar Gläsern Rotwein, die ihre Lippen lösen. Es gibt Tage, da befürchten sie, ihren Glauben verloren zu haben. Ein Kirchenmann sagte mal zu mir: ‚Glaube und Zweifel gehören zusammen‘, und es war erfrischend, das aus seinem Mund zu hören. Kirchenleute sollten ruhig zugeben, dass sie mal zu 50, mal zu 80, mal zu 90 Prozent an Gott glauben. Doch wenn sie behaupten, immer hundertprozentig sicher zu sein, dann geben sie sich einer Illusion hin. Ich würde gerne den Papst fragen, was er darüber denkt. Ich traf zwar einmal den Erzbischof von Canterbury, aber es war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, um mit ihm darüber zu sprechen. Zudem wäre interessant, ob jemand, der in der anglikanischen Kirche eine philosophisch und scholastisch herausragende Position hat, Zweifel am absoluten Glauben einräumen würde. Aber ich wäre sehr überrascht, wenn er es nicht täte.“
Doch zurück zu AQUALUNG, besser gesagt: seinem ikonischen Cover. Nach den eher exzentrischen Artworks der ersten drei Alben entschied sich die Band 1971 für eine Aquarellzeichnung, die den Vagabunden des Titelsongs darstellt – der zudem verdächtig an einen gewissen jungen Sänger und Flötenspieler erinnert. „Nun, es ist nicht mein Album-Cover“, stellt Anderson ein wenig schmallippig klar. „Ich mochte es nicht, aber Ter-ry Ellis, unser damaliger Manager, setzte seinerzeit alles daran, Chrysalis Records zu etablieren. Terry neigte dazu, Dinge in letzter Minute zu ändern, um allem seinen Stempel aufzudrücken. Das Cover des ersten Albums war meine Idee, bei der zweiten Platte setzte Terry dieses holzschnittartige Design durch, und auch das Aufstellbildchen ging auf sein Konto. Das Artwork von BE-NEFIT gefiel mir ebenso wenig. Während der Ent-stehungsphase von AQUALUNG entdeckte er ein Bild im Time Magazine. Das gefiel ihm, und er eruierte den Namen des Künstlers und beauftragte ihn, Entwürfe zu liefern. Wir probten gerade, als Terry mit diesem Typen auftauchte, der ein paar Fotos von mir schoss. Ich trug damals einen uralten Mantel, den ich schon seit den Anfangstagen von Jethro Tull besaß. Ich hielt es für keine gute Idee hielt, die Cover-Figur so aussehen zu lassen wie mich. Ich sang zwar ein Lied über diesen Typen – aber ich war nicht er.
Doch es kam, wie es kommen musste: Wir be-kamen schließlich dieses Artwork zu sehen, auf dem eine Figur abgebildet war, die mir ähnelte. Ich war nicht allzu glücklich und hielt das Bild zudem für ziemlichen Mist. Es war zwar lebendig gemalt, aber ich mochte die Farben nicht. Einfach schlecht. Das Artwork hatte weder den Biss noch die Klarheit, die ich mir gewünscht hatte. Ich mochte dieses Albumcover noch nie.“
VERWALTUNGSKUNST
Er gilt als die Schnittstelle zwischen der Band und der Außenwelt: Terry Ellis. Der Brite, der lange Jahre für Jethro Tull als Manager gearbeitet hat, verrät im CLASSIC ROCK-Interview Details und Anekdoten aus der Anfangszeit der Band.
Als Terry Ellis, zukünftiger Manager und Produzent von Jethro Tull, der Band erstmals über den Weg lief, firmierte sie noch unter einem anderen Na-men. „Ich hatte Mitte bis Ende der Sechziger eine Konzertagentur mit Chris Wright, sie hieß Ellis-Wright. Wir buchten vornehmlich Bluesbands. Chris entdeckte diese achtköpfige Gruppe aus Blackpool, die sich damals „The John Evan Smash“ nannte und deren Chef Ian Anderson war. Wir holten die Band nach London und machten sie mit dem Gitarristen Mick Abrahams bekannt.“
Übrig blieben nach kurzer Zeit Anderson, Abrahams, Bassist Glenn Cornick und Schlagzeuger Clive Bunker. Sie tauften sich in Jethro Tull um und übertrugen Ellis das Management. „Die Verbindung zwischen der Band und mir wurde enger, weshalb ich auch die Rolle des Produzenten übernahm. Ich sah meine Aufgabe Anfang der Siebziger aber in erster Linie darin, der Band den organisatorischen Kram abzunehmen.“
Nach drei gemeinsamen Alben wollte sich Ellis daher aus der Produktion von AQUALUNG weitgehend heraushalten, da er damals mit anderen Dingen alle Hände voll zu tun hatte: „Gemeinsam mit Chris Wright lancierte ich damals gerade das Chrysalis-Label, weshalb die Band ohne mich mit den Aufnahmen begann. Doch dann rief mich Ian an und meinte, dass er bei der Produktion Hilfe brauche.“
Ellis betrachtet AQUALUNG noch heute als Meisterwerk: „Es ist mein Lieblingsalbum von Jethro Tull, ich liebe die Kombination aus akustischem Material und ausschweifenden Rocksongs. Das Stück ›Mother Goose‹ ist etwas ganz Besonderes und bringt auf den Punkt, warum mir die Band damals so viel bedeutete.“ Für ein Konzeptalbum hielt er AQUALUNG dagegen nie: „Um ehrlich zu sein, behauptete das damals auch niemand. Mir kam das auch nie in den Sinn, denn ich wusste ja, dass es keines war.“
VERPACKUNGSKUNST
Trotz Andersons Einwänden avancierte das Cover von AQUALUNG zu einem der beliebtesten und bekanntesten Artworks der frühen Progrock-Ära. Als das Album 1971 erschien, brachten die Fans Burton Silvermans Bild umgehend mit Jethro Tulls Musik in Verbindung. Der Cover-Künstler erinnert sich in CLASSIC ROCK an die Gestaltung von Jethro Tulls berühmtester Plattenhülle.
