Ein überraschendes neues Kapitel im Leben der Chrissie Hynde könnte das Ende der Pretenders bedeuten.
Es muss eine Szene gewesen sein wie aus einer romantischen britischen Filmkomödie à la „Notting Hill“ oder „Mitten ins Herz – ein Song für dich“: Junger, erfolg- und mittelloser Songschreiber fasst sich, auch weil er schon ein paar Drinks intus hat, auf einer Party ein Herz und spricht die berühmte Musikerin an. Die lehnt, ebenfalls nicht mehr ganz nüchtern, gelangweilt an der Bar. Was da an einem Novemberabend 2008 in London seinen Anfang nahm, ist eine Geschichte, für die Drehbuchschreiber ihre rechte Hand her-geben würden. Aber sie ist wahr – und ihr Ausgang und ihre Folgen durchaus ungewiss.
„Das Leben ist eben einfach für die unglaublichsten Überraschungen gut. Ich für meinen Teil hätte mir so etwas nie träumen lassen. Aber jetzt muss ich halt mit den Folgen der Geschichte leben“, seufzt Chrissie Hynde beim Gespräch mit CLASSIC ROCK. Denn sie, die 59-jährige Amerikanerin, einst eine Heldin der jungen Punk-Bewegung und über die Jahrzehnte bis heute mit ihrer Band The Pretenders eine durch manche Höhen und Tiefen erstaunlich verlässliche Lieferantin zeitlos guter Rockmusik, war die Dame am Tresen. Der etwas abgerissen aussehende, aber irgendwie unwiderstehlich charmante junge Musiker, der sie ansprach, heißt JP Jones, ist in der Nähe eines Rummelplatzes in Wales aufgewachsen (das ist für den weiteren Fortgang unserer Ge-schichte noch von Bedeutung) und hatte vor jener schicksalhaften Begegnung bereits einige ernüchternde Erfahrungen mit dem Musikbusiness hinter sich.
Hynde flog bereits am Tag nach besagter Begegnung zu einer Tournee in die USA – es galt, das aktuelle Pretenders-Album BREAKING UP THE CONCRETE zu promoten. Aber irgendetwas an der offenen, jovialen Art des jungen Walisers zog sie an. So hatte nicht zuletzt das Reizwort „Rummelplatz“ eine Saite in ihr anklingen lassen – Rummelplätze („Fairgrounds“) waren schon immer Orte voller Faszination und Sehnsucht für sie gewesen. Und deshalb hatte sie JP ihre Telefonnummer da gelassen. Über die nächsten Wochen intensivierte sich der Kontakt, Jones schickte Hynde Songideen und mp3s. „Und ich war überrascht von ihrer Qualität, es war klar, dass da kein Aufschneider oder Spinner am Werk war.“
Als Hynde von der Tour zurück in ihre Wahlheimat London kam, trafen sich die beiden auf einen Kaffee – und dabei kam die Amerikanerin spontan auf eine etwas abenteuerliche Idee: „Kurz zuvor hatte mir mein Friseur erzählt, dass er jüngst auf Kuba gewesen war. Und ich dachte mir: ,Kuba wird nicht mehr lange das sein, was es im Moment noch ist. Ich sollte es mir bald einmal ansehen!‘ Nun hatte ich nach der US-Tour das Gefühl, etwas Erholung und Sonne brauchen zu können. Und plötzlich höre ich mich, wie ich JP einlade, mit mir nach Kuba zu fahren.“
Unter der wärmenden Sonne entdeckten die beiden recht schnell, dass sie nicht nur professionellen Respekt füreinander empfanden. Aber, erklärt Hynde im Interview sehr offen: „Mir war rasch klar, dass wir als Paar keine Zukunft haben können. Ich bin fast 30 Jahre älter als JP – er wird eines Tages mal Kinder haben, eine Familie gründen wollen. All das kann ich ihm nicht mehr bieten.“ Was die erfahrene Künstlerin ihrem begabten jungen Verehrer aber bieten konnte, war eine musikalische Partnerschaft: „Wir haben die ganze emotionale Energie, die sich aufgestaut hatte, ins Songwriting investiert. Wir saßen sechs Tage in einem Hotel in Havanna, und die Ideen flogen nur so hin und her“, erinnert sich JP Jones.
