Die Fleet Foxes spielen die pastorale Seite aus. Bei der Band of Horses braucht es einen zweiten Blick, um zu sehen, dass sie auf ähnlichem Gelände unterwegs sind: Es geht um das Amerika der alten Meister. Um Holzhütten, Berge und Täler, um die Fotografien von Ansel Adams und das Rückzugsprojekt, wie es Thoreau in seinem philosophischen Essayband „Walden“ notierte.
Henry David Thoreau wählte sich eine Blockhütte bei Concord, Massachusetts aus. Sie lag an einem Weiher namens Wallten, und die Herangehensweise des Philosophen war die der harten Bank. So wenig medial wie möglich wollte der Gelehrte sein Leben im Wald gestalten, so wenig Ablenkung durch die Außenwelt haben von dem, was man vielleicht als Stillleben der Landschaft bezeichnen könnte. Ein möglichst kleines Universum erschaffen, um es möglichst in aller Tiefe zu erfahren.
Eintritt MIRAGE ROCK. So heißt das neue Album der Band Of Horses, einer inzwischen zum Quintett angewachsenen Band um den Sänger und Ober-Songschreiber Ben Bridwell. Es ist ein gutes Album geworden, ein klassisches Drittes vielleicht. In einer längst vergangenen Zeit, in der Musik hauptsächlich auf Vinyl gehört wurde, und dann später für eine Übergangsphase hin zu den digitalen Medien auch auf CD, da wurden Bands an ihren Alben gemessen. Dabei hatte sich dieser Rhythmus etabliert: Das dritte Album macht es. Als Wetterscheide zwischen ewigem Vergessen und ewigem Ruhm konnte man vom dritten Album ablesen, aus welchem Holz eine Gruppe gemacht ist. Das in Realzählweise dritte Album der Band Of Horses hieß INFINITE ARMS und war insofern ein traditionelles drittes Album, als es den Wechsel vom großen Indie-Label Sub Pop zum großen Konzern Sony Music markierte. MIRAGE ROCK erfüllt als viertes Album jedoch die inhaltliche Anforderung des Durchbruch-Dings. Es bringt die ganze Bandgeschichte unter einen Hut. Dies jedoch nicht in Form einer Rückschau, sondern in durchweg noch aufregenderen, noch kickenderen, noch kompakteren Songs.
Mit Bill Reynolds hängt ein Gesprächspartner an einem Telefon in einem Londoner Hotelzimmer, der die Band während der Tour zum zweiten Album CEASE TO BEGIN kennen lernte und mit den Aufnahmen zu INFINITE ARMS ein fester Bestandteil der Band Of Horses gewesen ist. Er kommt wie der Rest der Band aus einem der beiden Carolinas, er spielt Bass; zählt jedoch auch zum Kern, wenn es um das Songwriting geht. „Ich habe mir ein Haus in Ojai gebaut, das liegt im ländlichen Kalifornien“, erzählt der Jeanstyp darüber, wie die Songs der Band entstehen. „Wenn Ben Bridwell und ich zusammen Songs schreiben, dann sendet er mir von irgendeinem Hotelzimmer aus seine Texte. Und ich lasse mir dazu die Harmonien einfallen.“ Es ist ein heißer Tag Ende Juli, und es ist kein Zufall, dass seine Band in Europa weilt. Längst bereisen sie die großen Sommerfestivals, seien es Leeds in England oder Rock Sur Seine in Frankreich. Der Promotion-Einsatz nimmt in diesem Sommer 2012 einen gewichtigen Part ein. Denn MIRAGE ROCK erschien Ende September. Walden kann überall sein
Vor dem Erscheinen hat sich das Quintett auf die Politik geeinigt, an jedem Konzertabend je zwei der neuen Songs zu spielen. Zuviel vorweg nehmen will man schließlich nicht. Unter denjenigen, die trotz völliger Unbekanntheit bei den Fans am besten ankommen, ist ›Knock Knock‹. Der Song ist vorab veröffentlicht worden, und in der Kombination mit dem Video-Clip von Jared Eberhardt steckt soviel von der Band Of Horses, als sei es ein Pars Pro Toto. Wie auf eine Schnur aufgezogen prescht der Backbeat nach vorne, die „Woo woo“-Chöre ziehen Schleifen wie ein Surfer im pazifischen Ozean, und der Refrain ist von hymnischer Kraft. Ein klassischer Feelgood-Song einer Band, die weiß, was Großveranstaltungen brauchen; dabei aber dennoch nicht doof, sondern hinreißend in seinem wilden Dahinfließen. Das Ding ist jetzt: Die Band Of Horses liebt die Beach Boys und Jane´s Addiction ebenso sehr wie Otis Redding und Cee-Lo Green. Es grenzt daher an ein Wunder, dass MIRAGE ROCK so konsistent erscheint. In musikalischen Traditionen und Genres betrachtet, müsste es eigentlich zerfallen. Denn auf die große Eröffnung folgen Country-Rock-Balladen, Südstaaten-Rock-Songs und Folk-Rock-Geschichten in mittleren Tempi. Der erhöhte Pulsschlag, bedingt durch das Weltreisen, hat für MIRAGE ROCK ganz produktiv gewirkt.