Burton Silverman möchte unbedingt mit einem Mythos aufräumen – nämlich mit dem, dass die Figur auf AQUALUNG auf der Person Ian Anderson basiert: „Nein, es ist definitiv nicht Ian. Sondern ich selbst. Ich begann mit einem Selbstporträt und entwickelte es schließlich in eine fiktionale Richtung weiter.“ Als Silverman den Auftrag für das Cover annahm, hatte er mit Rock’n’Roll nicht viel am Hut. „Es war Terry Ellis, der mich kontaktierte. Damals hatte ich eine Menge Illustrationen für das Time Magazine und Esquire an-gefertigt, und ich schätze, dass das der Grund war, warum ich ausgewählt wurde. Die Band bezahlte mir also einen Flug nach London, wo ich bei den Proben zuhörte und mit den Musikern über das Konzept diskutierte.“ Da er kein Fan von Rockmusik war, empfand Silverman Jethro Tulls Performance als ziemlich schrecklich – und als viel zu laut. „Ich war damals mit meinen 42 Jahren schon zu alt dafür. Sie hatten sechs sehr lau-te Verstärker, die alles um mich herum quasi in die Luft sprengten. Eine außergewöhnliche Erfahrung.“ Dennoch sagte er zu, den Auftrag zu übernehmen.
„Die Innenseite enthielt eine Karikatur der Band, die sich in einem kirchlichen Ambiente daneben benahm. Auf der Rückseite prangte der Charakter aus ›Aqualung‹, ein heruntergekommener Bettler. Ich fand, dass das Frontcover wunderbar zum Inhalt der Songs passte.“
Silverman wurde während des bitterkalten Jahreswechsels 1970/71 im Londoner Cumberland Hotel untergebracht, woran er sich noch heute gut erinnert. „Ich stamme aus New York, bin Kälte also gewohnt. Doch selbst für mich war es wirklich unangenehm. Ich fing mir eine böse Erkältung ein, als ich in meinem Hotelzimmer an den Bildern arbeitete.“
Auch wenn Silverman im Lauf der vergangenen Jahrzehnte zu einem hochgeschätzten Künstler avanciert ist, gilt er vielen vor allem als der Mann, der das Cover von AQUALUNG kreiert hat. „Es entwickelte eine Art Eigendynamik. Ich habe aufgegeben, die Leute zu zählen, die mich nur deshalb kennen. Es ist dieses Werk, das meinen Ruhm begründet – was mich ehrlich gesagt ein wenig nervt, denn ich habe noch viele andere Bilder geschaffen.“ Und noch et-was missfällt dem leise sprechenden 83-Jährigen: dass er keinen Penny von der Riesensumme gesehen hat, die sein Artwork über all die Jahre generiert hat. „Es gab keinen schriftlichen Vertrag, sondern lief per Handschlag mit Terry Ellis. Ich verkaufte ihm für eine vergleichsweise geringe Summe die Rechte an dem Bild.
Doch über die Jahre wurde das Artwork immer wieder für alle möglichen Dinge verwendet – Klopapier ausgenommen.“
Silverman erklärt, dass seine Vereinbarung mit Ellis nur das LP-Cover eingeschlossen habe, sonst nichts. Um am Erfolg seines Artworks doch noch beteiligt zu werden, schrieb er vor einigen Jahren einen Brief an Ian Anderson. „Mir war aufgefallen, dass es inzwischen auf allerlei Merchandising-Artikeln verwendet worden war. Also fragte ich Ian, quasi von Künstler zu Künstler, ob ich dafür ein Extrahonorar bekommen könnte. Doch alles, was ich von ihm erhielt, war eine knappe Mitteilung, dass Jethro Tull die alleinigen Rechte besäßen und ich keine weiteren Ansprüche hätte.“
Was den Verbleib von zwei der drei Bilder be-trifft, kann Silverman eine seltsame Geschichte er-zählen: „Vor etwa zwei Jahren rief mich jemand aus Florida an und verlangte 1.000 US-Dollar für das Original des Frontcovers. Er erwähnte auch, dass sein Schwager das Original der Cover-Rückseite besäße und fragte, ob ich bereit sei, eines davon oder sogar beide Bilder zu kaufen. Ich hielt den Preis für überteuert und wusste auch nicht, ob es tatsächlich die Originale waren. Der Typ behauptete, seine Mutter hätte die Bilder in einem Londoner Hotelzimmer gefunden, was nun wirklich schräg ist: Was hatte sie in diesem Zimmer zu suchen – und warum sind die Bilder nicht bei der Hotelverwaltung abgegeben worden? Dann änderte er seine Geschichte und behauptete, seine Mutter hätte die Bilder als ‚kleines Geschenk‘ erhalten. Aber von wem? Die ganze Geschichte bleibt mysteriös, denn als ich fragte, ob er mir die Bilder zur Prüfung der Echtheit zusenden würde, brach er den Kontakt ab. Ich hatte zugesagt, für den Transport zu zahlen und eine Erklärung zu unterzeichnen, dass ich die Bilder nur kurz prüfen und dann zurückschicken würde. Es ist mir leider nicht gelungen, Terry Ellis zu kontaktieren, um herauszufinden, wo die Originale sind. Das Bild der Innenseite scheint jedenfalls verschollen zu sein.“