Das „Lovechild“, das während der Tage und Nächte von Havanna gezeugt wurde, trägt den Namen FIDELITY! und ist das erste komplette Album, das Chrissie Hynde in ihrer mehr als 30-jährigen Karriere außerhalb der Pretenders einspielte. Die elf Songs wirken wie ein einziges, intensives Zwiegespräch der beiden. „Wenn man in so einer Situation ist wie wir beide damals in diesem Hotelzimmer, also dasitzt und Songs füreinander und übereinander schreibt – da kann man doch nur ehrlich und aufrichtig sein. Aber heutzutage sind so wenige Alben ehrlich und aufrichtig – alle wollen immer nur Hits aushecken“, beschreibt Jones die erfrischend direkte und emotionale Wirkung der neuen Stücke. Und so singen sich die beiden in den Songs von FIDELITY! mit einer fast schon verstörenden Offenheit an. Da hört man etwa Chrissie im Eröffnungsstück ›Perfect Lover‹ mit den Zeilen: „I’ve found my perfect lover but he’s only half my age/He was learning how to stand when I was wearing my first wedding band“, zu Deutsch: „Ich habe meinen perfekten Liebhaber gefunden, aber er ist nur halb so alt wie ich / Er lernte zu stehen als ich zum ersten Mal heiratete“.
Hyndes Haltung in diesem hochemotionalen Dilemma hört sich sehr nach Vernunft und Verantwortungsbewusstsein an – aber ging es im Rock’n’Roll nicht stets um das Gegenteil? „Klar, die Rock-Mythologie predigt, dass man sich kopfüber in seine Leidenschaften stürzen soll“, sagt Hynde, in deren Vita immerhin auch zwei gescheiterte Ehen mit den Kollegen Ray Davies (mit ihm hat sie einen mittlerweile erwachsenen Sohn) und Jim Kerr stehen. „Viele, die diesen Mythos unreflektiert ausgelebt haben, sind heute ganz schön abgefuckt, vor allem Sänger. Aber im wirklichen Leben sollte man eben doch auch seinen Verstand benutzen. Und ich kann einfach die Augen nicht davor verschließen, was der Altersunterschied für JP und mich in ein paar Jahren bereits bedeuten wird.“
Fast ein Jahr nach dem Kuba-Aufenthalt wurde in Studios in Oxford und London das gemeinsame Album FIDELITY! in der neuen Formation JP, Chrissie & The Fairground Boys eingespielt. Es besticht durch einen lockeren, vom Country, Folk und Blues beeinflussten Sound, der sich vom stets sehr tighten, kompakten Stil der Pretenders deutlich abhebt. Die Fairground Boys rekrutieren sich größtenteils aus Mitgliedern einer mit Jones befreundeten Band namens Big Linda. Mit diesem Line-up ist das eigenwillige Pärchen in der Zwischenzeit bereits in Amerika auf Tour gewesen, wo FIDELITY! deutlich früher als in Europa erschien und sehr gut aufgenommen wurde.
JP und Chrissie machen bereits eifrig Pläne für ein weiteres Album mit den Fairground Boys, außerdem möchte Hynde als Produzentin eines Soloalbums von JP Jones fungieren. Was aber bedeutet das alles für die Pretenders? „Ich weiß es im Moment wirklich nicht. Ein weiteres Pretenders-Album kann ich mir im Augenblick nicht vorstellen. Gottlob sind die anderen Bandmitglieder nicht von mir abhängig, weil jeder noch genügend eigene Projekte am Start hat. Demnächst steht eine Pretenders-Tournee in Australien an – und bei der Gelegenheit werde ich das alles mit ihnen besprechen. Und egal, wie mein künftiger Weg aussieht – ich bin sicher, sie wünschen mir Glück dafür!“