Die gesamten Aufnahmen dauerten lediglich sechs Wochen, und sie standen unter prominenter Leitung. Mit Glyn Johns hat sich die Band Of Horses den Rolls Royce unter den Mixkonsolenmeistern des Rock angelacht: Heute 70, wirkte er entscheidend an den Kanon-Werken mit, als Toningenieur, als Mixer oder eben als verantwortlicher Produzent. Aus der langen Liste seiner Aufnahmen seien hier lediglich WHO´S NEXT von The Who und THEIR SATANIC MAJESTIES REQUEST von den Rolling Stones eingefügt. Dass Johns auf der ganzen Erde nur noch in zwei Studios arbeitet, sagt wohl ebenso viel über den Engländer aus. Mit der Band Of Horses ging er in die Sunset Studios in Los Angeles. Doors, Buffalo Springfield. Zwei Stichworte, und dazu ein begeisterter Kommentar von Interviewpartner Bill Reynolds: „Als wir das Studio betraten, da wurden wir Teile einer gut geölten Maschine. Ein cooler, alter Raum. Wenn man ein Album aufnimmt, da gibt es nichts Wichtigeres als Vertrauen. Die Studios und ihre Geräte gaben uns dieses Vertrauen sofort, und dazu Glyn mit all seiner Erfahrung.“
Achte auf die Reihenfolge
Soviel Vertrauen setzt Energien frei. Die Band Of Horses sah sich laut Reynolds ermutigt, auf´s Ganze zu gehen. Aus sechzig, siebzig Songs Grundmaterial wählten sie zügig jene elf aus, die nun unter MIRAGE ROCK firmieren. Und sie spielten sie mit Vergnügen ein: „Gut 90 Prozent der Aufnahmen haben wir live eingespielt, inklusive der Gesangsparts“, sagt Reynolds. Diese alleine wirken schon wie hundertmal aufeinander abgestimmt. Mit vierteiligen Stimmharmonien hat die Band Of Horses schon von Beginn an operiert. Vor allem in ihrer countryesken Form zählen sie zu den Charakteristika der Band. Doch nun erreichen sie eine neue Qualität: fein austariert klingen Keyboarder Ryan Monroe, Gitarrist Tyler Ramsey und Schlagzeuger Creighton Barrett, wenn sie Ben Bridwell ihre Unterstützung über Stimmbänder gewähren. Diese Harmonien können Erntemonde leuchten lassen oder geistige Einkehr signalisieren. In ›Dumpster World‹ entfalten sie die Welt des ländlichen Südens. „Ich singe von uns allen am Wenigsten“, sagt Reynolds, „doch ich freue mich darüber, wie sehr die anderen Stimmen miteinander harmonieren. So kam Glyn Johns auch auf die Idee, bei allen Chorgesängen den Fokus nicht auf den Sänger zu legen, sondern auf das Ensemble.“
Dass der Produzent nach all seinen Erfolgen noch lange nicht in die Musikverwaltung geglitten ist, beweist überhaupt das Klangbild. MIRAGE ROCK klingt klar wie eine gute Pop-Aufnahme, packt aber dennoch ganz viel Raum zwischen die Spuren. Es ist ein Wechselspiel von Im-Moment-Leben und Den-Moment-Überdauern, dass Johns so bewirkt hat. Reynolds weist außerdem noch auf einen Aspekt hin, der zu den Grundüberlegungen jedes Albums gehört und nur dann noch auffällt, wenn etwas schief gelaufen ist. „Bei all unseren Vorlieben hatten wir doch ein wenig Angst, dass MIRAGE ROCK auseinander Fallen könnte. Erst, als wir nach vielen Versuchen die endgültige Reihenfolge austariert hatten, war ich mir sicher: Das wird funktionieren.“
