2
Bruce Springsteen, LETTER TO YOU, COLUMBIA/SONY
Im Jahr zuvor hatte er mit WESTERN STARS mal was Anderes probiert. Mit Streichern, Bläsern und vie Pomp badete Bruce Springsteen glamourös und solo in hollywoodscher West-Coast-Nostalgie. 2020 kehrt er heim mit LETTER TO YOU und das natürlich – wie wäre das auch anders möglich – wieder mit der E Street Band. Mehr Bruce und seine „Jungs“ als auf diesen 12 Songs, allesamt im Studio von Bruces Farm in New Jersey aufgenommen, könnte man sich nicht wünschen. Drei Nummern davon stammen aus der früheren Feder des jüngeren Bruce Springsteen. Ausnahmslos fügen sich ›If I Was A Priest‹ und ›Song For Orphans‹ in den neugeschriebenen Rest ein. Ganz besonders spektakulär gelingt das mit ›Janey Needs A Shooter‹, das einst an Warren Zevon ausgeliehen, jetzt voll und ganz zurückgewonnen und sich einverleibt wurde: eine erneute Demonstration dieser ganz besonderen Synergie zwischen E Street Band und Springsteen, im Allgemeinen und im Speziellen, während dieser gerade mal viertägigen Album-Session.
Zu Beginn setzt sich Bruce mit uns zusammen, unter vier Augen, für das Memento Mori ›One Minute You’re Here‹, begleitet von einer Gitarre, sonst nur unterlegt mit einer funkelnden Soundfläche. Bei seiner damals aktuellen Rezension im Oktober hätte Kollege Numberger die Textstelle nicht treffsicherer aussuchen können – mit dem „autumn carnival on the edge of town“ darf sich der Hörer
wirklich versichert sein: Wir sind wieder zurück in Springsteens ureigener Asbury-Welt. Mit dem Titelstück hellt sich die Atmoshäre auf. Max Weinberger peitscht den Song an und Springsteen schwört in seinem Brief, sei er an sein Gewissen, seine Liebe, das Göttliche, das Jenseits oder an uns gerichtet, alles aufrichtig auf den Tisch zu legen. So wie er halt ist, der Bruce. Temporeich wird es in der Folge mit ›Burnin’ Train‹. Die E Street Band, in all ihrer Breite und Dichte, ist voll da. Dazu sind die Texte mal subtil politisch, doch deutlich unmutig (›Rainmaker‹), mal gnadenlos romantisch – fast immer ohne dabei kitschig zu werden – (›The Power Of Prayer‹), oder besingen erhebend die Geister der eigenen vergangenen und künftigen Rock’n’Roll-Alchemie (›Last Man Standing‹, ›House Of A Thousand Guitars‹, ›Ghosts‹). LETTER TO YOU ist so ziemlich das Beste, das Springsteen und die E Street Band seit 2002 mit THE RISING gemacht haben. 2021 müssen diese Stücke nur noch auf die Bühne, wo sie hingehören: 1,2,3,4 …
Anspieltipps: ›Burnin’ Train‹, ›Janey Needs A Shooter‹, ›If I Was A Priest‹, ›Ghosts‹ (unvollständige Auswahl) Paul Schmitz
1
AC/DC, POWER UP, COLUMBIA/SONY
Wir alle hatten es nicht leicht in diesem Jahr. Die einen vielleicht etwas leichter, die anderen um ein vielfaches schwerer, aber von seiner besten Seite hat sich 2020 ja nun wirklich niemandem präsentiert. Bis plötzlich Ende September ein roter Neonblitz durch das Internet flackerte und die frohe Botschaft eines nahenden Wunders verkündigte. Ein Wunder, welches nicht etwa den Namen eines mirakulösen Impfstoffes trägt, nein, auch nicht Jesus, Christkind oder Nikolaus heißt – sondern auf den liederlichen Namen POWER UP hört und den in Vinyl (oder CD) gegossenen Heiland höchstpersönlich darstellt. Strenge Christen mögen der Autorin jetzt wünschen, dass sie ob dieser Blasphemie in der ewigen Hölle schmore, und man kann ihnen nur entgegnen, dass man ehrlich nichts lieber tun würde, als mit Bon und Malcolm da unten in einem heißen Whirlpool Whiskey trinkend über POWER UP zu sprechen. Man geht nämlich mit ziemlicher Sicherheit davon aus, dass die beiden stolz darauf wären, wie ihre Bandkollegen da oben der ganzen Rockwelt eine Auszeit von dieser verdammten irdischen Tristesse gewährten.
Denn genau das ist POWER UP: nicht mehr und nicht weniger als die unverhoffte Rettung. Mal unter uns: Wer hätte nach dem tragischen Ende der letzten „Rock Or Bust“-Tournee denn wirklich noch mit so etwas gerechnet? Wer hätte auch nur ahnen können, dass Brian eine Kur für seine geschädigten Ohren finden, Phil seine Konflikte mit dem Gesetz in den Griff bekommen und Cliff Williams sich zu einem Wiedereinstieg bewegen lassen würde? Und selbst im Falle einer Reunion: Wer hätte es kommen sehen können, dass die inzwischen doch wirklich betagten Herren von AC/DC mit ihrem 14. Studioalbum nochmal einen derartigen Rauch aufziehen wollen? Dass sie mit einem Grower wie
›Realize‹ eröffnen, knackige StraßenköterSongs wie ›Kick You When You’re Down‹ oder ›Demon Fire‹ liefern und mit ›Through The Mists Of Time‹ nostalgisch durch die Vergangenheit schunkeln würden?
Selbst devote Fans und angesehene Experten hatten nach dem doch etwas durchschnittlich geratenen ROCK OR BUST nicht mehr mit einem solchen Dampfhammer gerechnet. Mit einem Album, das einem mit den ersten sieben Songs eine satte Watsche nach der nächsten verpasst. Mit Liedern, die man sich
wieder und wieder anhören will und nicht nur aus Sammelzwang oder der Vollständigkeit halber zum Verstauben in den Plattenschrank stellt. Man selbst muss jedenfalls zugeben, dass man wirklich zitterte, als man POWER UP vor drei Monaten zum ersten Mal in den Player warf und inbrünstig zu Bon
und Mal betete, auf dass dieses Album gute alte AC/DC-Qualitäten bieten würde. Seit zweieinhalb Monaten läuft diese CD nun täglich im Auto. Und hat noch keinen Funken an High-Voltage-Rock’n’Roll eingebüßt.
Anspieltipp: ›Kick You When You’re Down‹ (Jacqueline Floßmann)