Ist es Ihnen auch schon aufgefallen? Colin Wilson sieht ganz anders aus als Roger Waters. Und das sogar mit voller Absicht! Wer jetzt nicht auf Anhieb weiß, wer Colin Wilson ist: macht nichts. Das verraten wir weiter unten. Also bitte weiterlesen.
Vermutlich haben Sie auch schon davon gehört: Elvis has left the building, und zwar final. Anders ausgedrückt: Er ist nicht mehr, was in dieser Endgültigkeit übrigens auch auf Wolfgang Amadeus Mozart zutrifft. Zwar lebt die Musik beider Lichtgestalten auf den Bühnen dieser Welt munter weiter, wobei es allerdings einen signifikanten Unterschied gibt: Die internationale Bruderschaft der aktiven Elvis-Imitatoren quetscht sich gerne in weiße Overalls mit breiten Gürteln, leimt sich fesche Koteletten an die Backe und knödelt zum Playback ›In The Ghetto‹, was beim verehrten Publikum entsprechende Assoziationen wecken soll. Orchestermusiker aus Wien, Berlin oder New York tragen hingegen selbst dann keine gepuderten Lockenperücken, wenn gerade Wolferls „Concerto für Violine und Klavier D-Dur“ (Köchelverzeichnis 315f) dargeboten wird. Was uns jetzt endlich auch zu Colin Wilson führt.
Der spielt nämlich Bass bei der „Australian Pink Floyd Show“, sieht allerdings nicht im Entferntesten wie Roger Waters aus und unternimmt offenkundig auch keinen Versuch, daran etwas zu ändern. Die niederländischen Analogues, darauf spezialisiert die Klangkunst der Beatles verlustfrei auf die Bühne zu bringen, verzichten ihrerseits auf Moptop-Perücken, Chelsea-Boots und schwarze Anzüge mit schmalen Krawatten. Zudem sind die Flachland-Fab-Four auch noch zu fünft und präsentieren Songs, die von den Beatles niemals live zu hören waren. Was uns das sagt? Dass es einen Paradigmenwechsel gegeben hat: Jahrzehntelang war Rockmusik Bühnenkunst von begrenzter Haltbarkeit. Wenn ihre Schöpfer abtraten oder keine Lust mehr hatten, war die Show eben vorbei. Fortan war, sofern Bedarf ermittelt wurde, Mimikry gefragt, was durchaus trashig ausfallen konnte: Willkommen beim Rock’n’Roll-Maskenball! Das ist heute anders.
Mittlerweile ist die Rockmusik also ein Teil der klassischen, hochseriösen Reproduktionskultur geworden, genau wie die Werke vom Wolfi, der die Bühne ja auch schon länger nicht mehr persönlich gerockt hat. Und warum ist sie das geworden? Weil es das Publikum will, ganz einfach. Und warum will es das? Weil es diese Musik liebt und sie auch gerne einmal live erleben möchte. Ganz egal, ob der Bassist nun Roger oder Colin heißt, völlig wurscht, ob der Analogues-Drummer dicke Ringe trägt oder nicht.
Was wiederum einst eherne Regeln des Pop-Business ins Wanken bringt. Etwa die Annahme, Rock’n’Roll sei als „Ausdrucksform der populären Massenkultur des 20. Jahrhunderts“ zwangsläufig von permanenter Erneuerung abhängig: Erst ist eine Band oder Stilrichtung der heiße Scheiß, alsbald flaut das Interesse jedoch rapide ab, weil bereits die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird. Neue Musik, neue Mode, neues Spiel! Wer renitenterweise immer noch den alten Kram hört, ist eben mit ihm alt geworden, ein hängen gebliebener Nostalgiker, der in Seebädern Oldie-Shows besucht und wehmütig in jenen Zeiten schwelgt, als der eigene Haarwuchs eine 72er-Dave-Gilmour-Matte zumindest noch theoretisch ermöglichte. Stimmt nicht. Wenn Colin Wilson live den Bass spielt, sind da jede Menge Leute im Publikum, die genetisch noch nicht einmal angedacht waren, als Astronaut Waters und seine Crew die dunkle Seite des Mondes erforschten. Isso!
Auch die alte Produzentenweisheit „It’s the singer, not the song“, eigentlich ja nur ein charmanter Euphemismus dafür, dass Lieder unter Umständen ein rechter Dünnpfiff sein dürfen, sofern sie nur von unwiderstehlichen Charismatikern interpretiert werden, erweist sich in diesem Zusammenhang als glatte Lüge. It’s The Song, Not The Singer. Die Leute wollen endlich mal ›I Am The Walrus‹ live hören, ob der Sänger ein bekanntermaßen smarter Bursche mit japanischer Gattin ist, ist ihnen völlig wumpe. Bezeugen wir also gerade das Ende des Personenkults? Den Sieg des Inhalts über die Verpackung? Nur die Musik zählt? Na ja, nicht ganz. Darüber, dass ab jetzt künstlerisch wertvolles Schaffen eine zwangsläufige Voraussetzung für Erfolg darstellt, sollte man sich keinerlei Illusionen hingeben. Wie man hört, können Schminktipps auf YouTube bereits ausreichen, um ein Publikum in hysterische Begeisterung zu versetzen. Na, von mir aus.
Was vermutlich kommen wird: Versierte Rockmusiker, die sich zu Dienstleistungs-Klangkörpern zusammenschließen, um im Rahmen von abgeschlossenen Tourneen heute naturgetreu AC/DC, morgen David Bowie und übermorgen Motörhead auf die Bühne zu zaubern. Ganz ohne Schuluniform, zweifarbige Kontaktlinsen oder angeklebte Warze. So gesehen, steht die seriöse Rock-Reproduktionskultur also erst am Anfang. Alles scheint möglich. Vielleicht sogar „Frank Zappa Live At The Montreux Casino 1971“ (Feuerlöscher mitnehmen!), „Santana/Woodstock 1969“ (Regenjacke nicht vergessen!) oder „Genesis Live In Oxford 1973“ (Blumenpflücken verboten!) The show must go on. Und genau das wird sie auch tun.