Bei so vielen Referenzen auf die Musikgeschichte, auf Southern Rock etwa und sogar ein wenig Boogie Woogie, klingt das Album immer nach den 2010er Jahren. Ein Ton der Verbindlichkeit beherrscht MIRAGE ROCK: Eine Haltung dringt durch, und sie sagt, dass der Rückzugsort überall sein kann, dass die großen Fragen nicht in einer Blockhütte am See gelöst werden müssen. Derart abgelegene Orte sucht Sänger Ben Bridwell zwar regelmäßig auf, gerade, um neue Songs zu schreiben. Der Song ›Shut-In-Tourist‹ handelt von Bridwells Erfahrungen. Wenn er sich wieder einmal in die Wildnis zurück zieht, dann kommt er sich manchmal vor wie ein Tourist, den man im Nirgendwo eingeschlossen hat und sehen muss, wie er nun mit der Situation zurecht kommt. Diese Anmutung einer nackten Existenz kann aber ebenso im Hotelzimmer auftauchen, jenem so typischen Ort der Weltgesellschaft der Business- und Privatreisen. Der große US-amerikanische Naturfotograf Ansel Adams vermochte in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts einen Fels im Yosemite Nationalpark wirken zu lassen wie einen Fingerzeig des Übernatürlichen, schön und schlicht. Bridwell spielt Gitarre, singt und textet: Er liebt den Klang, die Sprache, und den Klang der Sprache. Und so kann er in der ersten Hälfte des einundzwanzigsten Jahrhunderts den Namen eines Basketballspielers klingen lassen wie eine Feier der menschlichen Kommunikationsfähigkeiten. In einem seiner älteren Songs besingt er laut Titel ›Detlef Schrempf‹, den ersten Basketball-Spieler aus Deutschland, der es in der NBA zu etwas brachte. „Der Song handelt gar nicht von Schrempf“, sagt Reynolds. „Ben liebt einfach die Sprache, und so fiel ihm dieser merkwürdige deutsche Name auf. Wenn wir einen Song schreiben, dann warten wir bis Zuletzt, bis wir ihm einen Titel verpassen“. Laut Reynolds fühlte sich Schrempf dennoch geehrt. Es kam zu einem Treffen mit der Band, und er outete sich als Fan. Der Song ist übrigens ein Baden in tiefsinniger Melancholie, wie sie die Trennung von einer geliebten Person auslösen kann.
Das Amerika der alten Meister ist kein Fall für das Museum, das zeigt die Band Of Horses mit MIRAGE ROCK. Denn mit ihren Wanderungen durch die Geschichte macht die Band um Ben Bridwell deutlich, dass es darum geht, die Kulturgeschichte mit neuen Ideen zu interpretieren. Dann können so viele Dinge, die sonst vielleicht in die Hose gehen würden, zu einem großen Werk beitragen. Den einen, den entlegenen Rückzugsort haben sie zum mobilen, überall einsetzbaren Kit mutieren lassen. Sie zeigen, dass die Situation des einsamen Reisenden keine Ausnahme bedeutet, sondern zu den üblichen Modalitäten der modernen Welt gehört. Ihre Rücksichtnahmen auf die Musikgeschichte gehen auf in so mutigen Entscheidungen wie jener gegen die kleinteilige Post-Produktion und für die Live-Aufnahme. Das verleiht MIRAGE ROCK jene Kraft, die auch das Cover ausstrahlt: Eine wilde Küstenlandschaft, fotografiert in Big Sur, Kalifornien. Der Landstrich zählt zu den mythenumrankten Orten der frühen Hippies. Aber auch Feist ging für die Aufnahmen von METALS vor zwei Jahren dorthin. Und überhaupt, das würde jetzt zu weit führen.