Schlüssige Analyse von Dylans (Spät-)Werk.
Wann beginnt Bob Dylans Alterswerk? Gar keine leichte Frage. Viele sind der Meinung, mit dem ebenso famosen wie offenherzigen Album TIME OUT OF MIND von 1997. Der Literatur- wissenschaftler Heinrich Detering favorisiert LOVE AND THEFT (2001). Als Kriterium dient ihm ein Wechsel beziehungsweise eine methodische Forcierung in Dylans Songwriting. Nun war der schon immer ein Meister des Zitats und der Textmontage. Habe Dylan seine Zitate früher aber zumeist markiert und so offengelegt, so bestünden weite Teile seiner Songlyrics nach der Jahrtausendwende aus nicht gekennzeichneten Versatzstücken fremder Texte, so Detering. Ob es nun antike Schriften, Renaissancedichtungen, Shakespearedramen, Filmdrehbücher oder Bluestexte sind. Die Einflüsse reichen bis zu den Büchern des japanischen Autors Jun’ichi Saga. Texte aus verschiedenen Zeiten und Kulturen, Stimmen aus einem „Chor der Lebenden und der Toten“, die Dylan in seinen Stücken mit seiner eigenen Stimme vereine und zu neuem Leben erwecke. Gerade durch die Loslösung der vorgefundenen Fragmente aus ihrem historischen Kontext würden verborgene geschichtliche Muster erkennbar werden, zeitlos menschliche Empfindungen wie Einsamkeit, Verlust, Angst, Liebe. So entstehe „Dichtung, die anthropologische Grundsituationen wiedererkennbar ausspricht in der Polyphonie der heterogenen Kulturen und Bilder, der Texte und Sprachen.“ Man erkennt an diesem Ausschnitt: Vorliegendes Buch ist ein wissenschaftlicher Text, man muss sich ein bisschen reindenken, dann aber liest es sich gut und keineswegs sperrig, auch dank prägnanter Einsichten wie: „Bei Dylan hat Ovid den Blues. Und der Blues hallt durch die Gewölbe der Antike.“ Seine Thesen untermauert Detering anhand einzelner Songanalysen – ›Workingman’s Blues #2‹, ›Tempest‹, ›Roll On John‹ – und des Theaterfilms „Masked And Anonymous“ aus dem Jahr 2003. Großartig ist, wie der Bogen geschlagen wird vom BLOOD ON THE TRACKS-Stück ›Shelter From The Storm‹ (1975) zu Dylans aktuellem Album SHADOWS IN THE NIGHT, das hier eben nicht als Ansammlung von Cover-Versionen, sondern als durchgeplantes Konzeptwerk erscheint. So gelingt es Detering, den Fokus auf Dylans jüngste Arbeiten zu legen und die Perspektive zugleich auf sein Gesamtwerk hin zu öffnen.
Die Stimmen aus der Unterwelt: Bob Dylans Mysterienspiele
VON HEINRICH DETERING
C.H.BECK
8/10